Auf dem Weg zum Bürgerkrieg
Uri Avnery, 23.10.04
In Israel spricht
im Augenblick jeder über den nächsten Krieg. Im populärsten
Fernsehkanal läuft darüber sogar eine ganze Serie.
Nicht über noch
einen Krieg gegen die Araber. Nicht über die nukleare Bedrohung aus
dem Iran. Nicht über die fortdauernde blutige Auseinandersetzung mit
den Palästinensern.
Man spricht über
einen bevorstehenden Bürgerkrieg.
Vor nur wenigen
Monaten hätte dies absurd geklungen. Auf einmal wird dies nicht nur
denkbar, sondern eine sehr reale Möglichkeit. Es ist nicht eine
weitere aufgebauschte Mediensensation. Es sind keine weiteren
politischen Manipulationen Ariel Sharons. Nicht nur ein weiterer
Erpressungstrick der Siedler – sondern eine reale Angelegenheit.
Man spricht
darüber bei Kabinettstreffen und in der Knesset, bei
Fernseh-Talkshows, in Leitartikeln und auf den Nachrichtenseiten.
Der Generalstabschef hat öffentlich davor gewarnt, die Armee könne
aus einander fallen. Einer der Minister sagt, sogar die Existenz
Israels stehe auf dem Spiel. Ein anderer Minister prophezeit ein
Blutbad wie im Spanischen Bürgerkrieg .
Still und weniger
still bereitet sich der Geheimdienst (Shin Bet) mit
Vorbeugemaßnahmen vor. Der Gefängnisverwaltung ist befohlen worden,
Einrichtungen für Massenverhaftungen vorzubereiten. Die Armeeführung
plant, zehntausend Reservesoldaten einzuziehen, und denkt nach,
welche Schritte im Fall eines Falles unternommen werden müssten.
Es ist tatsächlich
eine sehr ernste Bedrohung.
Auf den ersten
Blick hin, mag es aussehen, als käme sie aus dem Nirgendwo. Doch wer
Augen hat, die sehen, wusste, dass dies früher oder später eintreten
werde.
Die Saat für einen
Bürgerkrieg wurde gesät, als die erste Siedlung in den besetzten
Gebieten errichtet wurde. Damals sagte ich zum Ministerpräsidenten
in der Knesset: „Sie legen eine Landmine. Eines Tages werden Sie sie
demontieren müssen. Als früherer Soldat möchte ich Sie davor warnen,
denn das Demontieren von Landminen ist ein sehr unangenehmer Job.“
Seitdem sind
Hunderte von Minen gelegt worden. Und noch immer werden die
Minenfelder ausgeweitet.
Der Prozess wurde
von religiösen Spinnern angeführt. Ihr erklärtes Ziel sei es - so
sagten sie damals und werden nicht müde, dies zu wiederholen - alle
Araber aus dem Land zu treiben, das uns Gott versprochen hat. Und
das uns von Gott verheißene Land ist, wie neulich einer von ihnen
uns im Fernsehen erinnerte, nicht das „Palästina“ des britischen
Mandats - das Land der Verheißung schließt Jordanien, den Libanon
und Teile von Syrien und den Sinai mit ein. Ein anderer zitierte
aus der Bibel und erklärte, wir seien in dieses Land gekommen, nicht
nur um es zu erben, sondern um andere zu enterben, sie zu
vertreiben und ihren Platz einzunehmen.
Seitdem der
damalige Verteidigungsminister Shimon Peres Kedumim, die erste
Siedlung, mitten in die palästinensische Bevölkerung auf der
Westbank eingepflanzt hat, breiten sie sich wie die Heuschrecken
aus. Jede Siedlung hat nach und nach das Land und Wasser der
benachbarten palästinensischen Dörfer gestohlen, ihre Bäume
entwurzelt, ihre Straßen blockiert und neue Straßen gebaut, die für
Palästinenser gesperrt sind. Fast alle Siedlungen haben Ableger
auf den benachbarten Hügeln angelegt.
Dies hat sich bis
heute fortgesetzt. Nachdem Sharon Präsident Bush feierlich
versprochen hat, einige dieser „Außenposten“ aufzulösen, sind
Dutzende neue aus dem Boden gesprossen. Alle Ministerien helfen den
Außenposten, die offiziell als „illegal“ definiert werden. Die
Armee verteidigt sie nicht nur – und setzt so ihre Soldaten Gefahren
aus – tatsächlich sagt sie der „Hügeljugend“ sogar, wo sie ihre
Außenposten hinsetzen soll und berät sie insgeheim.
Als wir vor der
Gefahr warnten, wurde uns gesagt, wir sollten dies nicht so ernst
nehmen. Nur eine Minderheit der Siedler seien fanatische Freaks,
beruhigte man uns: „Die sind wirklich verrückt und sie werden jedem
Versuch, sie zu entfernen, gewaltsam Widerstand leisten. Aber das
wird kein großes Problem sein, weil der größte Teil der israelischen
Bürger sie verabscheut und sie für eine Sekte von Spinnern hält.“
Die meisten Siedler
seien keine Fanatiker, wurde uns gesagt. Sie gingen dorthin, weil
ihnen die Regierung teure Villen geschenkt hat, die sie sich in
Israel selbst nicht mal im Traum hätten vorstellen können. Sie
suchten „Lebensqualität“. Wenn die Regierung ihnen sagen werde, sie
sollen weggehen, werden sie ihre Kompensationen nehmen und
wegziehen.
Das ist natürlich
eine gefährliche Täuschung. Wie Karl Marx sagte, wird das
Bewusstsein der Leute von ihrer Situation bestimmt. Die guten
Laborleute, die von der Laborregierung auf die Westbank und in den
Gazastreifen verpflanzt wurden, reden und benehmen sich jetzt wie
die schlimmsten Jünger des verstorbenen faschistischen Rabbiners
Meir Kahane.
Außerdem wurde uns
gesagt: „Sogar die irren Typen erkennen die israelische Demokratie
an. Keiner wird seine Hand gegen die Soldaten der israelischen Armee
erheben. Wenn die Regierung und die Knesset entscheidet, die
Siedlungen müssten geräumt werden, dann werden sie gehorchen. Sie
werden wohl Radau machen und eine Show des Widerstandes abziehen,
wie sie es bei der Räumung der Siedlungen im Nordsinai 1982 machten,
aber letzten Endes werden sie nachgeben. Schließlich hat sich auch
im Sinai kein einziger Siedler zu guter Letzt geweigert seine
Entschädigungen anzunehmen
Aber diese
Geringschätzung der Siedler ist nicht weniger gefährlich als die
Geringschätzung der Araber. Was die ganze Zeit verborgen gehalten
wurde, ist nun deutlich geworden: Den Siedlern sind die Demokratie
und die Institutionen des Staates völlig egal . Ihr harter Kern
legt es folgendermaßen aus: Wenn die Resolutionen der Knesset der
Halachah - dem jüdisch religiösen Gesetz – widersprechen, dann hat
die Halachah Priorität. Die Knesset bestünde schließlich nur aus
einer Bande korrupter Politiker. Und welchen Wert haben säkulare
Gesetze, ein Abklatsch der Goyim ( Nicht-Juden), im Vergleich zum
Wort Gottes: Gelobt sei sein Name?
Viele Siedler
reden noch nicht so offen und tun so, als wären sie beleidigt, wenn
man ihnen diese Haltung vorwirft. Tatsächlich aber werden sie vom
harten Kern mitgezogen, der schon alle Masken hat fallen lassen. Sie
fordern nicht nur die Politik der Regierung heraus, sondern auch die
israelische Demokratie als solche. Sie erklären offen, ihr Ziel sei
es, den Rechtsstaat zu stürzen und an seine Stelle den Staat der
Halachah einzusetzen.
Der Rechtsstaat ist
dem Willen der Mehrheit unterworfen, die die Gesetze erlässt und ,
wenn notwendig, ändert. Der Staat der Halachah ist der Torah
unterworfen, die ein für alle Mal am Berg Sinai gegeben wurde und
unveränderlich ist. Nur eine sehr kleine Anzahl von herausragenden
Rabbinern hat die Autorität, die Halachah auszulegen. Das ist
natürlich das Gegenteil von Demokratie. In einem anderen Land würde
man diese Leute Faschisten nennen. Die religiöse Färbung ändert
nichts daran.
Die
religiös-rechten Rebellen sind stark motiviert. Viele von ihnen
glauben an die Kabbala – nicht die modische Kabbala von Madonna,
sondern an die wirkliche, die besagt, die heutigen säkularen Juden
seien Amalekiter, denen es nach dem Auszug aus Ägypten gelungen
sei, sich in das Volk Israel einzuschleichen.* Gott selbst hat – wie
jeder weiß – den Befehl gegeben , die Amalekiter vom Antlitz der
Erde zu vertilgen. Kann es eine vollkommenere Ideologie für einen
Bürgerkrieg geben?
Warum ist dies zu
diesem Zeitpunkt eine Bedrohung geworden? Es ist noch nicht klar, ob
Sharon wirklich beabsichtigt, die wenigen Siedlungen im
Gazastreifen zu räumen. Aber so, wie die Siedler es sehen, ist
allein der Gedanke, eine einzige Siedlung zu räumen, ein casus belli.
Dies würde alles angreifen, was ihnen heilig ist. Sharon versucht,
sie zu überzeugen, dies sei nur ein Trick – ein paar kleine
Siedlungen zu opfern, um all die anderen zu retten. Vergeblich.
Die Siedler haben,
um ihre große Rebellion vorzubereiten, ihr Potential aufgedeckt. Die
bekanntesten Rabbiner der „religiös zionistischen Bewegung“ haben
erklärt, die Evakuierung einer Siedlung sei eine Sünde gegen Gott
und die Soldaten aufgerufen, sich den Befehlen zu widersetzen.
Hunderte von Rabbinern, einschließlich der Rabbiner der Siedlungen
und der religiösen Armeeeinheiten, haben sich diesem Aufruf
angeschlossen.
Die Stimme der
wenigen Opponenten ist im Lärm untergegangen. Sie zitieren den
Talmud: der besagt „Das Gesetz des Königreichs ist Gesetz“. Das
heißt, man muss jeder Regierung gehorchen, so wie von den
Christen gefordert wird, „dem Kaiser zu geben, was des Kaisers
ist“. Aber wer hört jetzt noch auf diese „moderaten Rabbiner“?
Längst ist die
Armee von innen erobert worden. Die „Vereinbarung“ mit den Yeshivot
(religiöse Schulen), die in der Armee als getrennte Einheiten ihren
Dienst tun, hat einem riesigen trojanischen Pferd erlaubt,
einzudringen. Bei jeder Auseinandersetzung zwischen ihren Rabbinern
und den Armeekommandeuren werden die Soldaten der Yeshivot den
Rabbinern gehorchen. Es ist aber noch schlimmer: seit Jahren sind
die Siedler systematisch in die Ränge des Offizierskorps
eingedrungen, wo sie nun sogar ein noch größeres Trojanisches Pferd
darstellen.
Die Verweigerung
derjenigen vom rechten Flügel, Befehlen zu gehorchen, hat nichts mit
der Verweigerung der vom linken Flügel zu tun, die aus
Gewissensgründen verweigern. Die Verweigerung der Linken ist
persönlich. Die Verweigerung der Rechten ist eine kollektive
Meuterei. Bei den Linken sind es nur ein paar Hundert, die sich
weigern, der Besatzung zu dienen. Auf der Rechten sind es viele
Tausend, sogar zehntausend, die den Befehlen ihrer Rabbiner
gehorchen. Wie der Generalstabschef gewarnt hat, kann sich die Armee
aufspalten.
Alle zusammen
mögen die Siedler mit ihren engsten Verbündeten in Israel
einschließlich den Yeshivot-Studenten etwa eine halbe Million
Leute sein – eine mächtige Phalanx der Rebellion.
Bis jetzt benutzen
die Siedler diese Drohung nur als Instrument der Erpressung und
Abschreckung, um von Anfang an jeden Gedanken über die Räumung von
Siedlungen und Gebieten abzuwürgen. Aber wenn die Erpressung keinen
Erfolg hat, wird die große Rebellion nur eine Frage der Zeit sein.
*
bei Kabbala-Forscher Seffi Rachlewski: „Der Esel des Messias“ (hebr)
nachzulesen.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |