Eine teure Rede
Uri Avnery,
28.2.15
WINSTON CHURCHILL sagte einmal, dass Demokratie das schlechteste
politische System sei, das außer allen anderen Systemen, die von
Zeit zu Zeit versucht worden seien.
Jeder, der im politischen Leben involviert ist, weiß, dass dies
eine britische Untertreibung ist.
Churchill sagte auch, dass das beste Argument gegen Demokratie ein
Gespräch von fünf Minuten mit einem durchschnittlichen Wähler sei.
Wie wahr.
Ich war Zeuge von 20 Wahlkämpfen für die Knesset. In fünf von ihnen
war ich ein Kandidat, in drei von ihnen wurde ich gewählt.
Als Kind war ich Zeuge von drei Wahlkämpfen während der letzten Tage
der Weimarer Republik und einer (der letzten mehr oder weniger
demokratischen) Wahl, nachdem die Nazis zur Macht gekommen waren
(Die Deutschen jener Zeit waren sehr gut in grafischer Propaganda,
in politischer wie kommerzieller. Nach mehr als 80 Jahren erinnere
mich gut an einige ihrer Wahlplakate.)
Wahlen sind eine Zeit großer Aufregung. Die Straßen sind mit
Propaganda gepflastert, die Politiker sind heiser, manchmal brechen
gewaltsame Zusammenstöße aus.
Nicht jetzt. Nicht hier. 17 Tage vor den Wahlen herrscht eine
unheimliche Stille. Ein Ausländer, der jetzt nach Israel kommt,
würde nicht bemerken, dass hier bald eine Wahl stattfinden wird. Es
gibt auf den Straßen kaum Wahlplakate. Die Artikel in den Zeitungen
befassen sich mit vielen anderen Themen. Im Fernsehen schreien sich
die Leute wie üblich an. Keine mitreißenden Reden. Keine
Massenveranstaltungen.
JEDER WEISS, dass diese Wahl sehr entscheidend, viel entscheidender
als sonst ist.
Es mag die letzte Schlacht für die Zukunft Israels sein – zwischen
den Zeloten von Groß-Israel und den Unterstützern eines liberalen
Staates. Zwischen einem Mini-Empire, das über ein anderes Volk
herrscht und dieses unterdrückt, und einer dezenten Demokratie.
Zwischen weiteren Siedlungsbauten und einer ernsthaften Suchen nach
Frieden. Zwischen dem, was hier „schweinischer Kapitalismus“ genannt
wird, und einem Wohlfahrtsstaat.
Kurz gesagt, zwischen zwei sehr verschiedenen Arten von Israel.
Was wird über diese schicksalhafte Wahl gesagt? Nichts.
Das Wort „Frieden“ – auf Hebräisch Schalom – wird überhaupt nicht
erwähnt. Um Himmels willen. Es wird als politisches Gift angesehen.
Wie wir auf Hebräisch sagen: „Derjenige, der seine Seele retten
will, muss Abstand davon nehmen.“
All die „professionellen Ratgeber“, von denen dieses Land wimmelt,
warnen ihre Mandanten, es niemals auszusprechen. „Sagt „politisches
Abkommen“, wenn ihr müsst. Aber um Gottes Willen, erwähnt den
Frieden nicht!“
Dasselbe gilt für Besatzung, Siedlungen, Transfer (von Bevölkerung)
und Ähnliches. Bleibt mir vom Leib damit. Die Wähler mögen vermuten,
dass man eine Meinung hat. Vermeidet es wie die Pest.
Der israelische Wohlfahrtsstaat, einst von vielen Ländern beneidet
(Man erinnere sich an die Kibbuzim?) ist auseinander gefallen. Alle
unsere sozialen Dienstleistungen sind zerfallen. Das Geld geht in
die große Armee, groß genug für eine mittelgroße Macht. Schlägt
jemand vor, das Militär drastisch zu reduzieren? Natürlich nicht.
Was denn, steckt ihr das Messer in den Rücken unserer tapferen
Soldaten? Öffnet unsern vielen Feinden die Tore? Warum, das ist
Verrat!
Worüber reden unsere Politiker und die Medien? Was regt die
öffentliche Meinung auf? Was kommt in die Schlagzeilen und in den
Abendnachrichten?
Nur die wirklich ernsthaften Sachen. Steckt die Frau des
Ministerpräsidenten das Pfandgeld für zurückgegebene Flaschen in
die eigene Tasche? Zeigt die offizielle Residenz des
Ministerpräsidenten, Zeichen der Vernachlässigung? Nahm Sara
Netanjahu öffentliche Gelder, um einen privaten Friseurraum in der
Residenz einzurichten?
WO IST die Haupt-Oppositionspartei, das zionistische Lager (auch als
Labor-Partei bekannt)?
Die Partei leidet unter großer Benachteiligung: ihr Führer ist der
große Abwesende dieser Wahl.
Yitzhak Herzog hat keine gebieterische Präsenz. Von schmächtiger
Gestalt, eher wie ein Junge, denn als hartgesottener Krieger, mit
dünner, hoher Stimme gleicht er nicht einem natürlichen Führer.
Karikaturisten haben es schwer mit ihm. Ihm fehlen charakteristische
Merkmale, an denen er leicht zu erkennen ist.
Er erinnert mich an Clement Attlee. Als die britische Labor-Partei
sich zwischen zwei auffälligen Kandidaten entscheiden musste,
wählten sie Attlee als Kompromisslösung.
Auch er hatte keine imponierenden Züge (noch einmal Churchill: ein
leerer PKW näherte sich und Major Attlee stieg aus). Die Welt
schnappte nach Luft, als die Britten vor dem Ende des 2. Weltkrieges
Churchill absetzten und Attlee wählten. Es stellte sich aber heraus,
dass er ein sehr guter Ministerpräsident war. Er ging beizeiten aus
Indien (und Palästina) hinaus, baute den Wohlfahrtsstaat auf und
vieles mehr.
Herzog begann sehr gut. Indem er eine gemeinsame Wahlliste mit Zipi
Livni aufstellte, schuf er einen Impuls und stellte die sterbende
Labor-Partei wieder auf ihre Füße. Er adoptierte für die neue Liste
einen populären Namen. Er zeigte, dass er Entscheidungen treffen
konnte. Und da blieb er stehen.
Um das zionistische Lager wurde es still. Interne Querelen lähmten
die Wahlmannschaft.
(Ich veröffentliche in Haaretz zwei Artikel, in denen ich zu einer
gemeinsamen Liste des zionistischen Lagers mit Meretz und Yair
Lapids Partei aufrief. Dies hätte die Linke und die Mitte
ausbalanciert. Dies hätte einen aufweckenden, neuen Impuls gegeben.
Aber die Initiative konnte nur von Herzog kommen. Er ignorierte
dies. Auch Meretz und Lapid. Ich hoffe, sie werden dies nicht
bedauern.)
Nun schwankt Meretz nahe der Wahlschwelle und Lapid erholt sich nur
langsam von seinem tiefen Fall bei den Umfragen. Er verlässt sich
hauptsächlich auf sein gutes Aussehens.
Trotz allem laufen nun Likud und das zionistische Lager Kopf an
Kopf. Die Umfragen geben jedem 23 Sitze (von 120), sagen ein
Zielfoto voraus und überlassen die historische Entscheidung einer
Anzahl kleiner und winziger Parteien.
DAS EINZIGE, das eine Spielwende bringen könnte, ist die
bevorstehende Rede von Benjamin Netanjahu vor den beiden Häusern des
Kongresses.
Es scheint, dass Netanjahu all seine Hoffnungen an dieses Ereignis
knüpft. Und nicht ohne Grund.
Alle israelischen TV-Stationen werden dieses Begebenheit live
senden. Es wird ihn im besten Lichte zeigen. Der große Staatsmann,
der sich an das größte Parlament der Welt wendet und um die bloße
Existenz Israels plädiert.
Netanjahu ist eine vollkommene TV-Persönlichkeit. Er ist kein großer
Redner im Stil eines Menachem Begin (geschweige denn eines Winston
Churchill), aber im Fernsehen hat er wenige Konkurrenten. Jede
Bewegung seiner Hände, jeder Ausdruck seines Gesichtes, jedes Haar
auf seinem Kopf ist genau richtig. Sein Amerikanisch ist perfekt.
Der Führer des jüdischen Ghettos, der am Hof des Königs der Gojim
(Nichtjuden) für sein Volk eintritt, ist eine wohlbekannte Gestalt
in der jüdischen Geschichte. Jedes jüdische Kind liest über ihn in
der Schule. Bewusst oder unbewusst werden die Leute daran denken.
Der Chor der Senatoren und Kongressmänner und -Frauen wird
begeistert applaudieren, alle paar Minuten aufspringen und ihre
grenzenlose Bewunderung in jeder Weise ausdrücken, außer dass sie
seine Schuhe küssen.
Einige tapfere Demokraten werden abwesend sein, aber die Israelis
werden dies nicht bemerken, da es bei solchen Gelegenheiten üblich
ist, die leeren Sitze mit Angestellten zu besetzen.
Kein Propagandaspektakel könnte effektiver sein. Die Wähler werden
gezwungen sein, sich zu fragen, wie Herzog wohl unter denselben
Umständen aussehen würde.
Ich kann mir keine wirkungsvollere Wahlpropaganda vorstellen. Den
Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika als Propagandarequisit
zu benützen, ist ein genialer Streich.
MILTON FRIEDMAN versicherte, dass es so etwas wie ein kostenloses
Mahl nicht gibt, und dieses Mahl hat einen hohen Preis.
Es bedeutet fast buchstäblich, in das Gesicht des Präsidenten Obama
zu spucken. Ich denke, dass es nie so etwas gegeben hat. Der
Ministerpräsident eines kleinen Vasallenstaates, der von den US
praktisch in allem abhängig ist, kommt in die Hauptstadt der US, um
offen ihren Präsidenten heraus zu fordern, ja, ihn in der Tat einen
Betrüger und Lügner zu brandmarken.
Wie Abraham, der bereit war, um Gottes willen seinen Sohn zu
schlachten, so ist Netanjahu bereit, Israel vitalste Interessen für
einen Wahlsieg zu opfern.
Seit vielen Jahren haben israelische Botschafter und andere
Funktionäre sich mächtig angestrengt, um das Weiße Haus und den
Kongress in den Dienst Israels zu stellen. Als der Botschafter
Yitzhak Rabin nach Washington kam und feststellte, dass die
Unterstützung Israels im Kongress lag, bemühte er sich sehr – und
erfolgreich – das Weiße Haus von Nixon zu gewinnen.
AIPAC und andere jüdische Organisationen haben generationenlang
dafür gearbeitet, die Unterstützung beider amerikanischer Parteien
und praktisch alle Senatoren und Kongressleute zu gewinnen. Seit
Jahren wagte kein Politiker auf dem Kapitol, Israel zu kritisieren.
Es war gleichbedeutend mit politischem Selbstmord. Die wenigen, die
dies versuchten, wurden in die Wüste geschickt.
Und nun kommt Netanjahu und zerstört dieses Gebäude wegen eines
Wahlspektakels. Er hat der Demokratischen Partei den Krieg erklärt,
zerschneidet die Verbindung, die Juden mit dieser Partei seit mehr
als einem Jahrhundert verband, und zerstört die Unterstützung einer
der beiden Parteien. Er ermöglicht den Demokratischen Politikern zum
ersten Mal, Israel zu kritisieren; und zerstört ein
generationenaltes Tabu, das vielleicht nicht wieder hergestellt
werden kann.
Präsident Obama, der beleidigt, gedemütigt und an seinem für ihn
bedeutendsten politischen Schritt - das Abkommen mit dem Iran -
behindert wird, würde übermenschlich sein, wenn er nicht an Rache
denken würde. Selbst eine Bewegung seines kleinen Fingers könnte
Israel ernsthaft verletzen.
Macht sich Netanjahu Sorgen? Natürlich sorgt er sich. Aber er macht
sich mehr Sorgen um seine Wiederwahl.
Viel, viel mehr.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)