TRANSLATE
Der Staat des
Bla-Bla-Bla
Uri Avnery, 16.Oktober 2010
WIRD DEUTSCHLAND ein Gesetz
verabschieden, das von jedem Türken, der die Staatsbürgerschaft
beantragt, verlangt, dass er der „Deutschen Bundesrepublik, dem
Nationalstaat der Deutschen“, Treue schwört? Was für eine
lächerliche Idee!
Wird der US-Senat ein Gesetz annehmen,
das jeden Kandidaten für die Staatsbürgerschaft zwingt, den
„Vereinigten Staaten von Amerika, dem Nationalstaat der ….“, Treue
schwört ? Ja, wessen Nationalstaat? „Des amerikanischen Volkes“?
„Des angelsächsischen Volkes“? „Des christlichen Volkes“? eine
absurde Idee.
Aber die Knesset ist dabei, ein Gesetz
zu verabschieden, das von jedem Nicht-Juden, der die israelische
Staatsbürgerschaft wünscht, verlangt, dem Staat Israel, dem
„Nationalstaat des jüdischen Volkes“ Treue zu schwören. Es scheint,
dass unsere unbedarften Gesetzgeber darin nichts Fragwürdiges
sehen.
Und da hängt schon eine ( neue)
Gesetzesvorlage in der Luft, die verlangt, dass alle israelischen
Bürger oder vielleicht nur die nicht-jüdischen diesem Nationalstaat
des jüdischen Volkes Treue schwören oder …
Binyamin Netanyahu hat vorgeschlagen,
den Siedlungsbaustopp für zwei oder drei weitere Monate auszudehnen
– wenn die palästinensische Führung den Staat Israel als den
Nationalstaat etc etc.
Und man mag sich fragen, was die
Ursache dieser Obsession ist, diese Forderung von nah und fern, von
Ausländern und Nicht-Ausländern zu verlangen, dass Israel der
„Nationalstaat des jüdischen Volkes“ sei?
Der Staat Israel besteht schon 62
Jahre. Er ist eine regionale Militärmacht, eine Atommacht, mit einer
Wirtschaft, die in einer von Krisen geschüttelten Welt Neid
hochkommen lässt, der ein dynamisches kulturelles,
wissenschaftliches und soziales Leben hat. Warum also diese
obsessive Notwendigkeit einer Bestätigung seiner Existenz und seiner
ideologischen Definition?
Warum das Fanfarengetöse, das jeden
zweitrangigen Künstler ankündigt, der bereit ist, in Israel zu
erscheinen?
Was ist hier los? Was ist der Grund
für diesen klaffenden Mangel an Selbstvertrauen? Diese
Zwangsvorstellung für eine Bestätigung und aus Respekt vor der
ganzen Welt? Eine kollektive geistige Störung? Ein Problem für
politische Psychologen oder vielleicht sogar für politische
Psychiater?
ICH KANN nicht anders, als diese
pathetischen Bedürfnisse mit der Stimmung während unserer
Jugendzeit vergleichen.
Mitte der 40er-Jahre bestand der
hebräische Yishuv (Gemeinschaft) aus 600 000 Einwohnern. Aber unser
Selbstvertrauen war so groß wie das einer Nation mit sechzig
Millionen.
Wir hatten keinen Staat. Wir kämpften
noch gegen eine fremde Herrschaft. Aber eine große Anzahl
ideologischer Gruppen brütete großartige Pläne aus. Die
„Kanaaniter“ sprachen vom „hebräischen Land“, das vom Mittelmeer bis
zum Euphrat reicht. Gruppen vom rechten Flügel stimmten für ein
„Königreich Israel“ vom Nil bis zum Euphrat. Die „Bema’avak“- (im
Kampf) Gruppe, ( zu der ich gehörte), sprach über einen vereinigten
„semitischen Raum“, der Palästina, alle arabischen Länder und
vielleicht sogar die Türkei, den Iran und Äthiopien mit einschließt.
Ein lokaler Wasserexperte veröffentlichte einen Plan für die
rationale Aufteilung des Wassers aller Flüsse der Region, des Tigris
und des Euphrats, des Orontes, des Litani und Jordans und vielleicht
auch des Nils – zu Gunsten aller Völker der Region. Keiner dachte
daran, dass diese Pläne ein Ausdruck von Größenwahnsinn sind.
Und jetzt sind wir hier, zwölf mal
größer. Wir haben einen Staat, um den uns die meisten Völker der
Welt beneiden. Und wir betteln darum, anerkannt zu werden. Wir
verlangen, dass das palästinensische Volk, das noch keinen Staat
hat, unsere Selbstdefinition anerkennt. Dass eine Braut aus Ramallah,
die ihren Cousin in Haifa heiraten will, „den Nationalstaat des
jüdischen Volkes“ anerkennt. Ist das nicht lächerlich?
ZYNIKER WERDEN sagen: warum nimmst du
dies so ernst? Schließlich ist dies doch nur ein Trick von Benyamin
Netanyahu und/oder Avigdor Lieberman, um persönlichen Gewinn daraus
zu ziehen.
Das stimmt natürlich.
Netanyahu benützt diesen Trick, um die
Friedensverhandlungen zu sabotieren, die noch gar nicht angefangen
haben. Er will die Verhandlungen verhindern, die - Gott bewahre –
zu einem Frieden führen könnten, der uns zwingen würde, die
Siedlungen zu evakuieren und die Westbank, den Gazastreifen und
Ost-Jerusalem an die Palästinenser zurückzugeben.
Die Friedensverhandlungen sind der
Feind. Es ist besser, einen Feind zu töten, solange er klein ist, am
besten, wenn er noch nicht das Licht der Welt erblickt hat . Die
Forderung, den Staat von Bla-Bla-Bla anzuerkennen, ist wie ein
Instrument für einen Schwangerschaftsabbruch.
Wenn Netanyahu glaubt, dass er dieses
Ziel durch die Forderung erreichen könnte, dass die Palästinenser
Israel als einen „vegetarischen Staat“ anerkennen würden, dann hätte
er dies getan.
Warum dies also ernsthaft diskutieren?
Avigdor Lieberman spricht zu seinen
potentiellen Wählern und besonders zu den 1,25 Millionen Immigranten
aus der Sowjetunion, die noch immer nicht richtig Wurzeln im Land
geschlagen haben. Sie sind mit einem totalitären Kult der Macht,
internem Terror und mit der Arroganz der Supermacht ihrer früheren
Heimat, bevor sie zusammenbrach, aufgewachsen. Liebermans politische
Ideen – ein ideologischer Treueschwur, der Transfer von Menschen und
Gebieten und in Zukunft auch Gulags für die Feinde des Regimes –
kommen aus der geistigen Welt eines Stalin.
Für Lieberman ist all das Gerede über
einen Treueschwur gegenüber einem jüdischen Sowjet nichts anderes
als ein Mittel, die Führung der israelischen Rechten zu gewinnen und
von dort die Führung von ganz Israel. Dafür ist er bereit, den 20%
der Bürger Israels - also jedem 5. Israeli – den Krieg zu erklären.
Das hat es bis jetzt in keinem demokratischen Land gegeben.
Das ist offensichtlich. Warum soll man
das so ernst nehmen?
Aus einem einfachen Grund: beide,
Netanyahu und Lieberman, sind davon überzeugt, dass diese Forderung
ihre Popularität unter den jüdischen Israelis sprunghaft
verstärken würde. Wie kommt das?
Ist diese Öffentlichkeit von einer
tiefen inneren Angst erfasst? Benötigt sie eine tägliche Dosis von
Beruhigungsmitteln in Form von Anerkennung ihres Staates von
Bla-Bla-Bla?
WENN ICH aufgefordert würde, einen
Treueschwur auf „den Nationalstaat des jüdischen Volkes“ abzulegen,
würde ich respektvoll ablehnen. Vielleicht wird bis dahin ein
Gesetz in Kraft treten, das die Staatsbürgerschaft von Israelis
streicht, die diese Forderung ablehnen, und ich würde auf den Status
eines permanenten Bewohners zurückgestuft, der keine bürgerlichen
Rechte hat.
Ich müsste dies verweigern, um eine
Lüge zu vermeiden.
Zunächst einmal weiß ich nicht, was das
„jüdische Volk“ ist, dem der Staat Israel angeblich gehört. Wer ist
damit gemeint? Ein Jude aus Brooklyn, ein Bürger des Nationalstaates
des amerikanischen Volkes, der in der US-Marine diente und den
amerikanischen Präsidenten wählt? Richard Goldstone, der von den
Führern Israels als Lügner und selbsthassender Jude hingestellt
wird? Bernard Kouchner, der französische Außenminister, dem in
dieser Woche von Lieberman gesagt wurde, er solle in Frankreich das
Burka-Problem lösen, statt seine (jüdische ) Nase in unsere
Angelegenheiten zu stecken.
Und wie würde der Besitz Israels bei
diesen Juden selbst zum Ausdruck kommen? Würden sie in der Lage
sein, für unsere Regierung zu stimmen ( nachdem dieses Recht 1,5
Millionen arabischen Bürgern genommen würde) ? Werden sie die
Politik unserer Regierung bestimmen – wie jetzt die jüdischen
Milliardäre, Kasino- und Bordellbesitzer, die unsere Zeitungen und
Fernsehstationen besitzen und unsere Politiker im Groß- oder
Kleinhandel kaufen?
Kein israelisches Gesetz hat je
definiert, was „ das jüdische Volk“ ist. Eine religiöse
Gemeinschaft? Eine ethnische Gruppe? Eine Rasse? All dieses
zusammen? Schließt es all diejenigen ein, die sich zur jüdischen
Religion bekennen? Jeder, der eine jüdische Mutter hat? Schließt es
einen Nicht-Juden ein, der mit jemandem verheiratet ist, der einen
jüdischen Großelternteil hat und deshalb automatisch das Recht hat,
sobald er nach Israel kommt, die Staatsbürgerschaft zu bekommen?
Wenn hunderttausend Araber morgen zum Judentum konvertieren würden,
würde ihnen dann der Staat auch gehören?
Und was mit der Konfusion von „Nation“
und „Volk“? Gehört der Nationalstaat der „Nation“ oder dem „Volk“?
Nach welcher wissenschaftlichen oder juristischen Definition? Gehört
der deutsche„Nationalstaat“ dem deutschen „Volk“ – zu dem nach
einigen – auch Österreicher und die deutsch sprechenden Schweizer
gehören?
Wir haben einen Knoten von Konzepten,
Termini und semantischen Unklarheiten, einen Knoten, der nicht
aufgelöst werden kann.
DER FRÜHERE Justizminister, der
verstorbene Yaakov Shimshon Shapira, durch und durch Zionist, sagte
mir einmal, dass er als Rechtsberater der Regierung David
Ben-Gurion geraten habe, das Rückkehrgesetz nicht zu erlassen, weil
er keine Antwort auf die Frage finden könne „wer ist ein Jude?“ Noch
schwieriger ist die Antwort auf die Frage: „was ist ein jüdischer
Staat?“
Und tatsächlich, was bedeutet dies?
Ein Staat, in dem es eine jüdische Mehrheit gibt – etwas, das sich
in Zukunft ändern mag? Ein Staat, dessen Sprache hebräisch ist und
dessen offizielle Feiertage jüdisch sind? Ein Staat, der den Juden
in aller Welt gehört? Ein Staat, dessen Bürger Juden und nur Juden
sind? Ein Staat des Transfers und der ethnischen Säuberung? Und wie
passen Wörter wie „jüdisch“ und „demokratisch“ zusammen?
Wegen all dieser Fragen hat Israel
keine Verfassung. Ohne solch eine Verfassung werden all diese
Unklarheiten auf dem Tisch des Obersten Gerichtes landen ( nachdem
der arabische Richter natürlich entfernt worden ist).
IN DIESER Woche nahm ich an einer
Demonstration von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen in
Tel Avivs Rothschild-Boulevard teil, vor dem Gebäude, in dem Ben
Gurion am 14. Mai 1948 die Gründung „eines jüdischen Staates im
Lande Israel – des Staates Israel“ - verkündete.
Warum „ein jüdischer Staat“? Für Ben
Gurion war dies keine ideologische Definition. Er zitierte nur die
Resolution der UN-Vollversammlung, die das Land zwischen einem
„arabischen Staat“ und einem „jüdischen Staat“ teilte. Die Verfasser
der Resolution hatten keinen ideologischen Charakter im Sinn. Sie
stellten einfach fest, dass es in diesem Land zwei rivalisierende
Volksgruppen gibt – die jüdische und die arabische - und
entschieden pragmatisch, das Land zwischen den beiden zu teilen.
Die Demonstration erreichte ihren
Höhepunkt, als die Königin des israelischen Theaters, die in
Deutschland geborene Hanna Meron, - die 1970 bei einem Angriff durch
Issam Sartawi (bevor er Friedensaktivist und ein enger Freund von
mir wurde) ein Bein verloren hatte - aus der israelischen
Unabhängigkeitserklärung vorlas. Sie erinnerte uns daran, dass die
Erklärung das Unternehmen einschloss, dass „der Staat Israel die
Entwicklung des Landes zu Gunsten aller seiner Bürger
pflegen werde; dass er auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden
gegründet werde, wie die Propheten Israels es sich vorgestellt
haben; dass vollkommene Gleichheit der sozialen und politischen
Rechte aller seiner Einwohner, unabhängig von Religion, Rasse oder
Geschlecht sichergestellt werde; dass Freiheit der
Religion, des Gewissens, der Sprache, Bildung und Kultur
garantiert werde; dass er sich treu an die Prinzipien der
UN-Charta halten wolle.“
Es war in der Tat eine traurige
Demonstration.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
|