Scharons Rede:
entschlüsselte Version
Uri
Avnery, 21.12.03
Er las den
vorgeschriebenen Text seiner Rede Wort für Wort, ohne die Augen zu heben.
Es war wichtig für ihn, sich an den genauen Wortlaut zu halten, weil es
ein verschlüsselter Text ist. Es ist unmöglich, ihn zu entziffern, ohne
den Kode zu brechen. Und es ist unmöglich, den Kode zu brechen, ohne
Scharon gut zu kennen.
Deshalb waren die
Interpretationen in Israel und im Ausland lächerlich. Die Kommentatoren
haben eben nicht verstanden, was sie gehört haben. Deshalb schrieben sie
Dinge wie: „Er sagte nichts Neues“, „er hat keinen Plan“, „er tritt auf
der Stelle“, „er ist alt und müde“. Und die übliche Reaktion aus
Washington:„ ein positiver Schritt, aber ...“
Unsinn. In dieser Rede
skizziert er einen detaillierten – und extrem gefährlichen – Plan.
Diejenigen, die ihn nicht verstanden haben – Israelis, Palästinenser sowie
ausländische Diplomaten – werden nicht in der Lage sein, wirkungsvoll zu
reagieren.
Hier ist der entzifferte Text von
Scharons „Herzlia Rede“
Der Name des Spiels
heißt Hitnatkut ( „uns selbst abtrennen“). Das bedeutet: Der größte Teil
der Westbank wird praktisch ein Teil Israels. Den Rest werden wir den
Palästinensern lassen, die in isolierten Enklaven eingesperrt sein werden.
Aus diesen Enklaven werden die Siedlungen entfernt.
Stufe eins:
um dies zu tun, brauchen wir Zeit – etwa ein halbes Jahr. Wir reden über
eine große und komplizierte militärische Operation. Die Armee muss neue
Linien besetzen und befestigen, während Dutzende isolierter Siedlungen
„verlegt“ werden müssen. Dies erfordert detaillierte Planung, die noch
nicht begonnen hat. Die notwendigen militärischen Kräfte und Geräte müssen
vorbereitet werden. Ein halbes Jahr ist das Minimum.
Während dieser Zeit
werden wir nicht untätig sein. Im Gegenteil: wir werden den
„Trennungszaun“ fertig bauen, und er wird eine wichtige Rolle bei der
Neuformierung( des Militärs) spielen. Wir werden die „Siedlungsblöcke“
weiter entwickeln, in die wir die Siedler ansiedeln, die abgezogen werden
müssen.
Das Timing von einem
halben Jahr für die Ausführung des Planes ist ideal. Genau zu dieser Zeit
wird die amerikanische Wahlkampagne ihren Höhepunkt erreichen. Kein
amerikanischer Politiker wird es wagen, ein Wort gegen Israel zu äußern.
Die Demokraten werden die jüdischen Stimmen und das jüdische Geld
brauchen. Und die Republikaner werden auch die Stimmen und das Geld von 60
Millionen christlichen Fundamentalisten benötigen, die die extremen
Elemente in Israel unterstützen.
Während wir ruhig die
große Operation vorbereiten, werden wir weiter Präsident Bush schmeicheln
und seine idiotische Road Map preisen, natürlich ohne irgendeine der
Verpflichtungen dieses Planes auszuführen. Aber den Palästinensern werden
wir die Schuld zuweisen.
Zur selben Zeit
täuschen wir Verhandlungen mit den Palästinensern vor. Wir werden
versuchen, Abu Ala so oft als möglich zu treffen, um das Spiel zu Ende zu
bringen. Wenn wir für die Ausführung des Planes bereit sein werden, werden
wir die Kontakte abbrechen, die Road Map für tot erklären und sorgenvoll
feststellen, dass all unsere Bemühungen für Friedensverhandlungen wegen
Arafat fehlgeschlagen sind.
Stufe zwei:
Bis dahin wird die
„Trennungsmauer“ fertig sein. Die palästinensischen Gebiete (unter Oslo:
Gebiet A und B) werden von allen Seiten umgeben sein. Praktisch wird es
über ein Dutzend isolierter Enklaven geben. Um unser Versprechen über eine
palästinensische Kontinuität einzuhalten, werden wir die Enklaven durch
besondere Straßen, Brücken und Tunnel mit einander verbinden, die wir
jederzeit abschneiden können.
Die Armee wird sich
stufenweise zum Trennungszaun zurückziehen und sich in den Gebieten
umgruppieren, die von Israel annektiert werden, einschließlich u.a. die
Karney Shomron-, Elkana-, Ariel- und Kedumim- Siedlungsblöcke; die Modiin
Straße und das Gebiet südlich davon bis zur Grünen Linie, das Gebiet um
Groß-Jerusalem, das schon 1967 annektiert wurde; die neuen Vororte rund um
Jerusalem bis Maaleh Adumin und jenseits davon; die jüdischen Siedlungen
in Hebron und Kiryat Arba und die Siedlungen im Raum Hebron. Die ganze
Küste des Toten Meeres; das ganze Jordantal bis zu 15 km (westlich) vom
Fluss und mehr. Alles zusammen: mehr als die Hälfte der Westbank.
Diese Gebiete werden
nicht offiziell annektiert, aber praktisch werden wir sie so schnell als
möglich an Israel anschließen. Wir werden sie mit Siedlungen ( dabei auch
die Siedler der „umgesiedelten“ Siedlungen verwenden), Industrieparks,
Straßen, öffentlichen Institutionen und Militäranlagen besetzen, sodass
man sie nicht vom anderen Teil Israels unterscheiden kann.
In derselben Zeit
werden wir die Siedlungen jenseits des Zaunes räumen, einschließlich der
Siedlungen im Gazastreifen ( mit oder ohne den Katif-Block)
Wie die Amerikaner
vorgeschlagen haben, werden wir die palästinensischen Enklaven
„Palästinensischer Staat mit vorläufigen Grenzen“ nennen. Das wird den
Palästinensern die Illusion geben, dass sie über die dauernden Grenzen
noch verhandeln können. Aber der „Trennungszaun“ wird natürlich die
endgültige Grenze sein.
Der Terror wird nicht
vollkommen aufhören, aber die palästinensischen Enklaven werden von
unserer Gnade abhängen, und wir werden sie zu jeder Zeit von einander
abschneiden, jede Bewegung untereinander verhindern und das Leben in ihnen
unerträglich machen können. Es wird sich für sie nicht mehr lohnen, mit
Gewaltakten weiterzumachen.
Offiziell werden die
Palästinenser freien Zugang zu den Grenzübergängen nach Ägypten und
Jordanien haben. Tatsächlich werden wir eine effektive Militärpräsenz dort
aufrecht erhalten, die uns in die Lage versetzt, jede Bewegung dort zu
stoppen.
Anfangs wird die Welt
aufschreien, aber mit den vollendeten Tatsachen wird sie sich beruhigen.
Selbst wenn Bush im Weißen Haus bleiben wird, wird er bis Ende 2004
gelähmt sein. Wenn ein Demokrat zum Präsidenten gewählt wird, wird er ein
paar Monate brauchen, bis er sich eingerichtet hat. Bis dahin wird alles
fertig sein, und wir werden großzügig ein paar kleinere Korrekturen
vornehmen können.
Dies ist der Plan.
Kann er
verwirklicht werden?
Es ist gut möglich,
dass Sharon die öffentliche Meinung überzeugt. Die große Mehrheit der
Öffentlichkeit ist sich in zwei Punkten einig: a) Die Sehnsucht nach
Frieden und Sicherheit und b) das Misstrauen gegen die Araber und die
Abneigung, mit ihnen zu verhandeln. (vor ein paar Wochen hat eine
satirische Zeitungsbeilage einen Slogan veröffentlicht: „JA zum Frieden –
NEIN zu den Palästinensern“).
Scharons Plan
verspricht beides. Er verspricht Frieden und Sicherheit, und er ist
vollkommen „einseitig“. Mit den Palästinensern sind keine Verhandlungen
erforderlich. Er ist nicht vom Willen der Araber abhängig, die man so
gänzlich ignorieren kann.
In dieser Hinsicht hat
Scharons Plan einen großen Vorteil gegenüber der Genfer Initiative, die
ganz auf die Voraussetzung baut, dass „es einen Partner gibt“, dass wir
mit den Palästinensern verhandeln und mit ihnen Frieden machen müssen.
Jahrelange Gehirnwäsche, von Ehud Barak und den meisten andern Führern der
„zionistischen Linken“ angeführt, haben das israelische Publikum davon
überzeugt, dass es keinen Partner gibt, dass die Araber betrügen, dass
Arafat jedes einzelne Abkommen, das er unterzeichnete, gebrochen hat etc.
Der Scharon-Plan passt
zu all diesen Mythen, während die Genfer Initiative im Widerspruch dazu
steht..
Aber auf dem Weg zur
Erfüllung des Scharonplanes liegen zwei große Landminen: die Siedler und
die Palästinenser.
Die Bewohner der
Siedlungen, die vermutlich „umgesiedelt“ werden sollen, schließen einige
der extremsten Elemente der Siedlungsbewegung ein. Das wird nicht
friedlich vor sich gehen. Die müssen mit Gewalt wegbefördert werden.
Das erfordert eine
große militärische Aktion. Während viele moderate Siedler freiwillig gehen
werden, wenn ihnen fette Kompensationen gegeben werden, werden viele
andere Widerstand leisten. Nach einer kompetenten Schätzung werden etwa
5000 Soldaten und Polizisten benötigt , um nur einen kleinen „Außenposten“
wie Migron, bei Ramallah, abzubauen. Scharon hätte ihn nach der Road Map
längst auflösen sollen. Wenn Dutzende von größeren und älteren Siedlungen
aufgelöst werden sollen, ist eine riesige, kriegsähnliche Operation nötig,
zu der eine allgemeine Einberufung der Reservesoldaten erforderlich ist –
mit allen politischen Konsequenzen.
Die Armee kann die
Siedlungen in diesen Gebieten nicht einfach hinter sich lassen. Solange es
dort Siedlungen gibt, wird die Armee dort sein. Mit anderen Worten: die
Erfüllung des Planes wird nicht so schnell und sauber vor sich gehen wie
die letzte Nacht im Süd-Libanon, sondern ein Prozess von vielen Monaten
oder gar Jahren sein.
Während die
Umverteilung in den Gebieten, die praktisch von Israel annektiert werden,
sehr schnell und effektiv gehen wird, wird der Transfer der Gebiete, die
man den Palästinensern überlassen will, sehr langsam gehen.
Es ist absolut
illusorisch, zu glauben, dass die Palästinenser die ganze Zeit ruhig
zusehen werden. Sie werden die Ausführung eines Planes sehen, von dem sie
ganz richtig glauben, dass er den Zweck hat, die nationalen Ziele des
palästinensischen Volkes zu zerstören. In den Enklaven wird es keinen
Platz für die Rückkehr von Flüchtlingen geben (ganz zu schweigen von einer
Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel). Dieses Gefüge dann einen
„palästinensischen Staat“ zu nennen, ist ein böser Streich.
Wenn es Scharon
gelingt, seinen Plan auszuführen, wird ein neues Kapitel in der 100 Jahre
alten Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes
aufgeschlagen. Die Palästinenser werden in den Gebieten, die nur noch 10%
des ursprünglichen Landes von vor 1948 ausmachen, zusammengepfercht. Sie
haben keine Möglichkeit, dieses Gebiet zu vergrößern. Im Gegenteil, sie
werden fürchten, dass Sharon und seine Nachfolger versuchen werden, sie
auch von dem, was ihnen übrigbleibt, zu verjagen, um so die ethnische
Säuberung von Erez Israel zu vollenden.
Deshalb werden die
Palästinenser gegen diesen Plan kämpfen, und ihr Kampf wird intensiver, je
mehr er fortschreitet. Alle möglichen Mittel werden verwendet werden:
Raketen und Mörsergranaten über den Trennungszaun, Selbstmordattentäter
nach Israel und anderes. Wahrscheinlich wird sich der gewalttätige Kampf
über viele andere Länder rund um die Welt verbreiten, zu Lande und in der
Luft. Da wird es keinen Frieden, keine Sicherheit geben.
Am Ende werden zwei
Grundfaktoren entscheidend sein: zum einen von der Ausdauer der beiden
Völker und ihrer Bereitschaft, den blutigen Kampf fortzusetzen mit all den
wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die damit zusammenhängen, zum
anderen von der Bereitschaft der Welt, all dies hier voller
Gleichgültigkeit mit anzusehen.
Die Idee vom
„einseitigen Frieden“ ist eine universale Neuerung. „Frieden ohne die
andere Seite“ ist ein Widerspruch in sich. Gebildete Leute werden dies ein
Oxymoron nennen - ein griechischer Terminus - der buchstäblich eine
scharfe Torheit meint.
Am Ende wird das
Schicksal dieses Planes all den anderen grandiosen Plänen gleichen, die
Scharon in seiner langen Karriere geschmiedet hat. Es genügt, an den
Libanonkrieg und seinen Preis zu erinnern.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs)
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