Das Engelgesicht
Uri Avnery, 21.Dezember 2013
Wenn man ihr Gesicht im Fernsehen sieht, ist
man von ihrer Schönheit sehr beeindruckt. Es ist das Gesicht
eines Engels, rein und unschuldig.
Dann öffnet sie ihren Mund, und was aus ihm
kommt ist widerlich und hässlich: die rassistische
Botschaft der extremen Rechten. Es ist, als sähe man einen
Cherub mit geöffneten Lippen, die die Zähne eines Vampirs
enthüllen.
Ayelet Shaked mag die Schönheitskönigin der
gegenwärtigen Knesset sein. Ihr Name ist verführerisch:
Ayelet bedeutet Gazelle, Shaked Mandel. Aber sie ist die
Urheberin einiger der haarsträubendsten Initiativen dieser
Knesset. Sie ist auch die Vorsitzende der „Jüdisches
Heim-Fraktion“ von Naftali Bennett, der
nationalistisch-religiösen Partei der Siedler, das radikal
rechteste Partei der jetzigen Regierungskoalition.
Ihre letzte Heldentat ist eine Gesetzvorlage,
über die jetzt gerade in der Knesset diskutiert wird; es
geht darum , eine riesige Steuer auf Spenden zu legen, die
von ausländischen „politischen Entitäten“ an israelische
Menschenrechtsorganisationen gegeben werden, die einen
Boykott Israels (oder nur der Siedlungen) befürworten, oder
die Anklage israelischer Offiziere, wegen Kriegsverbrechen
vor internationalen Gerichtshöfen belangt werden und
anderes
All dies während immense Summen Geld aus dem
Ausland zu den Siedlungen und ihren Unterstützern fließen.
Ein großer Teil dieser Summen wird praktisch von der
US-Regierung gegeben, die ihren Abzug vom der
US-Einkommensteuer als philanthropisch anerkennen. Vieles
kommt von amerikanisch jüdischen Milliardären von
zweifelhaftem Ruf.
IN IRGENDEINER Weise ist diese Gazelle und
ihr Gesicht ein internationales Phänomen. In ganz Europa
blühen extrem faschistische Parteien. Kleine verachtete
Randgruppen blühen plötzlich zu großen Parteien auf mit
einer nationalen Wirkung: Von Holland nach Griechenland,
von Frankreich nach Russland propagieren diese Parteien
eine Mischung von Supernationalismus, Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, Antisemitismus und Hass
gegen Immigranten. Ein tödliches Hexengebräu.
Die Erklärung scheint einfach zu sein.
Überall hat die wirtschaftliche Krise die Leute hart
angefasst. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Junge Leute finden
keinen Job. Die Opfer schauen sich nach einem Sündenbock um,
dem gegenüber sie sich abreagieren können. Sie wählen den
Fremden, die Minderheit, die Hilflosen. So ist es seit
alters her gewesen. So wurde ein gescheiterter Maler mit
Namen Adolf Hitler zu einer historischen Figur.
Für Politiker ohne Vision oder Werte ist dies
der leichteste Weg, um zu Erfolg und Ansehen zu kommen. Es
ist auch der verabscheuungswürdigste.
Ein österreichischer Sozialist sagte vor gut
100 Jahren, „der Antisemitismus sei der „Sozialismus der
dummen Kerls“.
Sozialreformer mögen glauben, die ganze Sache
sei von Milliardären der Welt angestiftet, die sich auf
immer größere Teile der Aktivposten in ihren Händen
konzentrieren. Die Kluft zwischen dem oberen einem Prozent
und den anderen wächst, und die Nutznießer finanzieren
die vom radikalen rechten Flügel, um den Zorn der Massen in
andere Richtungen zu lenken. Das ist logisch.
Doch meiner Meinung nach ist die ökonomische
Erklärung zu einfach. Wenn dasselbe Phänomen gleichzeitig in
so verschiedenen Ländern auftaucht, muss es tiefere Gründe
geben. Da müssen einige Elemente des Zeitgeists mitspielen.
Ich denke, dass wir Zeugen eines
grundlegenden kulturellen Zusammenbruchs, einer Krise von
geltenden Werten sind. Diese Art von Aufruhr begleitet
gewöhnlich soziale Veränderungen, oft von ökonomischen und
technologischen Durchbrüchen verursacht. Es ist ein Zeichen
sozialer Unstimmigkeit und Desorientierung. Am Vorabend der
Nazirevolte schrieb der deutsche Autor Hans Fallada ein
enorm erfolgreiches Buch: „Kleiner Mann, was nun?“ Und
drückte die Verzweiflung der neu enterbten Massen aus.
Viele kleine Männer und Frauen in aller Welt sind jetzt in
derselben Situation.
So auch in Israel.
Letzte Woche sahen wir ein Spektakel, das
unsere Großeltern bis ins Mark erschüttert hätte.
Etwa 300 Schwarze liefen, viele von ihnen
barfuß in der beißenden Kälte eines außer-ordentlich
strengen Winters viele Kilometer auf einer Hauptstraße. Sie
waren Flüchtlinge, denen es gelungen war, aus dem Sudan und
aus Eritrea zu fliehen, den ganzen Weg durch Ägypten und den
Sinai zu gehen, ja die Grenze nach Israel zu überschreiten.
(Seitdem ist eine Mauer entlang der Sinai-Grenze errichtet
worden – und dieser Flüchtlingsstrom ist praktisch zum
Halten gekommen.)
Es sind nun etwa 60 000 solch afrikanischer
Flüchtlinge in Israel. Tausende von ihnen sind
zusammengepfercht in den heruntergekommensten Slums von Tel
Aviv und andern Städten und verursachen so ein tiefes
Ressentiment unter den Einheimischen. Das hat einen
fruchtbaren Boden bewirkt, auf dem Rassismus ausgebrütet
wird. Der hier erfolgreichste Agitator ist ein anderes
schönes Mitglied der Knesset, Miri Regev aus der
Likud-Partei, eine frühere Armeesprecherin, die die
Bewohner und das Land auf die primitivste und vulgärste
Weise aufhetzt.
Nach einer Lösung des Problems ausschauend
hat die Regierung, ein großes Gefängnis in der Mitte der
trostlosen Negev-Wüste gebaut - - unerträglich heiß im
Sommer, unerträglich kalt im Winter. Tausende schwarzer
Flüchtlinge wurden dort ohne Anklage für drei Jahre
zusammengepfercht. Einige nannten dies schon ein
Konzentrationslager.
Menschenrechtsorganisationen – dieselben wie
oben – wandten sich an den Obersten Gerichtshof, und die
Gefangenschaft der Flüchtlinge wurde als nicht
verfassungsmäßig erklärt. Die Regierung dachte noch einmal
nach (falls denken das richtige Wort ist) und entschloss
sich, die Entscheidung zu umgehen. Nicht weit vom verbotenen
Gefängnis wurde ein neues Gefängnis gebaut, und die
Flüchtlinge wurden dorthin gesteckt – ein Jahr für jeden.
Nein, kein Gefängnis, etwas, das man „offene
Wohnstätte“ nannte. Wir sind gut im Benennen von Dingen. Wir
nennen dies „Wortwäsche“.
Aus diesem „offenen“ Gefängnis sind die
kühnen 300 heraus gewandert und machten sich auf den Weg
nach Jerusalem, etwa 150km, um vor der Knesset zu
demonstrieren. Sie brauchten drei Tage. Sie wurden von ein
paar meist weiblichen mutigen israelischen
Menschenrechtsaktivisten begleitet. Ihre hellen Gesichter
fielen zwischen all den schwarzen Köpfen auf.
Vor der Knesset wurden sie von speziell für
Aufstände trainierter Polizei brutal zusammen geschlagen.
Jeder Demonstrant wurde von einem halben Dutzend Bullen
umgeben und mit Gewalt in einen Bus geworfen, der sie zum
alten nicht offenen Gefängnis brachte.
ICH VERWEILE bei diesem Vorfall länger, weil
ich mich zu tiefst schäme.
Rassismus ist nichts Neues in Israel. Weit
davon entfernt. Aber sobald wir unsere „Gazellen“ des
Rassismus‘ anklagen, antworten sie, dies sei pure
Verleumdung. Es gibt zwischen uns und den Palästinensern
einen Konflikt, der strikte Sicherheitsmaßnahme benötigt.
Dies hat nichts mit Rassismus zu tun. Gott bewahre.
Dies ist ein sehr dubioses Argument, aber
wenigstens hat es einige Plausibilität.
Aber wir haben keinen nationalen Konflikt mit
den Flüchtlingen. Er hat nichts mit Sicherheitsgründen zu
tun.
Es ist Rassismus - ganz einfach.
Stellen wir uns vor, dass plötzlich in einer
entfernten Ecke zwischen Eritrea und dem Sudan ein jüdischer
Stamm entdeckt worden wäre. Seine 60 000 Mitglieder hätten
nach Israel kommen wollen.
Das Land befände sich in einem Delirium. Der
rote Teppich würde am Ben-Gurion-Flughafen ausgerollt
werden. Beide, der Präsident und der Ministerpräsident wären
dort mit ihren banalsten Reden. Sie, die Flüchtlinge würden
Subventionen, freie Wohnung und Arbeit bekommen.
Es wäre also weder ein wirtschaftliches
Problem, noch eine Frage der Absorption, der Wohnung oder
der Beschäftigung. Es wäre nicht einmal eine Frage der
Hautfarbe. Schwarze Juden aus Äthiopien sind jederzeit
willkommen.
Es ist einfach: Die Flüchtlinge SIND NICHT
JÜDISCH.
Kein Platz hier für Mitglieder eines anderen
Volkes. Sie würden uns unsere Arbeitsstellen wegnehmen. Sie
würden die demographische Balance verändern. Dies ist
schließlich ein jüdischer Staat!
IST ER es wirklich
Wenn dies ein jüdischer Staat wäre, würde er
auf diese Weise Flüchtlinge behandeln?
Hundert Erinnerungen kommen uns ins
Gedächtnis. Von Juden, die von einem Land zum anderen
verfolgt wurden: von den mächtigen USA, die jüdische
Flüchtlinge, die sich vor der Naziverfolgung auf einem
deutschen Schiff in Sicherheit bringen wollten,
zurückschickten. Später wurden sie in den Todeslagern
umgebracht. Oder die Schweiz, die Juden, die den KZs
entkommen waren und es bis an ihre Grenze geschafft hatten,
zurückstieß.
Man erinnere sich auch an den Filmtitel „Das
Boot ist voll“?
Wenn dies wirklich ein jüdischer Staat wäre,
würde er versuchen, afrikanische Staatschefs zu bestechen,
um diese Flüchtlinge, ohne zu fragen, was mit ihnen dort
geschehen würde, aufzunehmen? Für einen Flüchtling aus der
Hölle von Darfur, wäre Zimbabwe genau so Ausland wie
Neuseeland. (wenn man nicht die Theorie unterschreibt, dass
„ alle Schwarzen gleich sind!“
Wenn dies wirklich ein jüdischer Staat wäre,
würde der Minister für Inneres, ein Likud-Funktionär, seine
Gruppe von Schlägertypen in die Straßen senden, um dort
die Flüchtlinge nicht zu jagen?
Nein, das ist kein jüdischer Staat. Die Bibel
befiehlt uns, den Fremdling in unserer Mitte so zu
behandeln, wie wir behandelt werden wollen. „Die Fremdlinge
sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der
Fremdlinge Herz, weil auch ihr Fremdlinge in Ägyptenland
gewesen seid“ (Exodus 23,9). Amen.
Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)