Eine Linie im Sand
Uri Avnery, 7.11.09
MAHMOUD ABBAS hat die Nase gestrichen voll. Vorgestern verkündete
er, dass er seine Kandidatur bei den kommenden
Präsidentschaftswahlen zurückziehen werde.
Ich verstehe ihn.
Er
fühlt sich betrogen. Und der Betrüger ist Barack Obama.
ALS OBAMA vor einem Jahr gewählt wurde, weckte er große Hoffnungen
in der muslimischen Welt, beim palästinensischen Volk wie auch im
israelischen Friedenslager.
Endlich ein amerikanischer Präsident, der versteht, dass er den
israelisch-palästinensischen Konflikt beenden muss, nicht nur um der
beiden Völker willen, sondern vor allem aufgrund der nationalen
Interessen der USA. Dieser Konflikt ist größtenteils verantwortlich
für die Welle anti-amerikanischen Hasses, die die muslimischen
Massen von Ozean zu Ozean überrollt.
Jeder glaubte, eine neue Ära hätte begonnen. Anstelle eines
Kampfes der Kulturen, der Achse des Bösen und all den
anderen idiotischen, aber verhängnisvollen Slogans aus der Bush-Ära
endlich ein neuer Weg der Verständigung und Versöhnung,
gegenseitigen Respekts und praktischer Lösungen.
Keiner erwartete, Obama werde die bedingungslose pro-israelische
Haltung der USA in eine einseitige pro-palästinensische Position
umwandeln. Aber jeder dachte, die USA würden ab jetzt einen
ausgeglicheneren Weg beschreiten und beide Seiten auf eine
Zwei-Staatenlösung hin drängen. Und noch wichtiger: der ständige
Strom von heuchlerischem und frömmelndem Geplapper würde von einer
entschlossenen, kraftvollen, nicht provokativen, aber zielstrebigen
Politik ersetzt werden.
So
hoch wie die Erwartungen damals waren, so tief ist die
Enttäuschung jetzt. Nichts von alledem hat sich erfüllt. Es ist
sogar noch schlimmer: die Obama-Regierung zeigte durch ihre Aktionen
und Unterlassungen, dass sie wirklich nichts anderes ist als die
Regierung von George W.Bush.
VOM ERSTEN Augenblick an war klar, dass der entscheidende Test mit
der Schlacht um die Siedlungen kommen würde.
Es
könnte so aussehen, als handele es sich nur um Nebensächlichkeiten.
Wenn Frieden innerhalb von zwei Jahren erreicht wird - wie Obamas
Leute es uns versichern - warum sich dann über ein paar neue Häuser
in den Siedlungen aufregen, die sowieso aufgelöst werden? Da werden
dann ein paar tausend Siedler mehr umgesiedelt werden müssen. Na
und ?
Aber das Einfrieren des Siedlungsbaus ist bedeutsam und dies weit
über die damit zusammenhängenden praktischen Konsequenzen hinaus.
Ich möchte noch einmal auf die Metapher des palästinensischen
Anwalts zurückkommen: „Wir verhandeln über die Teilung einer Pizza,
und unterdessen isst Israel die Pizza auf.“
Das amerikanische Bestehen auf dem Einfrieren des Siedlungsbaus in
der ganzen Westbank und in Ost-Jerusalem wurde zum Signal von Obamas
neuer Politik. Wie in einem Western-Film zog Obama eine Linie in den
Sand und erklärte: bis hierher und nicht weiter! Ein wirklicher
Cowboy kann sich von solch einer Linie nicht zurückziehen – ohne
als feige angesehen zu werden.
Genau das ist es, was geschehen ist. Obama hat die Linie , die er
selbst in den Sand gezogen hat, gelöscht. Er hat die eindeutige
Forderung eines totalen Einfrierens aufgegeben. Binyamin Netanyahu
und seine Leute verkündeten stolz – und laut – dass ein Kompromiss
erreicht worden sei – Gott bewahre, nicht mit den Palästinensern
(wer sind sie schon ?), sondern mit den Amerikanern. Sie haben
Netanyahu erlaubt, hier und dort zu bauen – um des „normalen Lebens“
willen und wegen des „natürlichen Wachstums“, um „im Bau befindliche
Projekte zu beenden“ und unter anderen durchschaubaren Vorwänden
ähnlicher Art. In Jerusalem, der „Ungeteilten Ewigen Hauptstadt“
Israels, wird es natürlich überhaupt keine Beschränkungen geben.
Kurz gesagt, die Siedlungstätigkeiten gehen in vollem Schwung
weiter.
Um
der Beleidigung noch eine Kränkung hinzuzufügen, machte sich
Hillary Clinton persönlich nach Jerusalem auf, um Netanyahu mit
salbungsvollen Schmeicheleien zu überschütten. Es sei noch nie
vorher solch ein Opfer für den Frieden gebracht worden, katzbuckelte
sie.
Das war sogar für Abbas zu viel, dessen Geduld und
Selbstbeherrschung legendär sind. Er zog die Konsequenzen.
„UM ZU verstehen, muss alles vergeben werden“, sagt der Franzose.
Aber in diesem Fall ist einiges, schwer zu vergeben.
Sicher kann man Obama verstehen. Er steckt mitten in einem
politischen Überlebenskampf an der sozialen Front, die Schlacht um
die Krankenversicherung; die Arbeitslosigkeit wächst weiter; die
Nachrichten aus dem Irak sind schlecht; Afghanistan wird schnell zu
einem zweiten Vietnam. Noch vor der Preisverleihungsfeier sieht der
Friedensnobelpreis fast wie ein Witz aus.
Vielleicht hat er das Gefühl, die Zeit sei noch nicht reif, um die
allmächtige Pro-Israel-Lobby zu provozieren. Er ist Politiker, und
alle Politik ist die Kunst des Möglichen. Es wäre möglich, ihm dies
zu vergeben, wenn er offen zugeben würde, dass er nicht in der Lage
sei, seine guten Absichten in dieser Region zum augenblicklichen
Zeitpunkt zu verwirklichen.
Aber es ist unmöglich zu vergeben, was sich jetzt tatsächlich
abspielt. Nicht die skandalöse Behandlung des Goldstone-Berichtes
seitens der Amerikaner; nicht das ekelhafte Verhalten von Hillary in
Jerusalem; nicht die verlogene Rede über die „Zurückhaltung“ bei den
Siedlungsaktivitäten. Um so mehr, als dies mit völliger
Nichtbeachtung der Palästinenser vor sich geht, als wären sie nur
Statisten in einer Oper.
Obama hat nicht nur seinen Anspruch eines vollkommenen Wandels der
US-Politik aufgegeben; er setzt tatsächlich die Politik von Bush
fort. Und da Obama vorgibt, das Gegenteil von Bush zu sein, ist
dies doppelter Verrat.
Abbas reagierte mit der einzigen Waffe, die ihm noch zur Verfügung
steht: der Ankündigung, er wolle die politische Bühne verlassen.
DIE AMERIKANISCHE Politik im „weiteren Nahen Osten“ kann mit einem
Rezept in einem Kochbuch verglichen werden: „Man nehme so und soviel
Fett, einige Eier, mische mit Zucker und Mehl …“
Im
realen Leben: Man nehme eine angesehene lokalen Persönlichkeit, gebe
ihr die Abzeichen der Herrschaft, führe „freie Wahlen“ durch,
trainiere seine Sicherheitskräfte und mache ihn zu einem
Subunternehmer.
Dies ist nicht das Originalrezept. Viele koloniale und
Besatzungsregime haben es in der Vergangenheit benützt. Was bei den
Amerikanern so besonders ist, ist die Anwendung von „demokratischen“
Requisiten für das Schauspiel. Selbst wenn eine zynische Welt kein
Wort davon glaubt, muss man an die Zuschauer zu Hause denken.
So
wurde es in der Vergangenheit in Vietnam gemacht. Auf diese Weise
wurde Hamid Karzai in Afghanistan und Nouri Maliki im Irak gewählt.
So wurde es mit Fouad Siniora im Libanon gehalten. So sollte
Muhammad Dahlan im Gazastreifen installiert werden (im
entscheidenden Augenblick kam ihm aber die Hamas zuvor). In den
meisten arabischen Ländern ist dieses Rezept nicht nötig, da die
etablierten Regime den Erfordernissen genügen.
Abbas sollte diese Aufgabe erfüllen. Er trägt den Titel Präsident,
er wurde in fairen Wahlen gewählt, ein amerikanischer General
trainiert seine Sicherheitskräfte. In den folgenden
parlamentarischen Wahlen wurde seine Partei zwar vernichtend
geschlagen, doch die Amerikaner ignorierten einfach die Ergebnisse
und die Israelis verhafteten die unerwünschten Parlamentarier. Die
Show muss weitergehen.
ABER ABBAS war nicht damit einverstanden, nur ein Ei im
amerikanischen Rezept zu sein.
Ich traf ihn vor 26 Jahren das erste Mal. Nach dem ersten
Libanonkrieg, als wir (Matti Peled, Ya’acov Amon und ich) nach Tunis
gingen, um Arafat zu treffen, sahen wir zuerst Abbas. So war es
jedes Mal, wenn wir später nach Tunis kamen. Abbas war der Referent
für Frieden mit Israel.
Gespräche mit ihm kamen immer sofort aufs Wesentliche. Wir wurden
keine Freunde wie mit Arafat. Die beiden waren von sehr
verschiedenem Temperament. Arafat war extravertiert, eine herzliche
Person, die persönliche Gesten und körperlichen Kontakt mit den
Leuten liebte, mit denen er sprach. Abbas ist verschlossen,
introvertiert und hält die Leute lieber auf Distanz.
Was den politischen Standpunkt betrifft, gibt es keinen wirklichen
Unterschied. Abbas führt die von Arafat 1974 gelegte Linie fort:
ein palästinensischer Staat innerhalb der Grenzen von vor 1967 mit
Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt. Der Unterschied liegt in der
Methode. Arafat glaubte an seine Fähigkeit, die israelische
Öffentlichkeit zu beeinflussen. Abbas beschränkt sich darauf, mit
den Regierenden zu verhandeln. Arafat glaubte, er müsse in sein
Arsenal alle Mittel des Kampfes aufnehmen: Verhandlungen,
diplomatische Aktivitäten, bewaffneten Kampf, PR, trickreiche
Manöver. Abbas setzt alles auf eine Karte: Friedensverhandlungen.
Abbas will kein palästinensischer Marschall Petain sein. Er will
nicht der Chef eines lokalen Vichy-Regimes werden. Er weiß, dass er
auf einem schlüpfrigen Abhang steht und hat entschieden,
aufzuhören, bevor es zu spät ist.
Ich denke, dass seine Absicht, die Bühne zu verlassen, ernst ist.
Ich glaube, seine Beteuerung ist kein Verhandlungstrick. Er könnte
seine Entscheidung ändern, aber nur, wenn er davon überzeugt ist,
dass die Regeln des Spieles sich verändert haben.
OBAMA WAR vollkommen überrascht. So etwas war noch nie geschehen:
ein amerikanischer Kunde, der total abhängig von Washington ist,
rebelliert plötzlich und stellt Bedingungen. Es ist genau das, was
Abbas jetzt getan hat, nachdem er erkannt hat, dass Obama nicht in
der Lage ist, die wichtigste Grundbedingung zu erfüllen: das
Einfrieren des Siedlungsbaus.
Vom amerikanischen Standpunkt aus gibt es keinen Ersatz. Tatsächlich
gibt es einige gute und glaubwürdige Leute in der palästinensischen
Führung als auch Korrupte und Kollaborateure. Aber es gibt keinen,
der in der Lage ist, die ganze Westbankbevölkerung um sich zu
scharen. Der erste Name, der einem einfällt, ist immer Marwan
Barghouti, aber er sitzt im Gefängnis, und die israelische Regierung
hat schon angekündigt, dass sie ihn nicht entlassen will, selbst
wenn er gewählt werden würde. Es ist auch keineswegs klar, ob er
unter den augenblicklichen Umständen bereit ist, die ihm
zugedachte Rolle zu spielen. Ohne Abbas fällt das ganze
amerikanische Rezept unter den Tisch .
Auch Netanyahu war äußerst überrascht. Er benötigt inhaltslose,
vorgetäuschte Verhandlungen als Tarnung für die Verschärfung der
Besatzung und zur Vergrößerung der Siedlungen. Ein
„Friedensprozess“ als Ersatz für Frieden. Mit wem soll er
„verhandeln“, wenn es keinen anerkannten palästinensischen Führer
gibt?
In
Jerusalem gibt es noch Hoffnung, dass Abbas’ Ankündigung nur ein
Trick sei, und dass es genügen würde, ihm ein paar Brosamen
hinzuwerfen, um seine Meinung zu verändern. Anscheinend kennen sie
den Mann nicht richtig. Seine Selbstachtung wird ihm nicht erlauben,
den Schritt rückgängig zu machen, wenn Obama ihm nicht ein
ernsthaftes politisches Angebot macht .
Von Abbas Standpunkt aus ist die Ankündigung seines Rückzugs die
Waffe des Jüngsten Gerichtes. Sie kann nicht zweimal benützt werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs/ Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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