Der
„Islamische Staat“ verdankt seinen Aufstieg vor allem
den politischen Fehlern des Westens
Die
italienische Publizistin Loretta Napoleoni hat eine
grundlegende Analyse des Phänomens IS vorgelegt/
Parallelen zur Entstehungsgeschichte Israels
Arn
Strohmeyer
Wie
war es möglich, dass eine bewaffnete Organisation, die
praktisch vor drei Jahren unbekannt war, heute die
mächtigsten Staaten der Welt herausfordert – nicht nur
militärisch auf den Kriegsschauplätzen in Syrien und im
Irak, sondern auch ideologisch, wobei sie die modernsten
Kommunikationsmittel einsetzt? Auf diese Frage sucht die
italienische Publizistin Loretta Napoleoni in ihre Buch
Die Rückkehr des Kalifen. Der Islamische Staat und
die Neuordnung des Nahen Ostens eine Antwort zu
geben. Sie schwankt in ihrer Analyse des IS zwischen
anerkennender Bewunderung und Ablehnung, verlässt aber
nie die Ebene einer rationalen Analyse.
Das
Staunen ist angebracht, denn der IS hat in kurzer Zeit
ein großes Territorium erobert und darin das Modell
eines rudimentären Staates errichtet. Dafür gibt es in
der Gegenwart kaum ein anderes Beispiel. Die Autorin
nennt als Gründe für den phänomenalen Aufstieg des IS
mehrere Gründe. Vor allem aber: Mit der Globalisierung
und der Entstehung eines multipolaren Weltsystems haben
sich neue Möglichkeiten für jene eröffnet, die die
Regeln des in dieser Konstellation veränderten
Machtspiels durchschaut haben. Der Sturz Saddam
Husseins, die unfähige Politik seines Nachfolgers
Maliki, die religiösen Gegensätze zwischen Schiiten und
Sunniten in den Griff zu bekommen sowie die gewaltsamen
Reaktionen auf den Arabischen Frühling in Syrien hatten
ein Machtvakuum geschaffen, das zahlreiche bewaffnete
Gruppen nutzten. Aber während sie alle das egoistische
Ziel verfolgten, die neu eroberte politische und
wirtschaftliche Macht zum Zweck der Ausbeutung der
Ressourcen und der Bevölkerung zu nutzen, ging der IS
einen anderen Weg. Er verfolgte von Anfang an dasselbe
Ziel wie einst die Gründer der europäischen
Nationalstaaten, allerdings versteht er unter Nation
nicht eine ethnische, sondern eine ethnisch-religiöse
Einheit.
Was ihm
bei der Realisierung seines Sonderweges vorrangig half,
war eine im sunnitischen Islam äußerst attraktive Idee:
die Wiedererrichtung des Kalifats. Für Menschen des
westlichen Kulturkreises mag die Zugkraft dieser Idee
schwer verständlich sein, für Muslime ist sie von großer
Faszination. Denn sie verspricht, Schluss zu machen mit
der lange währenden Herrschaft, Unterdrückung und
Erniedrigung durch den westlichen Kolonialismus und
seine Nachfolger. Die modernen arabischen Staaten
entstanden erst 1916 durch die sehr willkürlichen
Grenzziehungen der Kolonialmächte England und Frankreich
(Sykes-Picot Abkommen). Diese Grenzen will der IS
auslöschen und den Nahen Osten neu gestalten, wobei die
Wiedererrichtung des Kalifats des 7. Jahrhunderts die
starke Botschaft ist. Die Autorin schreibt: „Ungeachtet
der Gewalt, die der Islamische Staat zur Errichtung
dieses Konstrukts anwendet, übt der kosmopolitische und
transzendente Charakter des modernen Kalifats auf
Sunniten eine ebenso starke Wirkung aus wie die
kollektive Erinnerung an das ursprüngliche Kalifat.
Während Jahrzehnten predigten Islamisten und islamische
Gelehrte, dass die Pracht und der Glanz des Kalifats
erneut existieren würden, jener Himmel auf Erden.“ Das
Kalifat verspricht Erlösung von den immer noch nicht
verarbeiteten traumatischen Erniedrigungen des
Kolonialismus und verheißt die Wiedererlangung des
Selbstwertgefühls und der eigenen Würde, Erlösung aber
auch von den mit dem Westen verbündeten korrupten
arabischen Staaten.
Die
Autorin erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass
andere Staatsgründungen der Moderne sich ähnlich
abgespielt haben – etwa die Israels und des Iran. Auch
beim Entstehen dieser beiden Staaten spielten die
religiös begründete Vergangenheit und ihre Verklärung
eine große Rolle, wobei auch die Gewalt –die Nakba in
Palästina, die Revolution im Iran – ein probates Mittel
waren, um den Anspruch auf vergangene Größe
durchzusetzen. Die Gewalt ist dabei – so die Autorin –
eine Taktik, die Schrecken verbreiten und den Feind
einschüchtern soll, um damit die Asymmetrie des Krieges
auszugleichen, indem eine kleine Gruppe gegen eine gut
ausgerüstete Armee kämpft – die Zionisten gegen die
britische Armee im Palästina der 1940er Jahre und die
schiitischen Revolutionäre gegen die persische Armee des
Schah 1978/79.
Die
Autorin folgert: „Entgegen den Berichten westlicher
Medien ist das Kalifat weder brutaler noch barbarischer
als andere bewaffnete Organisationen der jüngsten
Vergangenheit.“ Das kann keine Rechtfertigung für das
brutale Vorgehen des IS sein, es ist aber ein Irrtum zu
meinen, dass die westliche Zivilisation weniger
gewaltbereit wäre. Man denke nur an die etwa eine
Million Tote, die Amerikas völkerrechtswidriger Angriff
auf den Irak 2003 zur Folge hatte. An blutigen
Beispielen gibt es in der jüngsten Vergangenheit noch
viele: Von den deutschen Mega-Verbrechen im Zweiten
Weltkrieg über die Atombombenabwürfe von Hiroshima und
Nagasaki bis zu den Kriegen in Vietnam, Irak und
Afghanistan. Und wenn der IS genozidal gegen die
Schiiten vorgeht, die er des Glaubensabfalls
beschuldigt, so sei an die Inquisition und ihre
Ketzerverbrennungen im christlichen Mittelalter
erinnert, die im Namen Gottes vollzogen wurden. Die
Autorin schreibt: „In ähnlicher Weise inszeniert das
Kalifat heute Enthauptungen und Kreuzigungen.“ Der IS
versteht sein brutales Vorgehen als „religiöse
Reinigung“, auch dies lässt sich durchaus mit dem
fanatischen christlichen Fundamentalismus des
Mittelalters vergleichen. Grund zum Hochmut hat das
„Abendland“ also nicht.
Wenn der
IS mit der Ausübung brutaler Gewalt die Ziele verfolgt,
Angst unter seinen Feinden zu verbreiten und potenzielle
Anhänger zu bekehren, so ist er damit durchaus
erfolgreich. Denn dieses Propaganda-Instrument der
Missionierung in den Händen einer siegreichen Armee
sowie die Ideologie und Utopie des IS üben unter
sunnitischen Muslimen eine globale Anziehungskraft aus,
eben die utopische Vorstellung von einem Kalifat-Staat –
einer korruptionslosen und unbestechlichen Nation, in
der eine Atmosphäre der Brüderlichkeit herrscht und die
in perfekter Harmonie mit Gott lebt. Bei der Erschaffung
einer solchen politischen Ordnung im Nahen Osten
mitzuwirken scheint das Hauptmotiv für junge Muslime
(auch aus dem Westen) zu sein, sich diesem „Heiligen
Krieg“ anzuschließen.
Die
Erfolge des IS sind ernstzunehmen. Nicht nur dass er
inzwischen ein Territorium von der Größe Großbritanniens
beherrscht, er ist dabei, die Erfordernisse eines
modernen Staates zu erfüllen. Neben der Territorialität
verfügt er über eine gewissen Souveränität, auch wenn
sie bisher nur intern anerkannt wird. Er sorgt in seinem
Gebiet für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung
nach der Scharia und nimmt die Aufgabe wahr, für die
nationale Sicherheit zu sorgen. Er versucht außerdem,
einen Konsens mit der beherrschten Bevölkerung
herzustellen, um so Legitimität zu erlangen. So bemüht
sich der IS um den Wiederaufbau der sozialökonomischen
Infrastruktur innerhalb des Kalifats, er baut Straßen
und setzt zerstörte Wasser- und Stromleitungen wieder
instand, für die Ärmsten erbringt er soziale Leistungen.
Seine gut ausgerüstete Armee verfügt über mehr als 100
000 Kämpfer. Seinen Propagandakrieg führt er inzwischen
mit den modernsten Mitteln der digitalen Technik und
unter der vollen Nutzung der sozialen Medien. Die
Lektionen der Propaganda, die anwendet, hat er auch im
Westen gelernt.
Dass der
IS es so weit gebracht hat, ist vor allem auch der
politischen Blindheit des Westens – besonders der USA –
geschuldet. Hier müssen vorrangig die
Wirtschaftssanktionen genannt werden, die US-Präsident
Clinton und der britische Premier Tony Blair über den
Irak Saddam Husseins verhängt haben. Sie fanden im
Westen wenig Beachtung, führten aber dazu, dass der
moderne radikale Salafismus im Irak Fuß fassen konnte.
Für die sunnitischen Massen, die unter diesen Sanktionen
schwer zu leiden hatten, wurde diese Ausprägung des
Islam zu einer Quelle des Trostes. Zudem strömten nach
dem Sturz Saddam Husseins immer mehr Glaubenskrieger ins
Land. Diese islamistische Radikalisierung in der Zeit
der westlichen Wirtschaftssanktionen führte dazu, dass
sich ein größerer konfessioneller Bürgerkrieg
zusammenbraute, „der das Potenzial hatte, die gesamte
muslimische Welt zu destabilisieren.“ (Loretta Napoleoni).
Dem Westen war all dies genauso entgangen wie die
Zunahme von Rebellen- und Widerstandsgruppen in Syrien.
Man deutete die Radikalisierung im Irak und in Syrien
lediglich als Erscheinungen des „religiösen Fanatismus“.
Die
Antwort auf die Frage, wie der phänomenale Aufstieg des
IS möglich war, muss also im Zusammenhang mit dem rasant
fortschreitenden Zerfall des Nationalstaates in Syrien
und im Irak gesehen werden, wozu der Westen seinen Teil
durch seine Kriegspolitik, sein Nicht-Verstehen der
Entwicklungen oder sein Engagement auf der falschen
Seite beigetragen hat. Es ergaben sich zunächst
konfessionelle Fronten, friedliche Proteste entwickelten
sich dann zu Bürgerkriegen, die inzwischen längst zu
modernen Stellvertreterkriegen geworden sind, die
wiederum die reichen Golfstaaten finanzieren, um – wie
im Fall Syrien – am Erzfeind Iran Rache zu nehmen, der
mit Assad verbündet ist. Der IS profitierte von all dem
und wusste die neue Lage geschickt zu seinem Vorteil zu
nutzen.
Die
Antworten, die die Autorin auf ihre Ausgangsfrage gibt,
warum der IS erfolgreicher war als der Arabische
Frühling, sind überzeugend. Sie argumentiert, dass der
Arabische Frühling und der IS zwei Antworten auf
dasselbe Probleme sind: die korrupten Regierungen in den
Staaten des Nahen Ostens. Der IS ist dabei mit seiner
professionellen und hierarchischen Struktur ein durchaus
modernes Phänomen. Sein Projekt der Nationenbildung
stellt aus westlicher Sicht die größte Gefahr bzw.
Bedrohung dar, weil es die bisherige Staatenordnung des
Nahen Ostens abschaffen will. Die Antwort des Westens
und seiner Verbündeten, auf den Vormarsch des IS
ausschließlich mit Bombardierungen aus der Luft und bald
wohl auch mit dem Einsatz von Bodentruppen zu reagieren,
hält die Autorin für ein zum Scheitern verurteiltes
Unterfangen, weil sie die Destabilisierung der Region
nicht abwenden werden. Ganz im Gegenteil: Die Politik
des Westens scheint dem antiken Hydra-Ungeheuer zu
ähneln: je mehr Köpfe man ihm abschlägt desto
zahlreicher wachsen sie ihm nach. Selbst bei einem
Scheitern des IS sieht die Autorin kein Ende der Gewalt
im Nahen Osten, weil dann andere bewaffnete Gruppen mit
ähnlicher Zielsetzung an seine Stelle treten werden. Die
Autorin folgert: „Das Versäumnis des Westens, sich
diesem Problem zu stellen, wird für die Weltordnung
verheerende Folgen haben.“ Sie empfiehlt deshalb: „So
müssen wir uns der Tatsache stellen, dass es in der
Region eine neue Macht gibt und dass der
Stellvertreterkrieg sich als Bumerang erweisen wird.
Entsprechend müssen wir an diese Macht mit anderen
Mitteln als dem Krieg herantreten.“
Auf
Israel und das Palästina-Problem geht sie in diesem
Zusammenhang nicht ein. Aber man muss in diesem
Zusammenhang an eine Kolumne von Uri Avnery erinnern. Er
kam zu derselben Schlussfolgerung wie die Autorin:
Ideen, und mögen sie uns „Abendländern“ noch so fremd
erscheinen, sind immer stärker als Bomben. Er riet den
politisch Verantwortlichen in seinem Land, das Faktum IS
sehr ernstzunehmen und sehr bald mit den Palästinensern
eine auf Dauer angelegte Friedenslösung abzuschließen,
andernfalls bestände die Gefahr, dass auch Israel in den
Strudel der Destabilisierung des Nahen Ostens mit
hineingerissen wird.
Der
Islamische Staat wird im Westen fast ausschließlich
unter dem Aspekt seiner Gewaltexzesse gesehen, was dem
„Abendland“ wiederum die Legitimation zum gewaltsamen
Eingreifen verschafft. Loretta Napoleonis Analyse des IS
und seiner Politik liefert Fakten und Interpretationen
zum besseren Verstehen des Phänomens, sie warnt den
Westen vor dem Rückfall in alte politische Fehler und
zeigt Ansätze zu einem anderen Umgang mit dem „Kalifat“,
die vielleicht eher eine Chance haben, der Gewalt im
Nahen Osten Einhalt zu gebieten. Ihre Ausführungen
verdienen allergrößte Aufmerksamkeit.
Loretta
Napoleoni: Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische
Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens,
Rotpunktverlag Zürich 2015, 18,90 Euro
15.02.2015