„Ich bin
ein Bil’iner!
Uri Avnery, 9. März 2013
DIES GESCHIEHT nicht
alle Tage: ein Kulturminister freut sich öffentlich, weil ein Film
seines Landes NICHT mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Und nicht nur
ein Film, sondern zwei.
Es geschah in dieser
Woche. Limor Livnat, noch Kulturministerin der letzten Regierung,
sagte zum israelischen Fernsehen, sie sei glücklich darüber, dass
Israels zwei Einsteiger für Oskars in der Kategorie Dokumentarfilme
es nicht bis zum Ende schafften.
Livnat, eines der
extremsten Likud-Mitglieder, hat wenige Chancen, in die geringer
werdende Anzahl von Likudministern der nächsten Regierung zu
gelangen. Vielleicht war ihr Ausbruch –die Filme betreffend – dafür
gedacht, ihre Aussichten zu verbessern.
Sie griff nicht nur
die beiden Filme an, sondern empfahl den halb-offiziellen
Stiftungen, die israelische Filme finanzieren, freiwillig
Selbst-Zensur auszuüben, und solchen unpatriotischen Filmen die
Unterstützung zu verweigern. Das würde sicher stellen, dass sie erst
gar nicht produziert würden.
Die beiden
Dokumentarfilme sind in ihrer Art sehr unterschiedlich.
Der eine „Töte
zuerst!“ ist eine Sammlung von Zeugnissen von sechs auf einander
folgenden Chefs des Allgemeinen Sicherheitsdienstes, Israels
interner Nachrichtendienst, verschiedentlich bekannter unter seinen
Initialen Shin Bet oder Shabak. In den US werden seine Funktionen
vom FBI durchgeführt. (Der Mossad ist das Äquivalent zum CIA.)
Alle sechs Chefs üben
scharfe Kritik an den israelischen Ministerpräsidenten und
Kabinettsminister der letzten Jahrzehnte. Sie klagen sie der
Inkompetenz, der Dummheit und Schlimmeren an.
Der andere Film „Fünf
zerbrochene Kameras“ erzählt die Geschichte der wöchentlichen
Protestdemonstrationen gegen den Trennungszaun im Dorf Bil‘in, wie
sie durch die Kamera von einem der Dorfbewohner gesehen wird.
Man mag sich wundern,
wie zwei solcher Filme es fertig brachten, an die Spitze der
akademischen Preise ja, bis zum ersten Preis zu kommen. Meine eigene
(vollkommen unbewiesene) Vermutung ist, dass die jüdischen
Akademiemitglieder für ihre Auswahl stimmten, ohne sie tatsächlich
gesehen zu haben, indem sie vermuteten, dass ein israelischer Film
auf jeden Fall koscher ist. Aber als die Pro-Israel-Lobby einen
Krawall begann, sahen sich die Mitglieder die Filme an, schauderten
und gaben den Spitzenpreis an den Film „Suche nach dem Zuckermann“.
ICH HATTE noch keine
Gelegenheit, den Film „Töte zuerst!“ anzusehen. Ich werde
deshalb nicht über ihn schreiben.
Aber ich habe die „5
zerbrochenen Kameras“ mehrfach gesehen – zum einen im Film und die
anderen Male vor Ort.
Limor Livnat
behandelt ihn als „israelischen“ Film. Aber diese Kennzeichnung ist
ziemlich problematisch.
Zunächst werden
Dokumentarfilme nicht wie bei anderen Kategorien nach ihrer
Nationalität aufgelistet. Also war er nicht offiziell „israelisch“.
Zweitens: einer
seiner beiden Ko-Produzenten protestierte vehement gegen diese
Bezeichnung. Für ihn ist es ein palästinensischer Film.
Sachlich gesehen, ist
jede nationale Bezeichnung problematisch. Alles Material wurde von
einem Palästinenser, Emad Burnat, gefilmt. Aber der Ko-Editor Guy
Davidi, der das gefilmte Material in die Endfassung brachte, ist ein
Israeli. Die Finanzierung kam von israelischen Stiftungen. Also wäre
es fair, wenn man sagen würde, es sei eine
palästinensisch-israelische Koproduktion.
Dies stimmt auch für
die „Schauspieler“: die Demonstranten sind Palästinenser und
Israelis. Die Soldaten sind natürlich Israelis. Einige Mitglieder
der Grenzpolizei sind Drusen. (Araber, die einer islamischen
Randgruppe angehören).
Als der letzte von
Emad Burnats Söhnen geboren wurde, entschied er sich, einen
einfachen Fotoapparat zu kaufen, um die Wachstumsstadien des Jungen
fest zu halten. Er träumte nicht davon, Geschichte zu dokumentieren.
Aber er nahm seinen Fotoapparat mit sich, wenn er sich der
wöchentlichen Demonstration seines Dorfes anschloss. Und von da an
in jeder Woche.
BIL’IN IST ein
kleines Dorf westlich von Ramallah, nahe der Grünen Linie. Nur
wenige Leute hatten jemals vor dem Kampf davon gehört.
Ich hörte zum ersten
Mal vor etwa acht Jahren davon, als Gush Shalom, die
Friedensorganisation, zu der ich gehöre, gebeten wurde, an einer
Demo gegen die Enteignung eines Teils seines Landes teilzunehmen.
Auf diesem Land sollte eine neue Siedlung, Kiryat Sefer („Stadt des
Buches“), gebaut werden.
Als wir dort ankamen,
standen erst wenige neue Häuser dort. Auf dem größten Teil des
Landes wuchsen Olivenbäumen. Bei den folgenden Protestdemos sahen
wir, wie die Siedlung zu einer großen Stadt heranwuchs, vollkommen
belegt von ultra-orthodoxen Juden, Haredim genannt, „diejenigen, die
(Gott)fürchten“. Ich ging mehrfach durch diese Siedlung, als es
keinen andern Weg gab, um Bil‘in zu erreichen, und ich sah dort
keine einzige Person, die nicht die schwarze Kleidung und den
schwarzen Hut dieser Gemeinschaft trug.
Die Haredim sind an
sich keine Siedler. Sie gehen nicht aus ideologischen Gründen dort
hin, sondern nur, weil sie für ihre große Familie mit vielen Kindern
mehr Platz benötigen. Also siedelt die Regierung sie dort an.
Was die erste
Demonstration für mich so erinnerungswürdig machte, war, dass die
Dorfältesten in ihrem Resümee die Bedeutung der Gewaltlosigkeit
betonten. In jener Zeit wurde von Seiten der Palästinenser noch
nicht viel über Gewaltlosigkeit gesprochen.
Gewaltlosigkeit war
und blieb eine der außerordentlichen Qualitäten des Bil‘iner
Kampfes. Von der ersten Demonstration an von Woche zu Woche, von
Jahr zu Jahr ist Gewaltlosigkeit das Markenzeichen der Proteste
geworden.
Ein anderes
Markenzeichen war die unglaubliche Erfindungsgabe. Die Älteren haben
diese Aufgabe längst der jüngeren Generation übergeben. Seit Jahren
bemühen sich die jungen Dorfbewohner darum, jeder einzelnen Demo
einen besonderen symbolischen Inhalt zu geben. Bei einer Gelegenheit
wurden Demonstranten in Käfigen mit Eisenstangen getragen. Ein
andermal trugen wir alle Mahatma-Gandhi-Masken. Einmal brachten wir
einen berühmten holländischen Pianisten mit, der auf einem LKW
mitten im Gedränge Schubert spielte. Bei noch einem Protest ketteten
die Demonstranten sich selbst an den Zaun. Und bei einer weiteren
Demonstration fand ein Fußballmatch mit Blick auf die Siedlung
statt. Einmal im Jahr werden Gäste aus aller Welt zu einem Symposium
über den palästinensischen Kampf eingeladen.
DER KAMPF ist
hauptsächlich gegen den Trennungszaun gerichtet, der dafür gedacht
ist, Israel von den besetzten palästinensischen Gebieten zu trennen.
In bebauten Gebieten ist es eine Mauer, in offenen Räumen ein Zaun,
der auf beiden Seiten von einem breiten Streifen Land für
Patrouillenwege und Stacheldraht geschützt wird. Der offizielle
Zweck ist es, Terroristen daran zu hindern, nach Israel zu gelangen
und dort sich in die Luft zu jagen.
Wenn dies der
wirkliche Grund wäre und die Mauer auf der Grenze –also der Grünen
Linie – gebaut wäre, könnte keiner etwas dagegen sagen. Jeder Staat
hat das Recht, sich selbst zu schützen. Aber das ist nur ein Teil
der Wahrheit. In vielen Teilen des Landes schneidet die Mauer/ der
Zaun tief in palästinensisches Gebiet, angeblich, um die Siedlungen
zu schützen, in Wirklichkeit aber um Land zu annektieren. Dies ist
auch in Bil‘in der Fall.
Der Originalzaun
schneidet das Dorf vom größten Teil seines Landes ab, das zur
Vergrößerung der Siedlung bestimmt ist, die jetzt Modiin Illit (Ober-Modiin)
genannt wird. Das wirkliche Modiin ist ein angrenzendes Stadtgebiet
innerhalb der Grünen Linie.
Im Lauf des Kampfes
wandten sich die Dorfbewohner auch an das israelische Oberste
Gericht, das schließlich einen Teil ihrer Klage akzeptierte. Die
Regierung bekam eine Order, den Zaun etwas näher zur Grünen Linie zu
verlegen. Dies ließ noch immer viel Land für die Siedlung.
Praktisch annektiert
die Mauer/ der Zaun fast 10% der Westbank an Israel. (Im Ganzen
besteht die Westbank aus nur 22% des Landes Palästina, wie es vor
1948 war.)
NACHDEM EMAD Burnat
mit dem Fotografieren angefangen hatte, konnte er nicht mehr damit
aufhören; Woche um Woche „schoss“ er Fotos der Proteste, während die
Soldaten auf die Demonstranten schossen (ohne Anführungszeichen).
Tränengas, mit
Gummi-ummantelte Stahlkugeln werden jede Woche vom Militär benützt
und manchmal sogar scharfe Munition. Doch bei allen Demonstrationen,
bei denen ich Zeuge war, gab es keinen einzigen Gewaltakt von Seiten
der Demonstranten selbst – von den Palästinensern, den Israelis oder
den internationalen Aktivisten. Die Demonstration startet gewöhnlich
in der Mitte des Dorfes, nahe der Moschee. Wenn das Freitagsgebet
endet, (Freitag ist der muslimische Feiertag), schließen sich einige
der Frommen den Jugendlichen an, die draußen warten, und der Marsch
zum Zaun, der ein paar Kilometer entfernt liegt, beginnt.
Am Zaun geschieht der
Zusammenstoß. Die Demonstranten drängeln nach vorne und schreien,
die Soldaten werfen Tränengas, Lärmgranaten und Gummikugeln. Die
Gaskanister treffen auch Leute. Rachel, meine Frau z.B., hatte
Monate lang einen großen blauen Fleck an ihrem Oberschenkel, wo ein
Kanister sie getroffen hatte. (Rachel hatte schon lange eine schwere
Lebererkrankung und wurde von ihrem Arzt streng gewarnt, nicht in
die Nähe von Tränengas zu kommen. Aber sie konnte nicht widerstehen,
Fotos aus der Nähe aufzunehmen.)
Wenn es erst mal zum
Handgemenge kam, begannen gewöhnlich Jungs und Jugendliche vom Rand
her mit dem Steine-werfen gegen die Soldaten. Es ist eine Art
Ritual, ein Test für Mut und Männlichkeit. Für die Soldaten ist es
ein Vorwand, die Gewalt zu verstärken, Menschen zu treffen und sie
mit Gas zu vertreiben.
Emad zeigt dies
alles. Der Film zeigt, wie sein Sohn zwischen den Demonstrationen
vom Baby zum Schuljungen heranwächst. Er zeigt auch Emads Frau, die
ihn bittet, aufzuhören. Emad wurde verhaftet und ernsthaft verletzt.
Einer seiner Verwandten wurde getötet. Alle Organisatoren des Dorfes
wurden immer wieder verhaftet – auch ihre israelischen Kameraden.
Ich gab bei mehreren Verhandlungen vor dem Militärgericht, das in
einem großen Militär-Gefangenenlager war, Zeugnis ab.
Die israelischen
Demonstranten sieht man kaum im Film. Aber von Anfang an spielten
Israelis eine bedeutende Rolle bei den Protesten. Die israelischen
Hauptteilnehmer sind die „Anarchisten gegen die Mauer“, eine sehr
mutige und kreative Gruppe (Der Gush Shalom-Aktivist Adam Keller
wird bei einer Nahaufnahme gezeigt, wie er versuchte, eine in
Deutschland gelernte Methode von passivem Widerstand anzuwenden.)
Wenn der Film den
israelischen und internationalen Demonstranten nicht ganz gerecht
wird, so ist es nur verständlich. Der Zweck war es, den
palästinensischen gewaltfreien Widerstand zu zeigen.
Im Lauf des Kampfes
wurden Emads Fotoapparate einer nach dem anderen zerbrochen. Er
benützt jetzt den Fotoapparat Nr. 6.
DIES IST eine
Geschichte von Heldentum, der heldenhafte Kampf eines einfachen
Dorfes um seine Ländereien und seine Heimat. Lange nachdem Limor
Livnat vergessen ist, wird man sich an die Schlacht von Bil’in
erinnern.
Präsident Barak Obama
wäre gut beraten, sich diesen Film anzusehen, bevor er nächstens
Israel und Palästina besucht.
Vor einigen Jahren
wurde ich gebeten, in Berlin die Laudatio bei einer Feier zu
halten, bei der dieses Dorf Bil‘in und die „Anarchisten gegen die
Mauer“ für ihren Mut ausgezeichnet wurden.
Indem ich Präsident
John Kennedys berühmte Rede in Berlin ein wenig veränderte, sagte
ich, jeder anständige Mensch auf der Welt sollte stolz erklären:
„Ich bin ein Bil‘iner!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)