Ein Offizier im Gerichtshof
Uri Avnery, 28.8.04
Als
ich aus dem wunderschönen Gerichtsgebäude herauskam, war ich
deprimiert. Ich hatte stundenlang den Verhandlungen über eine Reihe
von Anträgen zugehört, bei denen es um die sog. Trennungsmauer ging.
Ich war besonderes an dem Mauerteil interessiert, der das Leben der
Bewohner von A-Ram zu ruinieren droht. Ich erinnere daran, dass die
geplante Mauer der vollen Länge nach auf der
Jerusalem-Ramallah-Straße, die durch A-Ram führt, auf dem
Mittelstreifen entlang verlaufen soll. Dieser soll durch eine 8m
hohe Betonmauer ersetzt werden, die den größten Teil der
Stadtbewohner von ihren Kunden, Arbeitsplätzen, Schulen,
Krankenhäusern und sogar vom Friedhof trennt.
Bis
jetzt war das Bauen dieses Mauerabschnittes durch eine
vorübergehende gerichtliche Verfügung aufgehalten worden. Diese ist
nun aufgehoben worden, und nächste Woche werden die Baukräne damit
beginnen, die Betonplatten aufzurichten, die entlang der Straße
schon bereitliegen. Sie werden die Welt auf der andern Seite
ausschließen.
Im
Laufe der Sitzung riefen die drei Richter, die vom Obersten Richter
Aharon Barak angeführt wurden, die Anwälte beider Seiten zum
Richtertisch und baten darum, ihnen die Karte zu erklären. Die
Anwälte, einschließlich einem Militäranwalt in Uniform, kamen nach
vorne. Doch nicht allein. Mit ihnen kam eine Zivilist, der kein
Anwalt war – ein Kippa tragender Siedler, Danny Tirza, der Chef der
Abteilung, die im Verteidigungsministerium für den Mauerbau
zuständig ist.
Dieser Tirza wurde im vergangenen Monat bekannt, als der Oberste
Gerichtshof beschloss, dass die Route der Mauer verändert werden
müsse. Als er aus dem Gerichtssaal kam, ging er direkt auf die
TV-Kameras zu und erklärte, dass von jetzt an der Oberste
Gerichtshof die Verantwortung für jeden ermordeten Juden trägt.
Diese unverschämte Bemerkung verursachte in der Öffentlichkeit
einen Aufruhr, und Tirza wurde offiziell von seinen Bossen
zurückgepfiffen.
Das
hinderte ihn nicht, sich jetzt wiederum dem Richtertisch zu nähern,
und den Richtern lang und breit die sofortige Notwendigkeit des
Mauerbaus darzulegen. Es war keinem in den Sinn gekommen, den
Bürgermeister des Ortes Sirhan Salaimeh vorzuladen, der in der 1.
Reihe saß und den dies als erstes anging. Ein Siedler - ja. Ein
lokaler Palästinenser – nein.
Was
dann geschah, war noch beunruhigender. Auf Forderung der
Regierungsanwälte wurde ein ranghoher Kommandeur der Grenzpolizei,
übrigens ein Druse, darum gebeten, den Richtern zu erklären, warum
eine Verzögerung des Mauerbaues den Mord an Juden zur Folge habe.
Ein paar Tage vorher war tatsächlich ein sich in der A-Ram
Moschee versteckter„Terrorist“ entdeckt worden. (Gott möge mir
meinen Zynismus vergeben, aber diese Geschichte kam mir vom ersten
Augenblick an verdächtig vor. Die Verhaftung, nur wenige Tage vor
der Gerichtsverhandlung, kam den Sicherheitskräften zu einem sehr
passenden Zeitpunkt).
Gewöhnlich sprechen nur Anwälte im Obersten Gerichtshof. Es ist sehr
ungewöhnlich, dass es noch jemand anderem erlaubt ist, dort zu
reden. Die lange Rede des Offiziers ohne die Möglichkeit einer
Gegenrede ist noch ungewöhnlicher. Es zeigt, dass selbst noch 57
Jahre nach der Gründung des Staates Israel, Armeeoffiziere einen
besonderen Status vor dem Obersten Gerichtshof innehaben.
Die
Botschaft des Offiziers war ganz einfach: die Verzögerung des
Mauerbaus kann einen Terrorakt erleichtern. Das heißt also, wenn das
Gericht weitere Verzögerungen verursacht, wird er für die
Konsequenzen verantwortlich sein. Indirekt, nur auf etwas
raffiniertere Weise, wiederholte dieser Offizier die primitive
Erpressung Tirzas, des Siedlers.
Das
Endergebnis: Der Gerichtshof gab unter diesem Druck klein nach und
die Verzögerungsorder wurde zurückgezogen. Ich war traurig darüber,
aber nicht verwundert - muss ich leider sagen.
Es
stimmt, der Oberste Gerichtshof ist in der israelischen politischen
Landschaft eine Oase. Sogar architektonisch. Während er von außen
nicht besonders eindrucksvoll ist, ist er innen wunderbar. Anders
als der pompöse monumentale Stil, in dem gewöhnlich die meisten
Gerichtsgebäude der Welt gebaut sind, ist unser Oberster
Gerichtshof in menschlichen Maßen, ein lockeres Gebäude mit viel
freiem Raum und inneren Höfen, die an die Alhambra in Granada
erinnern. Interessante Licht- und Schattenspiele. Rund herum
befindet sich ein lieblicher Garten, der nach allen Seiten offen
ist. Auch die Gerichtshallen sind angenehm und passend. Die
Sicherheitskontrollen sind minimal und ungewöhnlich höflich.
Und
was noch wichtiger ist, der Gerichtshof ist auch eine politische
Oase. Zu einer Zeit, wo die Demokratie degeneriert, die Regierung
sich zynisch und die Knesset unverantwortlich benimmt, ist der
Oberste Gerichtshof die letzte Festung. Da Israel keine Verfassung
hat, hat der Oberste Gerichtshof die Aufgabe übernommen, Gesetze zu
blockieren, die den Grundwerten der israelischen Demokratie
widersprechen. Nach öffentlichen Meinungsumfragen erfreut sich der
Gerichtshof des höchsten Ansehens unter den öffentlichen
Institutionen (einschließlich der Politiker und der Medien, die
ganz unten zu finden sind).
Wenn
das so ist, warum geschah dies dann dieses Mal?
Aharon Barak erklärte mir einmal sein Grundprinzip: der Gerichtshof
hat keine eigene Armee. Er kann seine Entscheidungen nicht mit
Gewalt durchsetzen. Er ist völlig vom Vertrauen und der
Unterstützung der Öffentlichkeit abhängig. Darum kann er nicht viel
weiter gehen als das, was die Öffentlichkeit verträgt.
Bei
Sicherheitsproblemen ist die Situation noch heikler. Es stimmt, die
Zeiten sind vorüber, als der Gerichtshof in Habachtstellung stand,
wenn ein Armeeoffizier vor ihm erschien. Aber es ist noch immer
möglich, den Gerichtshof mit übermäßigen Sicherheitsargumenten zu
beeindrucken. Aharon Barak ist Holocaustüberlebender: als Kind wurde
er aus dem Warschauer Ghetto unter Kartoffelsäcken versteckt auf
einer Karre herausgebracht. Deshalb ist seine Empfänglichkeit für
Sicherheitsargumente entsprechend hoch ausgeprägt.
Vor
diesem Hintergrund lohnt es sich, die „beratende Stellungnahme“ des
Internationalen Gerichtshofes in Den Haag mit der des Obersten
Gerichthofes in Jerusalem zu vergleichen. Die Haager Richter
entschieden – um es einfach auszudrücken – Israel habe das Recht,
eine Mauer zu bauen, aber nur auf seinem eigenen Land, verknüpft mit
der Grünen Linie von vor 1967. Es hat kein Recht, diese auf
besetztem Land zu bauen, erst recht nicht, wenn es seine Absicht
ist, die Siedlungen , die an sich nach internationalem Recht schon
illegal sind, seinem Staatsgebiet einzuverleiben.
Der
israelische Gerichtshof beging alle Arten von Verrenkungen und
entschied, dass „übertriebenes“ Unrecht gegenüber der
palästinensischen Bevölkerung vermieden werden müsste, aber es
akzeptierte das Recht Israels, die Mauer auf palästinensischem Land
zu bauen, wenn es „Sicherheitsgründe“ notwendig machen – besonders,
wenn Siedlungen geschützt werden müssen. Auf diese Weise hat der
Gerichtshof indirekt die Siedlungen als legal angesehen.
Das
schafft nun eine komplizierte Situation. Während der Anhörung hat
Barak angeregt, dass beide Seiten – die Regierung und die
palästinensischen Antragsteller - schriftliche Stellungnahmen zu
der Entscheidung des internationalen Gerichtshofes unterbreiten.
„Es ist unmöglich, die Auseinandersetzung mit der Entscheidung des
Internationalen Gerichtshofes auf die Dauer zu vermeiden,“ sagte er.
Natürlich ist er in einem Dilemma: als Richter und berühmter
Professor der Rechte hat er ein hohes internationales Ansehen, das
er nicht gerne aufs Spiel setzt. Deshalb ist er daran interessiert,
dass sein Gericht nicht mit den Richtern in Den Haag kollidiert.
Die
Entscheidung über die Mauer in A-Ram hat einen interessanten Aspekt,
der wenig beachtet wurde. Die Verzögerungsorder war vorübergehend –
und so ist es auch mit der Entscheidung des Aufhebens der Order.
Barak verkündete, er erlaube der Regierung jetzt, mit dem Bau der
Mauer zu beginnen, aber wenn das Gericht schließlich entscheidet,
dass die Route der Mauer illegal ist, dann sei es notwendig, sie
abzubauen und wo anders wieder aufzubauen..
So
wurde zum ersten Mal ausgesprochen, dass die Mauer in Wirklichkeit
nur eine vorübergehende Struktur sei. Der Baukran, der die
vorfabrizierten Betonplatten einsetzt, kann sie mit der gleichen
Leichtigkeit wieder wegnehmen und beiseitelegen.
Das
mag für die Bewohner von A-Ram kein Trost sein, deren Leben und
Geschäft mittlerweile ruiniert wurden – aber trotzdem ist es
ermutigend. Es wiederholt, was wir bei all unseren Demonstrationen
sagten: „die Monstrosität erinnert an die Berliner Mauer. So wie
die deutsche Mauer aber plötzlich in sich zusammenbrach, so wird
auch diese fallen.“
Dies
wurde gestern bei einer Demo in Abu Dis, nicht weit von A-Ram,
demonstriert. Israelis und Palästinenser kamen, um Arun Gandhi, den
Enkel des legendären Mahatma Gandhis, zu treffen. Abu Ala, der
palästinensische Ministerpräsident, selbst ein Bewohner von Abu Dis,
hielt eine Rede. Später näherten wir uns der Mauer und schlugen sie
symbolisch mit einem Hammer. Als ich an die Reihe kam, bemerkte ich,
dass es sogar mit einem kleinen Hammer möglich ist, kleine Stücke
abzuschlagen. Ein wirklich großer Hammer könnte ein Loch schlagen.
Was
noch wichtiger war: während einer der Reden bemerkten wir, wie wir
auf einmal das Interesse der Zuhörer verloren. Alle Köpfe wandten
sich nach hinten. In einer unglaublich gewagten Leistung kletterte
einer der Demonstranten die steile Mauer hoch, und trotz seiner
glatten Oberfläche gebrauchte er nur seine bloßen Hände und Fersen.
Nachdem er oben war, warf er ein Seil hinunter, und einige andere
folgten ihm nach oben und enthüllten eine palästinensische Flagge.
Das
kann also getan werden. Nicht von einer schwangeren Frau auf dem Weg
ins Krankenhaus, nicht von Kindern auf dem Weg zur Schule, nicht von
Familien auf dem Weg zu Verwandten, aber ein trainierter
Selbstmordattentäter kann die Mauer bei Nacht überwinden. So
schwinden die Sicherheitsargumente dahin.
Übrigens: die Berliner Mauer wurde zerstört und die Trümmersteine
wurden als Erinnerungsstücke an Ausländer und einheimische Sammler
verkauft. Ein wirklich wacher israelischer Unternehmer würde jetzt
den Antrag für die Konzession stellen, damit er die Mauerstücke
verkaufen kann, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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