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Die Welt ist kein Golem
Uri Avnery, 22.1. 2011
ISRAEL IST, wie allgemein bekannt, das Land der
unbegrenzten Unmöglichkeiten.
Zum Beispiel streiken in Israel die Diplomaten.
Ein Streik der Diplomaten? Aber das ist doch
unmöglich. Postboten streiken. Hafenarbeiter streiken. Aber
Diplomaten? Die konservativsten Leute, die Angehörigen des
Establishments? Die Leute, die jeder israelischen Regierung dienen,
egal, welche Anschauung sie haben? Die Vorwände für all ihre
Aktionen finden, egal, welcher Art sie sind?
Nun, in Israel ist es möglich. Das ganze
Personal des Auswärtigen Amtes hat aufgehört zu funktionieren. Keine
neuen Passe für Bürger, die in Moskau ihre Papiere verloren haben,
keine Hilfe für Bürger, die in New York ins Gefängnis geworfen
wurden. Keine Vorbereitungen für Binyamin Netanyahus Besuch in
Paris. Kein Besuch von Angela Merkel mit Gefolge in der Knesset.
Seit Jahren haben die Leute im Auswärtigen Amt
unter miserablen Bedingungen gearbeitet.
Ihr Gehalt grenzte ans Lächerliche. Deshalb
streiken sie.
HAT DIES den Ministerpräsidenten wütend gemacht?
Regte das den Außenminister auf? Überhaupt nicht. Netanyahu
strengte sich nicht an, den Streik zu beenden, und Avigdor Lieberman
versuchte absolut nichts, um die Angestellten wieder an ihre
Schreibtische zurück zu bringen. Beide kümmern sich nicht darum. Im
Gegenteil, sie schauen fast erleichtert aus. Sie kümmern sich um
nichts. Lasst sie nur für immer streiken!
Und sie haben Recht. In dieser Woche wird jedem
klar, wie sehr sie Recht haben.
Der Präsident der russischen Föderation Dimitry
Medvedev hatte geplant, Israel zu besuchen. Aber zuvor ging er nach
Jericho, die als die älteste Stadt der Welt angesehen wird. Dort
erklärte er vor Präsident Mahmoud Abbas, dass Russland den
palästinensischen Staat seit langem anerkannt habe und dass es
weiterhin das palästinensische Recht auf einen eigenen Staat mit
seiner Hauptstadt Jerusalem anerkenne.
Es war nicht genau Russland, das Palästina
anerkannte, sondern die Sowjetunion. Und die Anerkennung wurde dem
virtuellen Staat verliehen, der von Yasser Arafat 1988 erklärt
wurde. Das ist etwas sehr anderes als eine Anerkennung des
palästinensischen Staates, der jetzt Realität wird.
Nach dem Besuch in Jericho sollte Medvedev nach
Jerusalem kommen, um mit Binyamin Netanyahu photographiert zu werden
und Avigdor Lieberman die Hände zu schütteln. Wie sollte Netanyahu
auf die Jericho-Erklärung reagieren? Wie konnte er sich aus dieser
Affäre ziehen, ohne sich selbst zu erniedrigen oder das größte Land
der Welt zu beleidigen?
Diese Verlegenheit wurde durch rigorose Maßnahmen
der israelischen Diplomaten vermieden. Sie weigerten sich, den
Besuch vorzubereiten und die Begegnungen zu organisieren. Medvedev
gab auf, und die beiden großen Staatsmänner – Netanyahu und
Liebermann – konnten aufatmen.
Tief in seinem Herzen dankte Lieberman sicherlich
den Leuten in seinem Amt, die er hasst. Sie retteten ihn. Was könnte
er auch Medvedev gesagt haben? Seit er das Außenministerium betrat
– wie ein Bär den sprichwörtlichen Porzellanladen, rühmte er sich
seiner ausgezeichneten Beziehungen zu Russland. Die Amerikaner
verabscheuen ihn? Na und? Amerika ist ein untergehendes Empire. Die
Europäer wollen ihm nicht begegnen? Na und? Wer sind die
eigentlich?
Aber Russland ist Russland. Hier haben wir einen
wirklichen Freund. Lieberman bewundert Putin, diesen großen
Demokraten, der weiß, wie man mit einem frechen Volk wie den
Tschetschenen umgeht. Liebermann spricht mit ihm in seiner
Muttersprache. Er rühmt sich, wirklich intime Beziehungen mit
Russland aufgebaut zu haben. Und nun tut es ihm dies an. Was für
eine Schande!
ABER DIE Wahrheit ist, dass nicht Putin sein
wirklicher Freund ist. Yvette Lieberman (das ist sein ursprünglicher
Name) hat nur einen wirklichen Freund in der Welt: Aleksandr
Lukashenko, Präsident von Weißrussland, „der letzte Diktator in
Europa“.
Zwar wurde Lieberman nicht in Weißrussland
geboren, sondern im sowjetischen Moldavien. Aber seine zweite Heimat
ist zweifellos Weißrussland. In seiner Hauptstadt Minsk verbringt er
seine Ferien. Dort verbarg er sich mit der (erfolgreichen) Absicht,
Netanyahu zu erpressen, als „Bibi“ ihn bat, sich seiner
Koalitionsregierung anzuschließen.
Lukashenko ist sein Seelenfreund. Er ist sein
Vorbild. Von ihm lernte er, wie man mit Menschenrechtsorganisationen
umgeht. Das Patent gehört dem Präsidenten von Weißrussland und wurde
nur für den Führer von „Israel unser Heim“ lizenziert. Es war
Lukashenko, der eine offizielle Warnung an die
Menschenrechtsaktivisten seines Landes sandte und ihnen mit schweren
Strafen drohte, wenn sie weiter über Weißrussland „verzerrte
Nachrichten“ verbreiten würden.
„Das Justizministerium hat an das weißrussische
Helsinki-Komitee wegen Rechts-verletzungen ziviler Organisationen
und Massenmedien und wegen Verbreitung dubioser Informationen über
die Rechtsvollstreckung und Rechtsagenturen eine schriftliche
Warnung veröffentlicht,“ heißt es im Text. Die Polizei überfiel die
Gebäude der Menschenrechts-organisationen, und der KGB (ja der alte
Name lebt in Weißrussland fort) hat angefangen, zu untersuchen.
Von hier bekam Lieberman seine Anregungen, als er
seine Kampagne gegen die Friedens- und Menschenrechtsaktivisten in
Israel eröffnete. Er nannte sie in dieser Woche „Kollaborateure der
Terroristen“. Ich spreche keine slawischen Sprachen, aber ich bin
sicher, dass dies auf weißrussisch authentischer klingt als im
Hebräischen.
MAN KÖNNTE (vorerst) über Liebermans Behauptungen
lachen, dass die Friedens- und Menschenrechtsorganisationen die
Delegitimierung des Staates Israel und besonders der israelischen
Armee verursachen.
Aber man kann nicht über die Delegitimierung
selbst lachen. Immer mehr Regierungen erkennen den Staat Palästina
an und geben der Netanyahu-Regierung Ohrfeigen in dem Prozess.
Als der palästinensische Nationalrat vor 22
Jahren die Gründung des unabhängigen palästinensischen Staates
erklärte, erkannten ihn 110 Staaten an. Alle hoben die
palästinensischen Vertretungen in den Rang von Botschaften. Die
israelische Regierung ignorierte sie. Ihrer Ansicht nach war es
eine leere Erklärung und eine Anerkennung ohne Bedeutung. Sie
veränderte die Tatsachen vor Ort nicht. In ihren Augen war eine
neue Siedlung in der Westbank bedeutsamer als die Meinung von
hundert Staaten. Auf jiddisch sagt man: Oilam Goilam – die Welt ist
ein Golem. (Das Monster der jüdischen Legende)
Aber die neue Welle von Anerkennungen Palästinas
ist etwas ganz anderes. Wenn bedeutende Länder wie Brasilien,
Argentinien und Chile Palästina anerkennen und andere
lateinamerikanische Länder nach sich ziehen, ist dies bedeutsam.
Wenn Russland seine Anerkennung durch seinen höchsten Vertreter und
auf palästinensischem Boden erneuert, ist das eine bedeutende
Tatsache. Wenn sich jemand auf solide amerikanische Unterstützung
verlässt, sollten man einer kleinen Nachricht, die diese Woche
erschien, Aufmerksamkeit schenken: Der permanenten Vertretung der
PLO in Washington DC wurde erlaubt, die palästinensische Flagge über
ihrem Gebäude flattern zu lassen – ein Recht, das sonst nur
Botschaften zusteht.
Eine interessante Entwicklung ist im Gange.
Zwei Drittel der Länder der Welt haben den Staat Palästina schon
anerkannt, und die Woge kommt in Schwung. Es sind nicht mehr
kleine Dritte-Welt-Länder, sondern bedeutende Akteure auf der
Weltbühne. Mahmoud Abbas und Salam Fayad sind still und beharrlich
dabei, die Institutionen des palästinensischen Staates aufzubauen.
Sie bemühen sich sehr um die Entwicklung, um den Aufbau einer neuen
Stadt im Norden von Ramallah, um Einschränkung der Macht der
Sicherheitsdienste und um den Gewinn von Sympathie und
Aufmerksamkeit der Regierungen der Welt.
Na und? – fragt der durchschnittliche Israeli.
Schließlich beweisen die Gojim nur wieder, dass sie alle
Antisemiten sind. Warum ist das so wichtig? Wir beherrschen das
Gebiet, und diplomatische Tricks werden dies nicht ändern. Und so
lange wir unbegrenzte amerikanische Hilfe haben, ist uns das
piepegal.
Wirklich? Viele Jahre lang konnten wir uns mit
geschlossenen Augen auf die Amerikaner verlassen. Jede
„antiisraelische Resolution“ wurde mit einem klaren amerikanischen
Veto beiseite gewischt. Aber ist das noch immer so sicher? Wenn alle
bedeutenden Länder der Welt den Staat Palästina anerkennen -
werden die US dies dann auf Dauer allein durchhalten?
Während die israelischen Diplomaten streiken,
gewinnt im UN-Sicherheitsrat eine neue Initiative, die die
Siedlungen verurteilt, an Fahrt. Die ganze Welt ist gegen diese
Siedlungen, die nach Völkerrecht eindeutig illegal sind. Selbst
die US haben das Einfrieren des Siedlungsbaus verlangt. Kann Amerika
eine Resolution, die seine eigene Politik zum Ausdruck bringt,
sabotieren, ohne eine Witzfigur zu werden? Und wenn es dies jetzt
noch tut, wie wird es das nächste Mal oder das übernächste Mal sein?
Und wenn das amerikanische Veto noch immer den
Sicherheitsrat beherrscht - so beherrscht es nicht die
UN-Vollversammlung. Es war die Vollversammlung – und nicht der
Sicherheitsrat – der sich 1947 entschloss, in Palästina einen
jüdischen und einen arabischen Staat neben einander zu errichten.
Wenn die Vollversammlung jetzt entscheidet, dass es an der Zeit ist,
die zweite Hälfte der Resolution zu realisieren – nämlich die
Errichtung des arabischen Staates Palästina - wird dies nur noch
mehr die weltweite Anerkennung Palästinas stärken.
DIE ARABISCHEN Regierungen, die bis jetzt nur
Lippenbekenntnisse gegenüber der palästinensischen Sache abgegeben
und keinen Finger bei der Schaffung des Staates gerührt haben –
müssen jetzt neu nachdenken.
In Tunesien erhob sich das Volk gegen eine
Diktatur, die genau wie alle anderen arabischen Diktaturen ist –
eine kleine korrupte Elite, die gleichgültig gegenüber den Wünschen
des Volkes ist – die offen oder bedeckt mit Israel kollaboriert.
Während der 13 Jahre, in denen sich Yassir
Arafat in Tunis aufhielt, besuchte ich ihn dort viele Male. Ich
wusste immer, dass hinter einer liberalen und attraktiven Fassade
ein harter und unterdrückerischer Polizeistaat lauert. Aber als
ich die tunesischen Männer mit einer Jasminblüte hinter dem Ohr
(genannt Shmum) auf den Straßen gehen sah, konnte ich mir nicht
vorstellen, dass ausgerechnet hier der erste arabische Volksaufstand
ausbrechen würde.
Nun ist es geschehen. In Tunesien. Dies ist ein
Weckruf an alle arabischen Länder, von Marokko bis Oman, dass
Diktaturen fallen werden und dass es ein Bemühen gibt, liberale und
demokratische Regime zu errichten. Und wenn dies nicht gelingt –
werden islamische Regime dies übernehmen.
Das ist die Schrift an der Wand. Die
augenblickliche israelische Regierung führt uns in eine Katastrophe.
Doch in der letzten Woche wurde diese Regierung sogar noch dadurch
gestärkt, dass Ehud Barak, der Napoleon in Taschenformat,
schließlich jeden Vorwand, zur sozial-demokratischen Linke zu
gehören, aufgab und eine deutlich rechte Partei, so etwas wie Likud
II, gründete, die ein loyaler Partner von Netanyahu und Lieberman
sein wird.
Braucht unser Land mit solchen Führern wirklich
noch Feinde?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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