Was zum Teufel ist geschehen?
Uri Avnery, 31.3.06
DIE DRAMATISCHSTE
und die langweiligste Wahlkampagne unserer Geschichte
ist glücklicherweise zu Ende gegangen. Israel schaut in
den Spiegel und fragt sich selbst: Was zum Teufel ist
geschehen?
Auf dem Weg zur
Wahlurne mitten in Tel Aviv konnte ich nicht das
leiseste Anzeichen dafür erkennen, dass Wahltag ist. Im
Allgemeinen sind Wahlen in Israel eine leidenschaftliche
Angelegenheit. Überall Posters, Tausende von Wagen, die
voller Slogans sind und Wähler zu den Wahllokalen
bringen – und viel Lärm.
Dieses Mal – nichts.
Eine unheimliche Stille. Weniger als zwei Drittel der
registrierten Bürger nahmen tatsächlich die Mühe der
Wahl auf sich. Politiker aller Richtungen werden
gehasst, Demokratie wird unter den jungen Leuten
verachtet, ganze Gesellschaftsgruppen haben sich
entfremdet. Diejenigen, die sich entschieden hatten,
nicht zu wählen, sich dann aber im letzten Augenblick
besannen, stimmten für die „Liste der Pensionäre“, die
es aus dem Nichts zu sieben Sitzen brachte.
Es war eine richtige
Protestwahl. Selbst junge Leute sagten sich: statt
unsere Stimme wegzuwerfen, wollen wir etwas zu Gunsten
anderer tun. Die alten Leute, die Kranken ( auch die
unheilbar Kranken ), die Behinderten und das ganze
Gesundheits- und Erziehungssystem waren Opfer der
thatcheristischen Wirtschaftspolitik von Netanyahu, die
von Sharon unterstützt wurde und die sogar von Shimon
Peres „schweinisch“ genannt wurde.
Diese Wahl für die
Pensionäre war eine Kuriosität. Aber was geschah im
Zentrum der Arena?
ZU BEGINN der
Wahrkampagne schrieb ich, dass sich das ganze politische
System nach links bewegt.
Viele dachten, dass
dies Wunschdenken sei, das mit der Realität nichts zu
tun habe. Nun ist genau dies geschehen.
Das Hauptergebnis
dieser Wahlen ist, dass der Einfluss des
national-religiösen Blockes, der länger als eine
Generation in Israel vorgeherrscht hat, gebrochen worden
ist. All diejenigen, die glaubten, die Linke sei tot und
Israel dazu verurteilt, eine lange, lange Zeit vom
rechten Flügel regiert zu werden, sind jetzt widerlegt
worden
Alle rechten
Parteien zusammen gewannen nur 32 Sitze, die religiösen
18. Mit 50 von 120 Sitzen in der Knesset kann der
rechts-religiöse Flügel nicht mehr jede Maßnahme in
Richtung Frieden blockieren.
Das ist ein
Wendepunkt. Der Traum von Großisrael, vom Mittelmeer bis
zum Jordan, ist ausgeträumt.
Bezeichnenderweise
hat die „Nationalunion“, die Partei, die sich vollkommen
mit den Siedlern identifizierte, nur 9 Sitze erlangt –
etwa so viele wie beim letzten Mal. Nach dem
herz-zerreißenden Drama der Zerstörung der
Gaza-Siedlungen bleiben die Siedler weiterhin unbeliebt.
Sie haben die entscheidende Schlacht um die öffentliche
Meinung verloren.
Netanyahu erklärte
vor den Wahlen, dass sie ein „nationales Referendum“
über den Rückzug aus den besetzten Gebieten seien. Das
war es denn auch - die Allgemeinheit hat überwältigend
mit „Ja“ gestimmt.
Das Hauptopfer ist
Netanyahu selbst. Der Likud brach zusammen. Seit seiner
Gründung durch Ariel Sharon 1973 ist er zu keiner Zeit
derart gedemütigt worden und nur die viert- stärkste
Partei in der neuen Knesset geworden.
Die aufrichtige
Freude über diese Niederlage der Rechten wird durch eine
sehr gefährliche Entwicklung gedämpft: der Aufstieg von
Avigdor Liebermans Partei „Unser Haus Israel “, eine
Mutation der Rechten mit offen faschistischer Tendenz.
Lieberman, ein
Einwanderer aus der früheren Sowjetunion und selbst ein
Siedler, holt sich den Rückhalt hauptsächlich aus der
„russischen“ Gemeinde, die fast einstimmig extrem
nationalistisch ist. Er ruft zur Vertreibung der Araber
auf ( ein Fünftel der Bevölkerung Israels) - angeblich
durch einen Landaustausch; aber die Botschaft ist klar.
Da gibt es auch die üblichen Merkmale solch einer
Partei: den Führerkult, den Ruf nach „Gesetz und
Ordnung“, intensiver Hass gegenüber „dem inneren wie
äußeren Feind“. Dieser Mann erhielt 11 Sitze. Sein
Hauptslogan auf russisch : „Da Liebermann !“ ( „Ja
Lieberman !“ auf deutsch) erinnert an ähnliche
historische Grüße.
Für die, die es
interessiert: die faschistische Gruppe, die als Teil
ihrer Wahlkampagne zum Mord an mir aufrief, ist es nicht
gelungen, die nötigen 2% zum Eintritt in die Knesset zu
erlangen. Aber für einen Mord braucht man keine 2%, um
dem Aufruf zu folgen . ( Ich möchte die Gelegenheit
nützen, all jenen rund um die Welt meinen aufrichtigen
Dank auszudrücken, die mir gegenüber ihre Solidarität
zum Ausdruck brachten)
DIE FREUDIGEN Szenen
im Labor-Hauptquartier mögen manchem auf den ersten
Blick übertrieben scheinen. Schließlich hat die Partei
nur 20 Sitze gewonnen - gegenüber 19 beim letzten Mal.
(Hinzugefügt werden müssen die drei der kleinen von Amir
Peretz damals angeführten Partei). Aber die Zahl erzählt
nicht die ganze Geschichte.
Zunächst ist die
politische Konsequenz weitreichend. Im Parlament spielen
nicht nur die reinen Zahlen eine Rolle, sondern auch
ihr Platz auf der politischen Karte. In der nächsten
Knesset wird jede Koalition ohne Labor eher eine
theoretische Option sein, wenn nicht vollkommen
unmöglich. Amir Peretz wird nach Olmert, die wichtigste
Person im nächsten Kabinett sein.
Noch wichtiger:
Peretz, der erste „orientalisch“ jüdische Führer einer
größeren israelischen Partei, hat den historischen Hass
gegenüber den Einwanderern aus muslimischen Ländern und
ihren Nachkommen gegen Labor überwunden. Er zerstörte
die übliche Gleichung: Orientalisch = arm = Rechts
gegen aschkenasisch = wohlhabend = Links.
Das hat seinen
vollen Ausdruck noch nicht bei dieser Wahl gefunden. Der
Zuwachs durch orientalische Juden ist nur mäßig. Aber
keiner, der gesehen hat, wie Peretz auf den offenen
Marktplätzen empfangen wurde, die bisher Festungen der
Likud gewesen waren, kann bezweifeln, dass sich etwas
Grundsätzliches geändert hat.
Und was noch
wichtiger ist: als Peretz vor kaum drei Monaten auf der
Bildfläche erschien, war Labor eine wandelnde Leiche.
Nun aber lebt sie, vibriert und ist aktionshungrig. Das
ist Führung und nun ist sie da. Peretz könnte sehr wohl
als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten bei
den nächsten Wahlen aufgestellt werden. Bis dahin wird
er sicher auch einen großen Einfluss auf die sozialen
Belange und den Friedensprozess haben.
DAS IST natürlich
die Hauptfrage: kann uns die nächste Regierung dem
Frieden näher bringen?
Kadima hat die
Wahlen gewonnen, ist aber nicht glücklich. Als sie von
Sharon gegründet wurde, erwartete man 45 Sitze – und
nach oben waren keine Grenzen gesetzt. Nun muss sie sich
mit schäbigen 29 Sitzen zufrieden geben, gerade genug,
um die Regierung zu führen, aber nicht genug, um die
Politik zu diktieren.
In seiner Siegesrede
rief Olmert Mahmoud Abbas auf, Frieden zu machen. Aber
das ist eine leere Geste. Kein Palästinenser kann die
Bedingungen akzeptieren, die Olmert im Sinn hat. Wenn
die Palästinenser also nicht zeigen, dass sie „Partner“
sind, will Olmert „Israels permanente Grenzen einseitig
festlegen“, das heißt, dass er zwischen 15-55% der
Westbank annektieren will.
Es ist zweifelhaft,
ob Peretz der Regierung eine andere Politik aufzwingen
kann. Möglich ist, dass die ganze Frage aufgeschoben
wird – unter dem Vorwand, dass man sich erst einmal mit
der sozialen Krise befassen muss. In der Zwischenzeit
geht der Kampf gegen die Palästinenser weiter - mit
Mauer- und Siedlungsbau.
Es liegt nun an der
Friedensbewegung, dies zu ändern. Die Wahlen zeigen,
dass die israelische Öffentlichkeit ein Ende des
Konfliktes wünscht, dass sie die Träume der Siedler und
ihrer Anhänger zurückweist, dass sie eine Lösung sucht.
Wir haben dazu beigetragen. Nun ist es unser Job, der
Öffentlichkeit zu zeigen, dass Olmerts einseitiger
Friede gar kein Friede ist und zu keiner Lösung führt.
An unserm Wahltag
bestätigte das palästinensische Parlament die neue
palästinensische Regierung . Mit dieser Regierung können
und müssen wir verhandeln. Im Augenblick ist die
Mehrheit in Israel noch nicht dazu bereit. Aber die
Wahlen zeigen, dass wir auf dem Weg sind.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Inserat von Gush
Shalom, veröffentlicht am
30.März 2006
Und nun: Verhandlungen!
Die Wahlen gaben ein Mandat zum Rückzug aus den besetzten
Gebieten und die Auflösung der Siedlungen.
Sie geben kein
Mandat für eine einseitige Aktion, unter dem Vorwand:
„Es gibt keinen Partner“
Sie diktierten
die Bildung einer Koalition mit denen, die Verhandlungen
mit den Palästinensern wollen,
Um den Willen der
Wähler zu erfüllen.
Lippenbekenntnisse sind nicht genug.
Die neue
Regierung muss mit der gewählten palästinensischen
Führung
sinnvolle
Verhandlungen beginnen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs) |