Die frohe
Weihnachtsbotschaft und das Schweigen der
Christen zum Geschehen im Nahen Osten
Arn Strohmeyer
Es
gibt eine Karikatur, die Weihnachten heute in
der Geburtsstadt Jesu darstellt. Die
hochschwangere Maria und ihr Mann Josef stehen
auf der Suche nach einer Herberge vor der
riesigen, acht Meter hohen israelischen Mauer,
die Bethlehem umgibt, und begehren an einem Tor
Einlass, der ihnen aber von den wachhabenden
Soldaten Israels verweigert wird. Maria wird ihr
Kind wohl irgendwo auf einem Feld oder unter
einem Olivenbaum zur Welt bringen müssen. Diese
Karikatur ist von hoher Symbolkraft, weil die
„Mauer“ oder „Mauern“ ganz allgemein– reale oder
politische, religiöse, soziale und rassische -
trotz aller Globalisierung und Fortschritte bei
den Kommunikationstechniken immer noch das Leben
auf der Erde weitgehend bestimmen.
Die Mauer bei
Bethlehem umgibt ja nicht nur diese Stadt,
sondern wird sich, wenn sie fertig gebaut ist,
über 700 Kilometer über geraubtes
palästinensisches Land hinziehen. Sie sperrt ein
ganzes Volk als überflüssig weg, schränkt seine
Bewegungsfreiheit auf ein Minimum ein, trennt
Dörfer in zwei Teile, reißt Familien auseinander
und lässt Bauern nicht zu ihren Feldern und
Wasserstellen gelangen. Kinder können nicht zu
ihren Schulen kommen, Tagelöhner nicht zu
Arbeitsplätzen und Kranke nicht in die Kliniken.
Frauen haben deshalb schon ihre Kinder auf der
Straße an den Checkpoints vor den Augen der
Militärs zur Welt bringen müssen, weil diese sie
nicht passieren ließen. Maria würde es heute
nicht anders ergehen.
Weihnachten ist in
den Kirchen der Welt wieder viel von der frohen
Botschaft, von Liebe, Heil, Erlösung und
Christus dem Retter die Rede. Aber die Wahrheit
ist: Auch nach 2000 Jahren Christentum ist die
Welt weiter ein Dschungel – überall die Drohung
von Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt, Krieg,
Terror, Folter und Angst. Und Mauern – nicht nur
die im sogenannten Heiligen Land - sorgen dafür,
dass es so bleibt. „Wie ist es möglich, dass
weit über zwei Milliarden Christen diese Welt so
wenig verändern?“ hatte schon Heinrich Böll
gefragt. Auschwitz und das, wofür dieser Begriff
steht, hatte er den größten Friedhof des
„christlichen Europa“ genannt. Genozide finden
heute nicht mehr in eigens dafür erbauten
Vernichtungsfabriken statt, aber es gibt sie
noch.
Und was sagen die
Christen zu dem barbarischen Unrecht, das –
obwohl mit dem Holocaust nicht zu vergleichen –
heute im „Heiligen Land“ geschieht? Einige
wenige wagen sich nach vorn und erheben mutig
ihre Stimme zum Protest. Aber die Mehrheit und
vor allem das Kirchenestablishment schweigen,
wie damals, als sie im „Dritten Reich“
angesichts der Diskriminierung, Verfolgung, und
zuletzt der Vernichtung der Juden schwiegen und
damit schwere Schuld auf sich luden wie davor
schon durch die Jahrhunderte des christlichen
Antijudaismus. Die Zionisten haben, obwohl
selbst säkular orientiert, den Begriff Israel
religiös so mystifiziert, dass in kirchlichen
Kreisen immer noch der Glaube existiert, man
könne eine direkte Anknüpfung vom Alten
Testament zum heutigen Israel herstellen. „Die
Juden sind ja das Volk Gottes!“ hört man
Christen oft argumentieren. Diese ideologische
Basis dient Vertretern der Kirche immer noch als
Rechtfertigung, die völkerrechtswidrige
Machtpolitik Israels zu unterstützen.
Dabei ist die
zionistische Behauptung, dass die Juden aus dem
„Heiligen Land“ stammen, dort um 70 n.u.Z. nach
einem Aufstand gegen die römischen Besatzer von
diesen ins Exil vertrieben worden sind, um ab
dem 19. und 20. Jahrhundert wieder dorthin
zurückzukehren, längst als Mythos widerlegt
worden. Eine Vertreibung konnte bis heute
historisch nicht nachgewiesen werden – sie ist
auch höchst unwahrscheinlich, weil die Römer nie
Völker vertrieben haben, denn sie wollten von
diesen unterworfenen Völkern ja ökonomisch
profitieren. Zudem: Schon lange vor dem Jahr 70
n.u.Z. hatten Juden weite Teile des
Mittelmeerraumes und Vorderasiens besiedelt. Man
denke an den Apostel Paulus, der aus der
jüdischen Gemeinde in Tarsus in der heutigen
Türkei stammte. Außerdem haben die Juden damals
missioniert, was sogar zu großen jüdischen
Reichen in Nordafrika, im Jemen und an der Wolga
und am Don (die Herrschaft der Chasaren) führte.
Die Missionierung wurde erst eingestellt, als
das Christentum im Römischen Reich
Staatsreligion wurde und Bekehrungen nicht mehr
duldete.
Der israelische
Historiker Shlomo Sand hat nachgewiesen, dass
die meisten osteuropäischen Juden Nachfahren der
Chasaren sind. Die Gründergeneration des Staates
Israel stammte aber genauso wie das heutige
israelische, immer noch ashkenasische
Establishment aus dem polnischen und russischen
Raum – auf eine Verbindung zum „Heiligen Land“
können sich diese Menschen also kaum berufen.
Sand merkt an diesem Punkt an, dass das Thema
Chasaren deshalb in Israel ein absolutes Tabu
ist. Sand kommentiert die Abneigung, sich
wissenschaftlich mit den Chasaren zu
beschäftigen, ironisch so: „Niemand möchte die
Steine hochheben, unter denen die giftigen
Spinnen herumkrabbeln, die dem Selbstbild der ‚Ethnie‘
und seinen territorialen Forderungen schaden
könnten.“
Der amerikanische
Jude Mark Braverman hat den Christen ins
Stammbuch geschrieben, dass ihr Schweigen zur
Politik Israels eine Schande sei. Er wirft ihnen
in seinem Buch „Verhängnisvolle Scham. Israels
Politik und das Schweigen der Christen“ vor,
dass sie erneut schwere Schuld durch ihre
Weigerung auf sich lüden, die
menschenverachtende israelische Politik beim
Namen zu nennen und ihr mit Protest
entgegenzutreten. Durch diese Weigerung wollten
sie sich von ihrer Schuld von damals befreien.
Aber das kann nicht funktionieren. Deshalb
ermuntert er besonders die deutschen Christen
und ihre Amtskirche: Auschwitz ist zwar das
Sinnbild für die große Schuld der Deutschen,
aber das Symbol dieses Schreckensortes kann
keine Begründung für das Schweigen gegenüber
Israels Politik sein. „Ihr seid nicht besser
oder schlechter als andere“, mahnt er, „es gibt
nicht nur eine Schuld, es gibt auch eine
Gelegenheit, jetzt richtig zu handeln.“ Mit
anderen Worten: Der bedingungslose Kampf für die
Menschenrechte und das „Nie wieder!“ muss die
Wiedergutmachung für ihre Verachtung sein, der
sich die Generation der Großväter und Väter im
Nationalsozialismus schuldig gemacht hat.
Aber wer das auf
sich nimmt, muss – so schreibt Braverman - in
der Sprache der christlichen Symbolik das Kreuz
tragen. Und das heiße heute, sich dem Vorwurf
des Antisemitismus auszusetzen – ob durch Israel
selbst, durch die jüdischen Gemeinden in der
Diaspora oder die Freunde dieses Staates.
Bravermann hat auch das Bild von der Mauer vor
Augen. Als er in Israel und Palästina vor diesem
abstoßenden Betonmonstrum stand, habe er wie in
einer erleuchtenden Eingebung wahrgenommen, dass
er selbst eine Mauer in sich habe. Dieses
Erlebnis habe sein Leben verändert. In diesem
Zusammenhang erzählt er von dem kleinen
palästinensischen Mädchen, das ihn dort gefragt
habe, warum die Juden hinter einer Mauer leben
müssten.
Obwohl es natürlich
umgekehrt ist, hat das Kind Recht: Gerade dieses
Trennungsmoment, das Sich-Abkapseln von anderen
Völkern und Glaubensrichtungen, nicht erst seit
1945, sondern schon über die Jahrhunderte, die
Jahrtausende hindurch, macht Braverman den
jüdischen Gemeinschaften zum Vorwurf. Für die
Juden des 20. Jahrhunderts seien Religion und
Politik durch den Zionismus ineinander
verstrickt. Jeden Tag beten gläubige Juden für
den Schutz und das Wohlbefinden des Staates
Israel. Paranoia und die Wiederkehr des Amalek,
des biblischen Feinds, der in jedem Jahrhundert
wieder aufersteht, um das jüdische Volk zu
vernichten, heiße er Pharao oder Hamam oder
Hitler, Nasser oder Arafat, prägen noch das
Denken. Gegen das Heraufbeschwören dieses
Gespenstes der Paranoia setzt Braverman sich zur
Wehr.
Der amerikanische
Jude erkennt an, dass die Christen sich nach
Jahrhunderten des Antijudaismus und nach dem
Holocaust um ein neues Verhältnis zu den Juden
bemüht und auch gewonnen hätten, dieses aber nun
von ihnen dazu benutzt würde, eine neues großes
Unrecht zu rechtfertigen und Widerstand dagegen
zu diffamieren: die ethnische Säuberung
Palästinas, die systematische Verletzung der
Menschenrechte und des Völkerrechts durch den
Staat Israel. Es sei der Fehler der Christen
gewesen, dass sie den Zionismus übernommen
hätten, ihn also mit Judentum gleichsetzten. In
ihrer Scham über die Schuld an den Juden gingen
sie nun zu viele Schritte zurück, indem sie
meinten, dass den Juden dieses Land zustehe. Und
er, der Jude aus den USA, sei nun in der
merkwürdigen Situation, dass er den christlichen
Pastoren in seiner Heimat, in Europa und
besonders in Deutschland die universalistische
Position Jesu, also seine frohe Botschaft,
erklären müsse, die laute: Gerechtigkeit nicht
nur für ein Volk, sondern für die ganze Welt!
Aber nicht nur
Zionisten bauen Mauern. Zur Illustration des
Gesagten sei hier noch eine kleine Episode
erzählt – eine völlig unbedeutende Begebenheit
angesichts des großen Weltgeschehens und doch
typisch für die Haltung der offiziellen
Vertreter der christlichen Lehre – in diesem
Fall der Protestanten. In Bremen versammelt sich
an jedem Samstagvormittag vor den Treppen des
Doms für eine Stunde eine Gruppe von zehn bis
fünfzehn Leuten (zu der auch der Verfasser
dieser Zeilen gehört), die aus allen politischen
und weltanschaulichen Lagern kommen, um stumm
mit Transparenten und Schrifttafeln die Freiheit
und Selbstbestimmung, die Menschen- und
bürgerlichen Rechte für die Palästinenser
einzufordern. Natürlich geht das nicht ohne
Kritik an der Macht, die diesem Volk seine
Rechte verweigert. Zu Anfang des Unternehmens
hatte die Gruppe die Kühnheit besessen, auf den
untersten Stufen der breiten Domtreppe zu
stehen. Daraufhin erhielt sie ein in rüdem Ton
verfasstes Schreiben der Domleitung, die den
Teilnehmern der Demonstration den Aufenthalt auf
den Stufen untersagte. Beigefügt war ein Plan,
auf dem das zum Kirchenbesitz gehörende Gelände
genau eingezeichnet war, das für die Gruppe zur
verbotenen Zone erklärt wurde.
Die Kirchenleitung
begründete ihren Schritt mit dem Argument: Das
Stehen auf den Treppenstufen könnte von der
bremischen Öffentlichkeit so gedeutet werden,
dass es sich dabei um eine kirchliche Aktion
handele. Die evangelische Kirche habe mit dieser
Demonstration aber nichts zu tun und distanziere
sich ausdrücklich davon. Die elementarsten
Menschenrechte für ein besetztes und
unterdrücktes Volk einzufordern, das ist nicht
die Sache der evangelischen Kirche der
Hansestadt Bremen. Damit will sie nichts zu tun
haben. In dem Brief der Domleitung wurde sogar
der Antisemitismus-Vorwurf erhoben, dem sich die
Jüdische Gemeinde natürlich gleich anschloss.
Da ist es wieder das
symbolische Bild von der grauen, acht Meter
hohen Betonmauer, wo Maria mit ihrem Mann an
einem Tor vergeblich um Einlass bittet. Das
Mauerdenken ist auch in den Köpfen sehr vieler
Christen fest verankert. Die Hüter der
christlichen Lehre in Bremen würden Maria wohl
auch trotz aller In-Dulci-Jubilo-Posaunenchöre
und feierlichen Predigten zum Geburtsfest des
„Erlösers“ den Durchlass verweigern...