„Wo sind alle Freundschaften geblieben …“
Uri Avnery, 24. 10.09
NACH EINEM chinesischen Sprichwort kann eine Person, der auf der
Straße gesagt wird, sie sei betrunken, lachen, wenn ihr eine zweite
Person sagt, sie sei betrunken, sollte sie darüber nachdenken; wenn
eine dritte Person ihr aber dasselbe sagt, sollte sie nach Hause
gehen und ihren Rausch ausschlafen.
Unsere politische und militärische Führung ist nun schon der
dritten, vierten und fünften Person begegnet. Alle sagen ihr, sie
müsste Untersuchungen veranlassen über das, was bei der „Molten
Lead“-Operation geschehen ist.
Sie haben drei Optionen:
Eine wirkliche Untersuchung durchzuführen.
Die Forderung zu ignorieren, und so tun, als wäre nichts geschehen.
Eine simulierte Ermittlung durchzuführen.
Es
ist einfach, über die erste Option zu diskutieren: es gibt nicht die
geringste Chance, dass sie angenommen wird. Abgesehen von den
üblichen Ausnahmen ( mich eingeschlossen), die schon lange, bevor
man in Israel etwas vom Richter Goldstone hörte, eine Untersuchung
forderte, wurde sie von niemandem unterstützt.
Unter allen Mitgliedern unseres politischen, militärischen und
Medien-Establishments, die jetzt eine „Ermittlung“ vorschlagen, ist
keiner - buchstäblich keiner – der eine wirkliche Untersuchung
damit meint. Es ist ihre Absicht, die Goyim zu täuschen und dahin zu
bringen, den Mund zu halten.
Das israelische Gesetz gibt für solche Untersuchungen tatsächlich
klare Leitlinien. Die Regierung entscheidet, eine
Untersuchungskommission aufzustellen. Der Präsident des Obersten
Gerichthofes wird die Mitglieder der Kommission ernennen. Diese
Kommission kann Zeugen zwingen, auszusagen. Jeder der von ihren
Schlussfolgerungen betroffen ist, muss gewarnt werden, und ihm muss
die Gelegenheit gegeben werden, sich zu verteidigen. Ihre
Beschlüsse sind bindend.
Dieses Gesetz hat eine interessante Geschichte. In den 50er Jahren
verlangte David Ben Gurion die Ernennung eines
„Ermittlungskomitees“, um herauszubekommen, wer 1954 die Order für
das Sicherheitsmissgeschick, auch als Lavon-Affäre bekannt,
herausgegeben hat (Eine Operation, bei der ein Spionagenetzwerk
einheimischer Juden aktiviert worden war, in amerikanischen und
britischen Büros in Ägypten Bombenanschläge durchzuführen, um
zwischen Ägypten und den westlichen Mächten einen Bruch zu schaffen,
).
Ben Gurions Forderung wurde unter dem Vorwand zurückgewiesen, es
gebe für solch eine Prozedur kein Gesetz. Ben-Gurion trat wütend
von seinem Amt zurück und verließ seine Partei. In einer der
stürmischen Sitzungen nannte der Justizminister Jacov Shimson
Shapira Ben Gurion einen „Faschisten“. Aber Shapira, ein alter
russischer Jude, bedauerte später seinen verbalen Ausbruch. Er
entwarf für die Zukunft ein Gesetz für die Ernennung von
Untersuchungskommissionen. Nach langen Debatten in der Knesset (an
denen ich auch teilnahm), wurde das Gesetz angenommen und seitdem
erfolgreich angewandt, wie im Fall der Sabra- und Shatila-Massaker.
Jetzt unterstütze ich voll und ganz das Aufstellen einer
Untersuchungskommission nach diesem Gesetz.
DIE ZWEITE OPTION ist die vom Generalstabschef der Armee und dem
Verteidigungs-minister vorgeschlagene, die man „Mauern“ nennt. Was
bedeutet: „Zum Teufel damit!“
Die Armeekommandeure sind gegen jede Untersuchung und gegen jede
Ermittlung. Sie wissen wahrscheinlich, warum. Schließlich kennen sie
die Fakten. Sie wissen, dass ein dunkler Schatten allein schon über
der Entscheidung, den Krieg zu führen, über der Planung der
Operation, über den den Soldaten gegebenen Instruktionen, und über
vielen Dutzend großen und kleinen Aktionen liegt, die während der
Operation begangen wurden.
Ihrer Meinung nach würde ihre Weigerung zwar schwerwiegende
internationale Auswirkungen haben, die Folgen jeder Untersuchung,
selbst einer vorgetäuschten, würde aber noch viel schlimmer sein.
Solange der Stabschef diese Position einnimmt, wird es keine
Untersuchung außerhalb der Armee geben, ganz gleich welche Haltung
die Minister einnehmen. Der Armeechef, der bei jeder
Kabinettssitzung dabei ist, ist die zentrale Figur im Raum. Wenn er
verkündet, dass die Armee die oder die Position hat, dann wagt
keiner der anwesenden Politiker etwas dagegen zu sagen.
In
der „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ sagt das Gesetz, (das
seinerzeit von Menachem Begin vorgeschlagen wurde), dass die
Regierung als solche der Chefkommandeur der IDF sei. So sieht es in
der Theorie aus. In der Praxis siegt bei jeder
Meinungs-verschiedenheit die „Position der Armee“ .
Die Armee behauptet, sie untersuche sich selbst. Ehud Barak vertritt
– freiwillig oder nicht – diese Position. Das Kabinett hat es
aufgeschoben, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. Und dies ist
der Stand von heute.
BEI DIESER Gelegenheit sollte ein Schlaglicht auf die am wenigsten
sichtbare Person in Israel geworfen werden, auf den Generalstabschef
und Generalleutnant Gabi Ashkenasi,
Nichts bleibt an ihm kleben. In dieser Debatte - wie in allen - ist
er einfach nicht vorhanden.
Jeder weiß, dass Ashkenasi eine bescheidene Person ist. Er spricht
und schreibt kaum. Hält keine Volksreden. Im Fernsehen bleibt er im
Hintergrund.
In
der Öffentlichkeit erscheint er als rechtschaffener Soldat ohne
Tricks. Seine Pflichten erfüllt er ruhig, empfängt seine Order von
der Regierung und ist ihr gegenüber loyal. In diesem unterscheidet
er sich von fast all seinen Vorgängern, die selbst prahlerisch und
redselig waren. Während die meisten von ihnen aus berühmten
Eliteeinheiten oder der arroganten Luftwaffe kamen, ist er ein
grauer Infanterist. Als der Herzog von Wellington in seiner Armee
einmal die Berge von Papier sah, rief er aus: „Soldaten sollen
kämpfen und nicht schreiben!“. Ashkenasi hätte ihm gefallen.
Aber die Realität ist nicht immer das, was sie zu sein scheint.
Ashkenasi spielt beim Treffen der Entscheidungen eine
ausschlaggebende Rolle . Er wurde ernannt, als sein Vorgänger
Luftwaffengeneral Dan Halutz wegen der Fehler beim 2. Libanonkrieg
zurücktrat. Unter Ashkenasis Führung wurden neue Doktrinen
formuliert und bei der Operation „Cast-Lead“ in die Tat umgesetzt.
Ich definiere sie ( auf eigene Verantwortung) als „Null Verluste“
und „Es ist besser, einhundert feindliche Zivilisten zu töten, als
einen unserer eigenen Soldaten zu verlieren.“ Da nach dem Gazakrieg
kein einziger Soldat vor Gericht kam, muss Ashkenasi die
Verantwortung für alles tragen, was sich dort ereignet hat.
Wenn eine Anklagenerhebung vor dem internationalen Gerichtshof in
Den Haag veröffentlicht würde, würde Ashkenasi wahrscheinlich den
Ehrenplatz als Angeklagter Nr. 1 einnehmen. Kein Wunder, dass er
jede externe Untersuchung ablehnt. Auch Ehud Barak tut dies. Er
würde wahrscheinlich den 2. Platz einnehmen.
DIE POLITIKER, die die Position des Generalstabschefs (wenn auch
still) ablehnen, glauben, dass es unmöglich sei, dem internationalen
Druck vollkommen zu widerstehen und dass eine Art von Ermittlung
durchgeführt werden müsse. Da keiner von ihnen beabsichtigt, eine
wirkliche Untersuchung durchzuführen, schlagen sie vor, einer
bewährten israelischen Methode zu folgen, die in der Vergangenheit
Hunderte von Male wunderbar wirkte: die Methode des Als-ob.
Eine Als-ob-Ermittlung. Als-ob Schlussfolgerungen, als-ob Befolgung
des Internationalen Rechts; geheuchelte zivile Kontrolle über das
Militär.
Nichts ist einfacher als das. Ein „Ermittlungskomitee“ ( aber nicht
eine Untersuchungskommission nach dem Gesetz) wird
zusammengestellt, dem ein patriotischer Richter vorsteht und das
aus sorgfältig ausgewählten ernsthaften Bürgern zusammengesetzt ist.
Zeugenaussagen werden ( natürlich aus Sicherheitsgründen) hinter
geschlossenen Türen abgehalten. Militäranwälte werden beweisen,
dass alles perfekt legal war, der nationale Beschöniger (Whitewasher)
Asa Kasher wird die Ethik und die „moralischste Armee der Welt“
loben. Generäle werden über unser Recht der Selbstverteidigung
reden. Am Ende werden zwei oder drei junge Offiziere oder Gefreite
wegen ein paar „Unvorschriftmäßigkeiten“ für schuldig befunden.
Israels Freunde in aller Welt werden in einen ekstatischen Chor
ausbrechen. Was für ein rechtmäßiger Staat. Was für eine Demokratie!
Welche Moral!. Die westlichen Regierungen werden erklären, dass der
Gerechtigkeit Genüge getan wurde und der Fall abgeschlossen ist. Das
US-Veto tut den Rest.
Warum also akzeptieren die Armeechefs diesen Vorschlag nicht? Weil
sie fürchten, dass die Dinge nicht ganz glatt verlaufen werden. Die
internationale Gemeinschaft wird verlangen, dass wenigstens Teile
der Anhörung öffentlich durchgeführt werden. Dann wird es die
Forderung nach Präsenz von internationalen Beobachtern geben. Und
was noch wichtiger ist, man wird auch - völlig berechtigt -
verlangen, dass man die Zeugenaussagen von Bewohnern des
Gazastreifens selbst hören soll. Die Dinge werden kompliziert
werden. Die Welt wird nicht mit vorfabrizierten Schlussfolgerungen
zufrieden geben. Am Ende sind wir genau in derselben Situation. Es
ist besser, sich nicht von der Stelle zu rühren und die Sache
durchzustehen, egal wie hoch der Preis sein wird.
IN
DER Zwischenzeit wird der internationale Druck auf Israel wachsen.
Schon jetzt hat er unvorhergesehene Proportionen erreicht.
Russland und China haben dafür gestimmt, dass der Goldstone-Bericht
vor die UN gebracht wird. Großbritannien und Frankreich „nahmen an
der Abstimmung nicht teil“, verlangten aber von Israel, eine
wirkliche Untersuchung durchzuführen. Wir haben uns mit der Türkei
gestritten, die bis jetzt ein wichtiger Militärverbündeter war . Wir
haben Auseinandersetzungen mit Schweden, Norwegen und einer Anzahl
anderer befreundeter Länder. Der französische Außenminister ist
daran gehindert worden, in den Gazastreifen zu gelangen, und ist
wütend darüber. Der sowieso schon kalte Frieden mit Ägypten und
Jordanien ist noch um einige Grade kälter geworden. Israel wird von
vielen Foren boykottiert. Hochrangige Armeeoffiziere fürchten sich,
aus Angst vor Verhaftung ins Ausland zu fliegen
DIES LÄSST noch einmal die Frage hochkommen: Kann Druck von außen
Auswirkungen auf Israel haben? Ganz sicher ja! Die Frage ist nur,
welche Art von Druck, welche Art von Auswirkungen?
Der Druck hat tatsächlich mehrere Minister davon überzeugt, dass ein
Ermittlungskomitee für den Goldstone-Bericht aufgestellt werden
müsse. Aber keiner im israelischen Establishment – wirklich keiner !
– hat die Frage gestellt: Vielleicht hat Goldstone Recht? Außer den
üblichen Verdächtigen, niemand in den Medien, in der Knesset und in
der Regierung hat gefragt: Vielleicht sind wirklich Kriegsverbrechen
begangen worden? Der Druck von außen hat solche Fragen nicht
hochkommen lassen. Sie müssen von innen kommen, aus der israelischen
Öffentlichkeit selbst.
Die Art des Druckes muss auch betrachtet werden. Der
Goldstone-Bericht hat die Welt beeinflusst, weil er präzise ist.
eine bestimmte Operation, für die bestimmte Personen verantwortlich
sind. Er stellt eine spezifische Forderung auf eine Untersuchung. Er
behandelt eine klar definierte Sache: Kriegsverbrechen.
Der Goldstone-Bericht kann mit einem gezielten Boykott der
Siedlungen und ihren Helfern verglichen werden, nicht mit einem
unbegrenzten Boykott auf den Staat Israel. Ein gezielter Boykott
kann einen positiven Einfluss haben. Ein umfassender, unbegrenzter
Boykott würde - meiner Meinung nach – das Gegenteil bewirken. Es
würde die israelische Öffentlichkeit noch mehr in die Arme der
extremen Rechten stoßen.
Der Kampf um den Goldstone-Bericht befindet sich jetzt auf seinem
Höhepunkt. In Jerusalem wird die zunehmende Kraft der Wellen
deutlich gespürt. Steht uns ein Tsunami bevor?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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