Vergiftung Arafats
Uri Avnery, 7.7. 2012
FÜR MICH war es keine Überraschung. Vom aller ersten
Tag an war ich davon überzeugt, dass Yasser Arafat von Ariel Sharon
vergiftet worden ist. Ich schrieb sogar einige Male darüber.
Es war eine einfache, logische Schlussfolgerung.
Erstens fand eine gründliche medizinische
Untersuchung im französischen Militärkrankenhaus statt, wo er starb,
und man fand keine Ursache für seinen plötzlichen Kollaps und Tod.
Keine Spuren irgend einer lebensbedrohenden Krankheit wurden
gefunden.
Die von der israelischen Propagandamaschine
verbreiteten Gerüchte, Arafat habe AIDS , waren glatte
Lügen. Sie waren eine Fortsetzung der von derselben Maschine
verbreiteten Gerüchte, dass er schwul sei – alle waren ein Teil der
unerbittlichen Dämonisierung des palästinensischen Führers. Das lief
seit Jahrzehnten täglich so.
Wenn es keine offensichtliche Todesursache gibt, dann
muss es eine weniger offensichtliche geben.
Zweitens wissen wir jetzt, dass verschiedene
Geheimdienste Gifte besitzen, die keine Spuren hinterlassen. Dazu
gehören die CIA, der russische FSB (Nachfolger des KGB) und der
Mossad.
Drittens: es gab viele Gelegenheiten. Arafats
Sicherheitsvorkehrungen waren entschieden zu lasch. Er pflegte jeden
perfekten Ausländer zu umarmen, der sich selbst als Sympathisant der
palästinensischen Sache vorstellte und setzte ihn oft bei
Mahlzeiten direkt neben sich selbst.
Viertens: gab es eine Menge Leute, die ihn töten
wollten und die Mittel dafür hatten, es zu tun. Der offenkundigste
war unser Ministerpräsident Ariel Sharon. Er hat sogar 2004 darüber
gesprochen, dass Arafat keine „Lebensversicherung“ habe.
WAS BIS vor kurzem eine logische Wahrscheinlichkeit
war, ist nun Sicherheit geworden.
Eine Untersuchung seiner Sachen, die von Al-Jazeera
TV in Auftrag gegeben und von einem hoch geachteten
wissenschaftlichen Schweizer Institut durchgeführt und bestätigt
wurde, Arafat sei mit Polonium vergiftet worden, einer tödlich
wirkenden radioaktiven Substanz, die nicht aufgedeckt werden kann,
wenn man nicht speziell nach ihr sucht.
Zwei Jahre nach Arafats Tod wurde der russische
Dissident und frühere KGB/FSB-Offizier Alexander Litvinenko in
London von russischen Agenten ermordet, die dieses Gift verwendeten.
Die Ursache wurde durch Zufall von seinen Ärzten entdeckt. Er
brauchte drei Wochen zum Sterben.
Näher an Israel, in Amman, wurde der Hamasführer
Khaled Mash’al 1997 auf Befehl von Ministerpräsident Benjamin
Netanjahu vom Mossad beinahe getötet. Die Mittel waren ein Gift,
das innerhalb von Tagen tötet, wenn es mit der Haut in Kontakt
kommt. Der Anschlag misslang, und das Leben des Opfers gerettet, als
der Mossad durch ein Ultimatum von König Hussein gezwungen wurde,
rechtzeitig das Gegengift zu liefern.
Wenn es Arafats Witwe Suha gelingt, seine Leiche aus
dem Mausoleum in der Mukata in Ramallah, wo es zu einem nationalen
Symbol wurde, exhumieren zu lassen, dann wird man zweifellos das
Gift in seinem Körper finden.
ARAFATS MANGEL an angemessenen Sicherheitsregelungen
hat mich immer erstaunt. Die israelischen Ministerpräsidenten sind
zehnmal besser geschützt.
Ich machte ihm mehrfach Vorhaltungen. Er tat es mit
einem Achselzucken ab. In dieser Hinsicht war er ein Fatalist.
Nachdem sein Leben wunderbarerweise bei einer Flugzeugnotlandung in
der Libyschen Wüste gerettet worden war und das aller anderen um
ihn getötet, war er fest davon überzeugt, dass Allah ihn geschützt
habe.
( Auch wenn er der Kopf einer säkularen Bewegung mit
einem klaren säkularen Programm war, so war er doch ein
praktizierender sunnitischer Muslim, der zu den Gebetszeiten sein
Gebet verrichtete und keinen Alkohol trank. Doch hat er seinen
Mitarbeitern seine Frömmigkeit nicht aufgezwungen.)
Einmal wurde er in Ramallah in meiner Gegenwart
interviewt; der Journalist fragte ihn, ob er die Errichtung des
palästinensischen Staates noch zu seinen Lebzeiten erwarten würde.
Seine Antwort war: „ Wir beide, Uri Avnery und ich, werden dies noch
erleben.“ Er war so sicher darin.
ARIEL SHARONS Entschlossenheit, Arafat zu töten, war
wohl bekannt. Schon während der Belagerung von Beirut im 1.
Libanonkrieg war es kein Geheimnis, dass seine christlichen Agenten
Westbeirut nach seinem Aufenthaltsort durchkämmten. Zu Sharons
großer Enttäuschung fanden sie ihn nicht.
Sogar nach Oslo, als Arafat nach Palästina zurückkam,
hatte Sharon nicht aufgegeben. Als er Ministerpräsident wurde, wurde
meine Angst um Arafats Leben wieder akut. Als unsere Armee während
der „Operation Defensive Shield“ Ramallah angriff, brachen sie auch
in Arafats Compound, die Mukata’a, ein und kamen bis 10m vor seine
Räume. Ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen.
Zweimal gingen meine Freunde und ich während der
monatelangen Belagerung mehrere Tage zur Mukata’a, um als
menschlicher Schutzschild zu dienen. Als Sharon gefragt wurde, warum
er Arafat nicht töten würde, antwortete er, dass die Gegenwart von
Israelis dort, dies unmöglich mache.
Doch vermute ich, dass dies nur ein Vorwand war. Es
war die USA, die es ihm verboten hat. Die Amerikaner fürchteten zu
Recht, dass eine offensichtliche Ermordung in der ganzen arabischen
und muslimischen Welt einen anti-amerikanischen Wutausbruch
verursachen würde. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin sicher,
dass Sharon in Washington folgendes gesagt wurde: „Unter keinen
Umständen ist es dir erlaubt, ihn in einer Weise zu töten, dass die
Spur zu dir hinführt. Wenn du es machen kannst, ohne eine Spur zu
hinterlassen, dann mach es.“
(Genau wie der US-Außenminister 1982 in ähnlicher
Weise Sharon sagte, dass es ihm unter keinen Umständen erlaubt sei,
den Libanon anzugreifen, wenn es nicht eine klare und international
anerkannte Provokation gebe. Sie wurde prompt geliefert.
Durch einen unheimlichen Zufall hatte Sharon bald
nach Arafats Tod selbst einen Schlaganfall und lebt seitdem im
Koma.)
DER TAG, an dem Al-Jazeeras Schlussfolgerung in
dieser Woche veröffentlicht wurde, ist zufällig der 30. Jahrestag
meines ersten Treffens mit Arafat, das für ihn das erste Treffen mit
einem Israeli war.
Es war auf dem Höhepunkt der Schlacht um Beirut. Um
zu ihm zu gelangen, musste ich die Linien von vier Kriegsführenden
überqueren – die der israelischen Armee, die der
christlich-libanesischen Phalangemiliz, die der libanesischen Armee
und die der PLO-Streitkräfte.
Ich sprach zwei Stunden lang mit Arafat. Dort,
inmitten eines Krieges, in dem er jeden Moment seinen Tod
erwarteten konnte, sprachen wir über einen
israelisch-palästinensischen Frieden und sogar über eine Föderation
von Israel und Palästina, der sich Jordanien vielleicht noch
anschließen könnte.
Das Treffen, das von Arafats Büro verkündet wurde,
war eine weltweite Sensation. Mein Bericht über dieses Gespräch
wurde in mehreren führenden Zeitungen veröffentlicht.
Auf meinem Weg nach Hause hörte ich im Radio, dass
vier Kabinettsmitglieder verlangten, mich wegen Verrats vor Gericht
zu bringen. Die Regierung von Menachem Begin instruierte den
Staatsanwalt , eine strafrechtliche Untersuchung zu eröffnen. Doch
nach mehreren Wochen entschied der Staatsanwalt, ich hätte kein
Gesetz gebrochen. (Das Gesetz wurde kurz danach selbstverständlich
verändert.)
BEI DEN vielen Treffen, die ich seitdem mit Arafat
hatte, wurde ich vollkommen davon überzeugt, dass er ein wirklicher
und vertrauenswürdiger Partner für den Frieden sei.
Langsam begriff ich, wie dieser Vater der modernen
palästinensischen Befreiungsbewegung, von Israel und den USA als
Erz-Terrorist betrachtet, der Führer der palästinensischen
Friedensbemühungen wurde. Wenige Persönlichkeiten hatten in ihrer
Lebenszeit das Privileg, zwei auf einander folgende Revolutionen
anzuführen.
Als Arafat seine Arbeit begann, war Palästina von der
Landkarte und aus dem Weltbewusstsein verschwunden. Indem er den
„bewaffneten Kampf“ ( alias „Terrorismus“) benützte, gelang es ihm,
Palästina zurück auf die Weltagenda zu setzen.
Sein Orientierungswandel geschah direkt nach dem
Krieg von 1973. Man erinnere sich: dieser Krieg begann mit
überwältigenden arabischen Überraschungserfolgen und endete mit
einer
Schlappe der ägyptischen und syrischen Armeen.
Arafat, von Beruf Ingenieur, zog die logische Konsequenz: wenn die
Araber eine bewaffnete Konfrontation selbst unter solch idealen
Umständen nicht gewinnen konnten, müssten andere Mittel und Wege
gefunden werden.
Seine Entscheidung, mit Friedensverhandlungen mit
Israel zu beginnen, ging vollkommen gegen den Strich der
palästinensischen Nationalbewegung, die Israel als fremden
Eindringling betrachtete. Arafat brauchte volle 15 Jahre, um sein
eigenes Volk zu überzeugen, diese Linie zu akzeptieren, indem er all
seine List, taktische Geschicklichkeit und Überzeugungskraft
gebrauchte. Bei dem Treffen des palästinensischen Exilparlaments,
des Nationalrates 1988, wurde sein Konzept angenommen: einen
palästinensischen Staat Seite an Seite mit Israel in einem Teil des
Landes zu gründen. Dieser Staat mit seiner Hauptstadt Ostjerusalem
und seinen Grenzen, die sich seitdem auf die Grüne Linie gründen,
sind das feste und unveränderliche Ziel, das Vermächtnis Arafats an
seine Nachfolger.
Nicht durch Zufall begannen meine Kontakte mit
Arafat zur selben Zeit: 1974. Zunächst waren sie indirekt über
seine Assistenten und dann direkt mit ihm. Ich half ihm den Weg
vorzubereiten, um Kontakt mit der israelischen Führung und besonders
mit Yitzhak Rabin aufzunehmen. Dies führte 1993 zum Oslo-Abkommen –
das durch den Mord an Rabin vernichtet wurde.
Als er gefragt wurde, ob er einen israelischen Freund
habe, nannte Arafat mich. Dies gründete sich auf seine Überzeugung,
dass ich mein Leben riskiert hatte, als ich ihn in Beirut aufsuchte.
Was mich betraf, so war ich dankbar für sein Vertrauen in mich, als
er mich dort traf – zu einem Zeitpunkt, als Hunderte von Sharons
Agenten ihn suchten.
Aber abgesehen von persönlichen Beziehungen, war
Arafat der Mann, der in der Lage und Willens gewesen wäre, mit
Israel Frieden zu machen – und was noch wichtiger ist: sein Volk –
einschließlich der Islamisten - dahin zu bringen, dies zu
akzeptieren. Dies hätte dem Siedlungsunternehmen ein Ende gesetzt.
Genau deshalb wurde er vergiftet.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)