Mandela: der Film
Uri Avnery, 28.12.2013
ICH HABE mir gerade den neuen Film „Mandela“ angesehen und
ich bin so voller Eindrücke, dass ich nicht anders kann, als
sie aufzuschreiben.
Es ist ein sehr guter Film mit sehr guten Schauspielern.
Doch das ist nicht die Hauptsache. Es ist ein sehr genauer
Film, der genau das brachte, was in Südafrika geschah ; und
man kann nicht anders als immer wieder darüber nachdenken.
Was denke ich tatsächlich?
WENN IRGENDEIN Südafrikaner, schwarz oder weiß, etwa vor 35
Jahren gefragt wäre, wie der Konflikt enden würde, hätte
die Antwort höchst wahrscheinlich gelautet : „er wird
niemals enden. Es gibt keine Lösung“. Das ist genau die
Antwort, die man heute in Israel und Palästina erhält.
Und tatsächlich gab es keine Lösung. Die große Mehrheit der
schwarzen Südafrikaner wünschte Freiheit und eine schwarze
Herrschaft. Die große Mehrheit der Weißen, Buren und Briten,
wusste, dass einmal die Afrikaner die Macht übernehmen, die
Weißen geschlachtet oder vertrieben werden würden. Keine
Seite konnte da nachgeben.
Doch das Unglaubliche, das Unvorstellbare geschah. Die
Schwarzen siegten. Ein schwarzer Präsident kam an die Macht.
Die Weißen wurden weder gemordet noch vertrieben. Einige
sagen, sie seien heute vielleicht mächtiger als sie jemals
waren.
Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass es uns nicht mehr
bewusst ist, was das für ein Wunder ist.
Als Algerien nach einem langen und brutalen Befreiungskrieg
befreit wurde, floh mehr als eine Million Siedler (“colons”)
um ihr Leben zu retten. Der riesige Exodus wurde nicht
auferlegt. Präsident Charles de Gaulle ließ nur verkünden,
dass die französische Armee an einem gewissen Tag gehen
werde, und alle Siedler flohen Hals über Kopf. Eine große
Anzahl lokaler Kollaborateure wurde umgebracht.
Das ist der normale Lauf der Dinge, wenn koloniale
Herrschaft nach einer langen Periode brutaler
Unterdrückung zu einem Ende kommt. Wie Friedrich Schiller
zu Beginn der kolonialen Ära schrieb: „Fürchte den Sklaven,
der seine Ketten bricht!“
SIND DIE Südafrikaner eine andere Sorte von Menschen?
Humaner? Edler? Weniger rachsüchtig?
Überhaupt nicht.
Wie der Film klar zeigte, dürsteten sie nach Rache. Sie
hatten viele Jahrzehnte unaussprechliche Demütigungen
erlitten. Keine abstrakten. Sie hatten tägliche
Demütigungen auf den Straßen, in den Parks, an Bahnhöfen,
überall zu leiden. Es war ihnen kein Augenblick erlaubt, zu
vergessen, dass sie schwarz und minderwertig, tatsächlich
Untermenschen seien. Viele waren in unmenschlichen
Gefängnissen gewesen.
So war es ganz natürlich, dass sie am Tag der Befreiung
über ihre Folterer herfallen würden, verbrennen, töten und
zerstören. Mandelas eigene Frau Winnie schührte die Sucht
nach Rache. Sie stachelte die Massen an.
Und nur ein Mensch stand zwischen einer Orgie von Blut und
der ordentlichen Übergabe von Macht.
Der Film zeigt, wie Nelson Mandela – völlig allein – sich
gegen die aufschäumende Woge warf. Im entscheidenden
Augenblick, als alles auf der Waage lag, als die Geschichte
ihren Atem anhielt, wandte er sich im Fernsehen zu den
Massen und sagte ihnen frei heraus: „Wenn ich euer Führer
bin, dann tut was ich sage! Sonst müsst ihr euch einen
anderen Führer suchen.“
Seine Herangehensweise war rational. Gewalt würde das Land
auseinander reißen, vielleicht jenseits einer Rettung, so
wie es in einigen anderen afrikanischen Ländern geschehen
war. Die Schwarzen würden in Angst leben, wie die Weißen
während der ganzen Apartheid-Ära.
Und unglaublich: das Volk folgte ihm.
DOCH Mandela war auch kein Über- Mensch. Er war eine normale
Person mit normalen Instinkten. Er war ein richtiger
Terrorist, dessen Leute getötet haben und getötet worden
sind. Er hatte jahrelang unter brutaler Behandlung gelitten,
physisch wie psychisch, saß Jahrzehnte im Gefängnis in
Isolierhaft, die ihn in den Wahnsinn hätte treiben können.
Noch im Gefängnis und gegen den Willen seiner engsten
Kameraden begann er, mit den Führern des Apartheidregimes
zu verhandeln.
Hätte es einen Mandela ohne einen Frederik Willem de Klerk
geben können? Eine gute Frage. Der Film hielt sich nicht
länger bei de Klerks Persönlichkeit auf. Aber hier war ein
Mann, der die Situation erkannte, der damit einverstanden
war, was bis zur völligen Übergabe an die verachteten
Kaffern geriet und der dies ohne das Vergießen eines
Tropfens Blutes tat. Wie Michail Gorbachow unter anderen
Umständen überwachte er eine historische Revolution ohne
Blutvergießen. (seltsam genug „Kaffir“ der Ausdruck der
weißen Rassisten für die Schwarzen kommt vom Arabischen und
Hebräischen und bedeutet „die Ungläubigen“)
Mandela und de Klerk waren perfekt auf einander
abgestimmt, obwohl man sich kaum verschiedenere Individuen
vorstellen konnte.
WAS VERURSACHTE den Zusammenbruch des Apartheidregimes?
In der ganzen Welt, einschließlich Israel, ist es die
allgemeine Weisheit, dass der globale Boykott, der auf dem
Apartheidstaat lag, ihm die Knochen brach. In Dutzenden von
Ländern weigerten sich anständige Leute, die Waren
Südafrikas zu berühren oder sich an Sportveranstaltungen
mit südafrikanischenTeams zu beteiligen. So wurde Südafrika
zu einem Pariah-Staat.
All das ist wahr und bewundernswert. Jeder, der an diesem
weltweiten Aufstand des Gewissens teilnahm, verdient
Respekt. Aber zu glauben, dass dies der entscheidende Punkt
des Kampfes war, ist für sich selbst ein Anzeichen
westlicher Herablassung, eine Art moralischen Kolonialismus.
Der Film widmet diesen weltweiten Protesten und Boykotts nur
ein paar Sekunden, nicht mehr.
Es war der heroische Kampf der südafrikanischen Massen,
meistens schwarze, aber auch indische Nachkommen von
Immigranten und Farbigen (gemischte Ethnie), die den Sieg
errangen. Die Mittel waren der bewaffnete Kampf (immer
„Terrorismus“ von Unterdrückern genannt), gewaltfreie
Massenaktionen und gigantische Massenstreiks. Ausländische
Unterstützung diente hauptsächlich dazu, um die Moral zu
erhöhen.
Mandela war nicht nur einer der Hauptführer dieses Kampfes,
sondern auch ein aktiver Teilnehmer, bis er auf Lebenszeit
ins Gefängnis geschickt wurde.
Von dem Film konnte man den Eindruck gewinnen, dass es zwei
Mandelas gab – den Führer des bewaffneten Kampfes, der Blut
vergoss. und der Friedensmacher, der zum Weltsymbol für
Toleranz und Vergebung wurde.
Doch diese beiden Mandelas sind ein und derselbe – die
Persönlichkeit eines Mannes, der bereit war, sein Leben für
die Freiheit seines Landes zu opfern, aber auch im Sieg
großmütig und voller Vergebung war.
Er stimmte vollständig mit dem alten jüdischen Sprichwort
überein: „Wer ist ein Held? Der seinen Feind in seinen
Freund verwandelt.“
EIN ISRAELI ist gezwungen, sich selbst die unvermeidbare
Frage zu stellen; Was sagt der Film uns über
Ähnlichkeiten bzw. Verschiedenheiten zwischen der
südafrikanischen und der israelisch-palästinensischen
Situation?
Der erste Eindruck ist, dass die Situationen fast völlig
verschieden sind. Den politischen und demographischen
Hintergrund trennen Welten. Die Ähnlichkeiten sind meistens
oberflächlich.
Aber insbesondere , der offensichtlichste Unterschied ist :
Es ist kein palästinensischer Mandela in Sicht und noch
weniger ein israelischer de Klerk.
Mandela selbst war ein leidenschaftlicher Unterstützer der
palästinensischen Sache. Er sah in Yasser Arafat seinen
Seelenverwandten. Da gibt es tatsächlich eine Ähnlichkeit;
wie Mandela begann Arafat einen gewalttätigen revolutionären
Befreiungskampf („Terrorismus“) und wie Mandela entschied er
sich, Frieden mit seinem Feind zu machen (Oslo). Wenn
Arafat groß und ansehnlich gewesen wäre wie Mandela,
vielleicht würde ihn die Welt anders behandelt haben.
Mit seiner antizionistischen Haltung ähnelte Mandela Mahatma
Gandhi, dessen Ideen in den 21 Jahren geformt wurden, die er
in Südafrika verbrachte, und wo er an dessen Rassismus litt
(bevor Apartheid offiziell eingeführt wurde) Gandhi hatte
einen muslimischen Vornamen (Mohandas,“ Ingenieur“ im
Arabischen und Hebräischen). Doch während Mandelas Glaube an
die Macht der Vergebung gewann, scheiterte Gandhis mit
seinem Glaube an die Gewaltfreiheit. Die Befreiung Indiens
war begleitet von unsagbarer Gewalt mit mindestens einer
halben Million toter Muslime und Hindus – einschließlich
Gandhis selbst.
Der Film endet mit Mandelas Wahl zum Präsidenten, dem von
Schwarzen und Weißen zugejubelt wurde.
(dt. Ellen Rohlfs vom Verfasser
autorisiert.)+