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Die Russen kamen
Uri Avnery, 27.4.2013
ALS UNS die große Einwanderungswelle um 1990 aus der Sowjetunion
erreichte, waren wir froh.
Zunächst, weil wir glauben, dass jede Einwanderung für das Land gut
sei. Ich bin davon überzeugt, dass dies für alle Länder der Fall
ist.
Zweitens, weil wir überzeugt waren, dass diese spezielle Gruppe von
Immigranten unser Land in die richtige Richtung stoßen würde.
Diese Leute – so sagten wir uns – sind 70 Jahre lang in einem
international eingestellten Geist erzogen worden. Sie haben gerade
eine grausame Diktatur gestürzt. Sie müssen begeisterte Demokraten
sein. Viele von ihnen sind keine Juden, sondern nur Verwandte
(manchmal entfernte Verwandte) von Juden. Also haben wir hundert
Tausende säkulare, internationalistische und nicht nationalistische
neue Bürger, genau das, was wir brauchen. Sie würden ein positives
Element dem demographischen Cocktail, das Israel ist, hinzufügen.
Außerdem: da die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft im Land (dem
sog. „Yishuv“) zum großen Teil aus Immigranten des zaristischen und
früh revolutionären Russland bestand, würden sich die neuen
Immigranten sicher leicht mit der allgemeinen Bevölkerung mischen.
So dachten wir wenigstens.
DIE GEGENWÄRTIGE Situation ist genau das Gegenteil.
Die Immigranten aus der früheren Sowjetunion – im Jargon
zusammengefasst als „die Russen“ – haben sich überhaupt nicht mit
den anderen vermischt. Sie sind eine gesonderte Gemeinde, die in
einem selbstgemachten Ghetto lebt.
Sie sprechen weiter russisch. Sie lesen ihre eigenen russischen
Zeitungen, alle fanatisch nationalistisch und rassistisch. Sie
wählen ihre eigene Partei, die von dem in Moldawien geborenen Evet
(jetzt Avigdor) Lieberman angeführt wird. Sie haben praktisch keinen
Kontakt mit andern Israelis.
In ihrem ersten beiden Jahren im Lande wählten sie hauptsächlich
Yitzhak Rabin von der Labor-Partei, aber nicht, weil er Frieden
versprochen hat, sondern weil er ein General und für sie ein
hervorragender Mann des Militärs war. Von da ab haben sie die
extreme Rechte gewählt.
Die sehr große Mehrheit von ihnen hasst Araber, weist den Frieden
zurück, unterstützt die Siedler und wählt rechtsgerichtete
Regierungen.
Da sie jetzt fast 20% der israelischen Bevölkerung ausmachen, ist
dies ein wichtiger Faktor, der Israel nach rechts stößt.
WARUM UM Himmelswillen?
Da gibt es mehrere Theorien, wahrscheinlich sind alle von ihnen
richtig.
Einmal hörte ich von einem hochrangigen russischen Funktionär:
„Während des Sowjetregimes waren Juden sowjetische Bürger wie alle
anderen auch. Als die Union aus einander brach, zog sich jeder in
seine eigene Nation zurück. Die Juden wurden in einem Vakuum
gelassen. Also gingen sie nach Israel und wurden dort israelischer
als all die anderen Israelis. Selbst die Nicht-Juden unter ihnen
wurden israelische Super-Patrioten“.
Eine andere Theorie lautet: „Als der Kommunismus in Russland
zusammenbrach, trat der Nationalismus (oder die Religion) an seine
Stelle. Die Bevölkerung blieb bei ihrer totalitären Haltung, mit
Verachtung für Demokratie und Liberalismus und dem Verlangen nach
einem starken Führer. Es gab auch einen weit verbreiteten Rassismus
der „weißen“ Bevölkerung der nördlichen Sowjetunion gegenüber den
„dunklen“ Völkern des Südens. Als die russischen Juden (und
Nichtjuden) nach Israel kamen, brachten sie diese Haltung mit sich.
Sie ersetzten die verachteten Armenier, Tschetschenen und all die
anderen durch Araber. Diese Einstellung wird täglich von den
russischen Zeitungen und TV-Stationen in Israel genährt.
Ich bemerkte diese Haltung, als ich 1990 das erste Mal die
Sowjetunion während der Ära von Mikhail Gorbachows Glasnost
besuchte. Ich konnte es vorher nicht besuchen, weil mein Name
regelmäßig von jeder Liste von Leuten gestrichen wurde, die häufig
eingeladen wurden, um den Ruhm des sowjetischen Vaterlandes zu
sehen. Ich weiß nicht, warum. (Seltsam genug ist, dass ich auch von
der Liste der in die US-Botschaft am 4. Juli eingeladenen
Würdenträger gestrichen wurde; und einige Jahre hatte ich große
Schwierigkeiten, ein amerikanisches Visum zu erhalten. Vielleicht
weil ich gegen den Vietnamkrieg demonstriert hatte. Ich muss einer
der wenigen Leute in der Welt sein, die darauf stolz sein können,
dass er auf der schwarzen Liste von beiden stand, von der CIA und
dem KGB.)
Ich flog nach Russland, um ein Buch über das Ende des
kommunistischen Regimes in Ost-Europa zu schreiben. (Es wurde auf
Hebräisch unter dem Titel „Lenin lebt nicht mehr hier “
veröffentlicht). Rachel und ich liebten Moskau sehr, aber wir
brauchten nur wenige Tage, um den ungezügelten Rassismus rund um uns
staunend zur Kenntnis zu nehmen. Dunkelhäutige Bürger wurden mit
nicht verhüllter Verachtung behandelt. Wenn wir auf den Markt gingen
und mit den Verkäufern scherzten, alles Leute aus dem Süden, mit
denen wir sofort Kontakt hatten, dann distanzierte sich der nette,
ernst dreinschauende russische Übersetzer ganz offen.
MEINE FREUNDE und ich haben uns jeden Freitagabend seit etwa 50
Jahren getroffen. Als die Russen begannen zu kommen, traf sich
unsere Runde in Tel Avivs Cafe Kassit, dem Treffpunkt von
Schriftstellern, Künstlern und ähnlichen Leuten.
Eines Tages bemerkten wir, dass sich eine Gruppe junger russischer
Immigranten ihre eigene Tafelrunde geschaffen hatte. Voller
Sympathie – aber auch Neugierde- schlossen wir uns zuweilen ihnen
an.
Am Anfang funktionierte dies ganz gut. Einige Freundschaften wurden
geschlossen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Sie distanzierten
sich von uns, indem sie uns klar machten, dass wir für sie nur
unkultivierte nahöstliche Barbaren seien, nicht wert, mit ihnen, die
mit Tolstoi und Dostojewskij aufgewachsen seien, zu kommunizieren.
Dann verschwanden sie überhaupt aus unserm Blickfeld.
Ich wurde letzten Freitag daran erinnert, als eine ungewöhnlich
hitzige Diskussion an unserm Tisch ausbrach. Wir hatten einen Gast,
eine junge „russische“ Naturwissenschaftlerin, die die Linke
anklagte, dass ihre Gleichgültigkeit und ihre gönnerhafte Haltung
gegenüber der russischen Gemeinde diese veranlasst habe, sich den
Rechten zuzuwenden. Eine renommierte Friedensaktivistin reagierte
wütend: sie behauptete, dass die Russen schon mit einer fast
faschistischen Haltung hierhergekommen seien.
Ich stimmte mit beiden überein.
ISRAELS EINSTELLUNG gegenüber neuen Immigranten ist immer etwas
seltsam gewesen.
Führer wie David Ben-Gurion hat die zionistische Einwanderung
behandelt, als wäre es nur ein Transportproblem. Sie gaben sich
außerordentlich viel Mühe, um Juden aus aller Welt nach Israel zu
bringen, aber als sie dann hier waren, ließen sie sie sich selbst
versorgen. Materielle Hilfe wurde gegeben, eine Wohnung wurde bereit
gestellt, aber fast nichts wurde getan, um sie in die Gesellschaft
zu integrieren.
Dies traf auch für die Masseneinwanderung der deutschen Juden zu,
die in den 30erJahren kamen, die orientalischen Juden in den
50erJahren und die russischen in den 90ern. Als die Masse der
russischen Juden die USA bevorzugten, setzte unsere Regierung die
amerikanische unter Druck, ihre Tore ihnen vor der Nase zu
schließen, so waren sie praktisch gezwungen, hierher zu kommen. Als
sie kamen, ließ man sie sich in Ghettos versammeln, statt sie dahin
zu bringen, sich unter uns zu verteilen und zu leben.
Die israelische Linke war keine Ausnahme. Als einige schwache
Bemühungen, sie ins Friedenslager zu ziehen, erfolglos blieben,
wurden sie alleine gelassen. Die Organisation Gush Shalom, zu der
ich gehöre, verteilte einmal 100 000 Kopien unserer
Vorzeigeveröffentlichung („Wahrheit gegen Wahrheit “, die Geschichte
unseres Konfliktes auf Russisch) Als wir nur eine einzige Antwort
erhielten, waren wir entmutigt. Offensichtlich interessierten sie
sich einen Dreck für die Geschichte dieses Landes, von der sie nicht
die geringste Ahnung haben.
UM DIE Bedeutung dieses Problems zu verstehen, muss man sich die
Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wie sie tatsächlich
ist, vor Augen halten. (Ich habe mehrere Male darüber in der
Vergangenheit geschrieben). Sie besteht aus fünf Gruppierungen von
fast gleicher Größe:
a.) Juden europäischen Ursprungs, genannt Ashkenasim, zu denen die
meisten der kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und
militärischen Elite gehören. Die Linke ist fast vollkommen dort
konzentriert.
b.) Juden orientalischen Ursprungs, oft (fälschlicherweise)
Sephardim genannt, aus arabischen und muslimischen Ländern. Diese „Misrahim“
sind die Basis des Likud.
c.) Die religiösen Juden, die die ultra-orthodoxen Haredim
einschließen, sowohl Ashkenazim als auch Orientale, sowie auch
national-religiöse Zionisten, die die Führung der Siedler
einschließt
d.) Die arabisch-palästinensischen Bürger, die vor allem in drei
großen geographischen Gruppen leben.
e.) Die „Russen“
Einige dieser Gruppen überschneiden sich am Rande, aber das Bild ist
eindeutig. Die Araber und viele der Ashkenasim gehören zum
Friedenslager, alle anderen gehören geschlossen zum rechten Flügel.
Deswegen ist es absolut dringend, wenigstens Teile der
orientalischen Juden, die religiösen und – ja – die „Russen“ zu
gewinnen, um eine Mehrheit für Frieden zu gewinnen. Meiner Meinung
nach ist das im Augenblick die bedeutendste Aufgabe des
Friedenslagers.
AM ENDE der wütenden Debatte an unserm Tisch versuchte ich beide
Seiten zu beruhigen.
Es ist nicht nötig, sich darüber zu zanken, wie die Schuld zu
verteilen sei. Es gibt genug Schuld für alle.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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