„Hitler besiegen“
Der israelische Politiker Abraham Burg hat ein Buch geschrieben, das
viele Tabus bricht und auch für uns Deutsche hochaktuell ist
Von Arn Strohmeyer
„Der Holocaust ist
vorbei, es ist Zeit, dass wir uns aus seiner Asche erheben.“ Der
Mann, der das schreibt, ist ein prominenter Israeli, ein Angehöriger
des Establishments, der in der zionistischen Hierarchie hohe
Positionen bekleidet hat. Er war nicht nur Abgeordneter der
Arbeitspartei im israelischen Parlament (der Knesset), sondern auch
dessen Präsident, dazu Vorsitzender der Jewish Agency und der
Zionistischen Weltorganisation. Sein Name: Abraham Burg, Sohn des
deutschen Holocaust-Überlebenden Josef Burg aus Dresden, der als
Minister in verschiedenen israelischen Kabinetten diente und einer
der Mitbegründer des jüdischen Staates war. Der Sohn dieses Mannes
stellt nun das ideologische Fundament, auf dem Israel ruht, in
Frage. Denn das permanente Opfer-Sein-Wollen und die Forderung, dass
„uns das nie wieder passieren darf“, ist in diesem Land
Staatsräson. Jede israelische Politik richtet sich an dieser Maxime
aus und auch die große Mehrheit der Israelis stellt sie nicht in
Frage.
Zunächst: Burg ist
ein begeisterter Israeli, er liebt sein Land über alles und preist
es bisweilen in hymnischen Worten. Aber irgendetwas in der
Entwicklung des jungen Staates ist schief gelaufen – so schief, dass
er heute um seine Weiterexistenz fürchten muss. Drei Ereignisse
macht Burg für das Desaster Israels verantwortlich. Zwei von ihnen
liegen in den sechziger Jahren eins zu Beginn der siebziger: Der
Eichmann-Prozess 1961, der Sechs-Tage-Krieg 1967 und der
Jom-Kippur-Krieg 1973. Bis zu diesen Begebenheiten sei Israel auf
einem guten, eben dem richtigen Weg gewesen: demokratisch, weltoffen
und universal. Ausgerechnet in den sechziger Jahren, in denen im
ganzen Westen eine optimistische Aufbruchstimmung geherrscht habe
und Menschen-, Frauen- und Bürgerrechte breite Anerkennung fanden,
Diskriminierungen und Rassenschranken beseitigt worden seien, habe
Israel die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen.
Burg schreibt:
„Israel und beträchtliche Teile des Weltjudentums orientierten sich
rückwärts hin zu den Grundlagen, die wir bei unserem Eintritt in die
Moderne hatten überwinden wollen. Während die anderen Länder der
Welt ihre finsteren Seiten aufgaben, zogen wir uns in unser eigenes
Gefängnis zurück. Während sie ihre Fesseln sprengten, verschlossen
wir uns hinter Gittern. Der Westen war unser Hauptbezugspunkt, zu
ihm wollten wir gehören. Aber während er sein Bewusstsein
erweiterte, verengten wir unseres. Das Judentum siegte über das
Israelischsein, die jüdische Paranoia gewann die Oberhand über das
gerade erst erworbene israelische Selbstbewusstsein und schnitt uns
von der erst jüngst hergestellten Verbindung zur neuen Ära des
Universalismus und der Liebe ab.“
Der
Eichmann-Prozess. Mit ihm habe das neue Israel, das dreizehn Jahre
lang jede Erwähnung an den Holocaust unterdrückt habe, direkt an die
jüngste Vergangenheit angeknüpft. Damit sei aber die große Chance
vertan worden, die Botschaft der Nürnberger Prozesse gegen die
führenden Nazis weiterzutragen, nämlich Verbrechen gegen den Frieden
und die Menschlichkeit anzuklagen, um daraus ein weltweit gültiges
Strafrecht und eine neue internationale Ethik zu schaffen. Denn die
israelische Führung habe mit der Gerichtsverhandlung gegen den
bürokratischen Organisator der „Endlösung“ einen Schauprozess in
rein zionistischem Rahmen veranstaltet. Sinn des Spektakels sei es
gewesen, die Geschichte des Holocaust offiziell aus der Sichte des
israelischen Establishments darzustellen. Nur so sei zu erklären,
dass man so viele Zeugen geladen hätte, die zu Eichmanns Vergehen
selbst gar nichts hätten aussagen können. Durch diese Art der
Prozessführung sei aber in Israel eine emotionale Explosion
ausgelöst worden, weil alles wieder hochgekommen sei, was bis 1961
mit großen Mühen begraben worden sei: Schmerz, Trauma, Wut und
Frustration, Rachsucht und Schuldgefühle. Ziel des Prozesses sei es
ganz offensichtlich gewesen, auf diese Weise eine neue israelische
Generation zu schaffen, die den Holocaust [Burg zieht das Wort Shoa
vor, benutzt aber beide Begriffe, d. Verf.] tief verinnerlichen und
immer gegenwärtig haben sollte. Was auch gelang.
Burg kritisiert,
dass mit diesem Prozess Hitler erneut zum Leben erweckt worden sei:
„Der Eichmann-Prozess war ein Initiationsritual, in dem sich Israel
als Opfer betätigte. Im Laufe der Jahre ist es dasselbe Lied
geblieben... Die israelische Viktimologie blüht. Den kleinen Adolf
haben wir hingerichtet, weigern uns aber nach wie vor, uns von dem
großen Adolf zu trennen, der in seinem Berliner Bunker Selbstmord
beging, für uns aber ebenso mythisch bleibt... Er wird wiederbelebt,
um uns eine Erklärung und Rechtfertigung für viele unserer Taten und
Unterlassungen zu bieten. Wir müssen uns ständig als ewige Opfer
fühlen und Opfer bringen, um uns der Verantwortung für die Realität
zu entziehen, mit der wir konfrontiert sind. Kein Wunder, dass jeder
beliebige Feind in unseren Augen zu Hitler wird und in Israels Halle
der Schande eingeht.“ An anderer Stelle schreibt Burg: „Aus einer
Gesellschaft, die die Träume ihrer Gründer verwirklichen wollte,
entwickelte sich eine verfolgte, scheinheilige Nation, die leicht in
Angst zu versetzen, rachsüchtig ist und zu Zwangsmaßnahmen neigt.
Die selbstbewusste Gründergeneration kapitulierte vor den
Überlebenden.“
Stimmen, die vor
dieser Art der Prozessführung gegen Eichmann gewarnt hatten und die
ethischen und universalistischen Aspeke der Konsequenzen des
Holocaust und der Gerichtsverhandlung in den Vordergrund stellen
wollten – wie etwa Hannah Arendt oder Martin Buber – hätte man in
den Wind geschlagen und sie sogar mit schmähender Kritik überzogen.
Burg konstatiert
beim israelischen Establishment noch zwei weitere Motive für den
Eichmann-Prozess. In Israel sei bekannt geworden, dass die
zionistische Führung im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina
während des Holocausts der Nazis nicht allzu viel getan hätte, um
die bedrohten Juden vor dem Tod zu retten. Zudem habe die
zionistische Führung eine „Auswahl“ unter den Juden in den
Vernichtungslagern in Europa getroffen, die nach Palästina kommen
sollten und durften. Man habe nur junge, kräftige und
kriegsdiensttaugliche Personen haben wollen, weil nur mit solchen
Leuten der Aufbau des künftigen Staates voranzubringen gewesen sei.
Der Aufbau hätte absoluten Vorrang gehabt. Ein furchtbarer Vorwurf,
der vor allem dem Zionistenführer David Ben Gurion und seinen
Mitstreitern galt. Deshalb sei der Schauprozess gegen Eichmann für
Ben Gurion in erster Linie auch ein Kampf um die richtige
zionistische Geschichte gewesen, also seine Antwort auf die
„Auswahl“-Vorwürfe. Burg schreibt: „Der Eichmann-Prozess war die
aggressivste Verteidigung, die Ben Gurion vor dem Gericht der
israelischen Geschichte vorbrachte.“
Als weiteren Grund
konstatiert Burg für den Eichmann-Prozess: Ben Gurion habe mit ihm
den Boden für die Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland
bereiten wollen. Eichmanns Hinrichtung sollte die symbolische
Bedeutung haben, das „alte“ Deutschland hinzurichten, um dann das
Verhältnis mit dem „neuen“ zu normalisieren. Aus diesem Grund habe
er auch den Oberstaatsanwalt veranlasst, in seiner Anklageschrift
„Deutschland“ durch „Nazi-Deutschland“ zu ersetzen. Die viel zu
frühe Versöhnung mit Deutschland habe aber die ganze Wut und die
Aggressionen der Israelis auf die Araber umgeleitet.
Der
Sechstage-Krieg 1967: Dieser Sieg über die arabischen Staaten habe
Israel in einen hybriden und irrationalen Rauschzustand versetzt.
Mit diesem gewonnen Krieg habe Israel dann an eine ferne
Vergangenheit, an das historische Land Israel, die biblische Heimat
und das glorreiche jüdische Reich, die „Wiege unserer Kultur“
angeknüpft. Diese Träume von längst vergangener Größe hätten
wiederum den heutigen Albtraum der fortgesetzten Besetzung
palästinensischer Gebiete mit all ihren Folgen entfesselt, dessen
Ende nicht absehbar sei. Dieser berauschende Sieg, die Demütigung
der Araber und die Eroberung ihres Landes („biblischer Regionen“)
habe man in Israel als „Entschädigung für die europäische Zerstörung
[die Shoa an den Juden] empfunden. „Was Hitler und Eichmann
vernichtet hätten, holten die IDF [die israelischen Streitkräfte]
und unser Nationalgeist in einem Blitzkrieg zurück.“
Der
Jom-Kippur-Krieg 1973. In diesem Krieg siegte Israel zwar, erlitt
aber hohe Verluste und empfand ihn deshalb als schwere Niederlage.
Er dämpfte die Stimmung wieder, fachte aber auch Rachegelüste und
neue Bedrohungsängste an. Alle drei Ereignisse stellten – so Burg –
für Israel den katastrophalen Wendepunkt dar, von dem an Staat und
Gesellschaft sich bis zur Unkenntlichkeit veränderten.
Burg spart deshalb
nicht mit harter, oft vernichtender Kritik an seinem Land. Die Wende
in den sechziger Jahren habe Israel auf den falschen Weg gebracht.
Vor allem sei es ein Land der Gewalt geworden. „Durch die Shoa wurde
Israel zur Stimme der Toten und spricht mehr im Namen derer, die
nicht mehr sind, als im Namen der Lebenden. Und als ob das noch
nicht genügte, ist der Krieg mittlerweile eher die Regel als eine
Ausnahme. Unsere Lebensweise ist kämpferisch gegen Freund und Feind.
Man könnte sagen, die Israelis verstünden nur Gewalt... Jeder Staat
muss vernünftige Gewaltmittel zur Verfügung haben, aber rohe Gewalt
allein genügt nicht, ein Staat braucht auch das Selbstvertrauen, sie
im Zaum zu halten. Wir verfügen tatsächlich über Gewalt, über viel
Gewalt und nur über Gewalt. Wir haben keine Alternative, keine klare
Einstellung und keinen sonderlichen Willen, unseren Einsatz von
Gewalt einzuschränken.“
Und mit Blick auf
den Holocaust schreibt er an anderer Stelle: „Das ist wie bei dem
misshandelten Kind, das zum misshandelnden Elternteil wird und so
das Pathologische seines Lebens fortführt. Ebenso kann ein
gedemütigtes, verfolgtes Volk seinen schlimmsten Peinigern ähnlich
werden. Vergangene Unterdrückung verleiht dem befreiten Volk keine
moralisch weiße Weste, eher im Gegenteil.“
Diese ständig
präsente Gewalt ist ein wichtiges Krisensymptom der israelischen
Gesellschaft. Auch hier nennt Burg als Ursache das permanente
Fixiertsein auf die Vergangenheit – die Shoa, die zum einzigen
Inhalt des israelischen Lebens geworden sei. Die Shoa sei unser
Leben, man wolle nicht vergessen und lasse nicht zu, dass jemand
„uns“ vergesse. Israel habe die Shoa aus dem historischen Kontext
gerissen und zur Entschuldigung und Triebkraft jeglichen Handelns
gemacht. Alles werde mit der Shoa verglichen, erscheine neben ihr
aber zwergenhaft klein und sei daher erlaubt. Man brauche auf nichts
und niemanden mehr moralische Rücksicht zu nehmen, weil man die Shoa
durchgemacht habe. Niemand dürfe Israel deshalb sagen, was es zu tun
habe. Auch die Eroberung des arabischen Landes werde mit diesem
Argument gerechtfertigt.
Man versteht die
israelische Politik besser, wenn man solche Sätze liest. Und es wird
klar, warum eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern so
unmöglich ist. Burg macht das Phänomen der psychischen Übertragung
für die Aggressivität der israelischen Politik verantwortlich. Er
schreibt: „Für uns ist jedes Töten Mord, jeder Mord ein Pogrom,
jeder Terroranschlag ein antisemitischer Akt und jeder neue Feind
ein Hitler. Hinter jeder Gefahr lauert ein neuer Holocaust. Wir und
viele unserer Führer, die uns aufstacheln, sind überzeugt, dass
nahezu jeder uns vernichten will. Da wir uns so von Schatten bedroht
fühlen, die uns im Morgengrauen angreifen wollen, sind wir zu einer
Nation von Angreifern geworden. In dieser Dunkelheit fühlen wir uns
wohl, weil wir uns daran gewöhnt haben.“
An anderer Stelle
präsentiert Burg diese Diagnose erneut, nun aber mit Bezug auf den
Nahost-Konflikt: „Den Arabern werden wir nie verzeihen, weil sie
angeblich genau so sind wie die Nazis, schlimmer als die Deutschen.
Wir haben unsere Wut und Rachegefühle von einem Volk auf ein anderes
verlagert, von einem alten auf einen neuen Feind, und so erlauben
wir uns, behaglich mit den Erben des deutschen Feindes zu leben –
die für Bequemlichkeit, Wohlstand und hohe Qualität stehen – und die
Palästinenser als Prügelknaben zu behandeln, an denen wir unsere
Aggression, Wut und Hysterie auslassen, wovon wir mehr als genug
haben.“ Und: „Wir verstehen jetzt nur noch die Sprache der Gewalt...
Ein Staat, der mit dem Schwert regiert und seine Toten glorifiziert,
muss in einem ständigen Ausnahmezustand leben, weil jeder ein Nazi,
ein Araber ist, alle uns hassen und die ganze Welt gegen uns ist.“
Dieses permanent
vorherrschende Gefühl der Bedrohung und des Opferseins – Burg nennt
es das „Vermächtnis der Unsicherheit“ – führt aber dazu, die innere
Ohnmacht und Existenzangst mit endloser Aufrüstung kompensieren zu
müssen. Dem Sicherheitsdenken wird deshalb alles untergeordnet. Burg
konstatiert: „Wir sind zu einer Nation der Opfer geworden, und
unsere Staatsreligion besteht in der Verehrung und Pflege von
Traumata, als ob Israel auf immer seinen letzten Weg ginge.“ Das
führt aber auf der einen Seite zu einer ständigen „Die-ganze-Welt-ist-gegen-uns-Mentalität“
und auf der anderen Seite zu ständigen Ausbrüchen von Aggression.
Burg stellt der israelischen Politik eine klare und
unmissverständliche Diagnose: Paranoia. Insgesamt 13 Mal
benutzt er diesen Begriff. Zusätzlich verwendet er auch die Worte
pathologisch und schizophren.
Paranoia bedeutet
aber Isolationismus, Abschottung, Stillstand und Stagnation – ein
Zustand, der in einer Zeit schnellen globalen Wandels nur
verhängnisvoll sein kann. Burg sieht auch noch eine andere Folge der
israelischen Paranoia und nennt sie „erschreckend“: den Rassismus.
Er schreibt: „In Israel gibt es derzeit erschreckende Elemente von
Rassismus, die sich im Grunde nicht sonderlich von dem Rassismus
unterscheiden, der viele unserer Vorfahren vernichtet hat. Dieser
Rassismus ist scheinheilig und raffiniert, sodass wir nicht immer
erkennen, wie gefährlich er ist. Zudem ist er schlau und lässt sich
gut vermarkten; manchmal halten wir ihn irrtümlich für
Patriotismus.“
Burgs Analyse ist
klar und eindeutig – auch wenn sie manche Beobachter in Europa
erstaunen oder sogar erschrecken mag. Denn er verweist auch die alte
Mähr über das ewig von der arabischen Übermacht ringsum bedrohte
kleine Israel ins Reich der Fabel, der Einbildung und Imagination. –
genau gesagt ins Reich der israelischen Ängste, die vielleicht einen
realen Kern haben mögen, aber andererseits durch Propaganda und
Erziehung permanent geschürt und instrumentalisiert werden. Burg
sieht deutlich die Gefahren, die dem jüdischen Staat aus einer
solchen Selbstisolierung – er nennt diesen Zustand mehrmals „Ghetto“
– erwachsen. Wo sieht er aber die Lösung, die Befreiung aus den
Fesseln einer solchen selbst auferlegten emotionalen Gefangenschaft?
Der Titel seines
Buches sagt es: Israel muss Hitler besiegen. Burg wir nicht müde,
immer wieder zu mahnen, dass die Tragödie aller Tragödien (eben der
Holocaust) nicht Israels letzter Weg sein darf. „Die Trauerzeit ist
vorbei“, schreibt er, „wir leben im siebten Jahrzehnt nach dem
Holocaust, und wir müssen Sack und Asche ablegen und weiter leben,
ein anderes Leben.“ Natürlich müsse man sich weiter erinnern, aber
man dürfe sich nicht mehr hinter dem Jammer, dem Selbstmitleid und
dem Opfersein verstecken, sondern müsse endlich „erwachsen“ werden
und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Nur so könne es eine
„Wiedergeburt“ geben. Sätze wie aus dem psychoanalytischen Lehrbuch,
angewendet auf eine ganze Nation und ihre politische Führung.
Was aber auch
bedeutet: Israel muss das Ghetto des chauvinistischen und
„kriegerischen Kolonialismus“ verlassen und sich wieder der alten
Tradition des jüdischen Universalismus zuwenden. Universalismus ist
überhaupt das Zauberwort für Burg. Er meint damit aber nicht nur
eine bedingungslose Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte und
des Völkerrechts, sondern auch eine völlige Umwertung des
Holocausts. Er schreibt: „Wir stutzten unsere grauenvolle
Holocaust-Erfahrung zurecht, bis sie in einige der traditionellen
jüdischen Muster passte, und fügten ihr unseren eigenen Symbolismus
hinzu... Wir verstanden die Shoa als ausschließlich uns betreffend.
Damit verpassten wir die Chance, ihre Schrecken in etwas wesentlich
Bedeutungsvolleres, Universelles zu verwandeln. Es geht nicht um uns
und die Welt, sondern um alles Gute in der Welt gegen alles Böse.
Kurz, wir nationalisierten die Shoa, monopolisierten und
verinnerlichten sie und lassen niemanden in ihre Nähe. Es ist noch
nicht zu spät. Es ist immer noch möglich, die Beziehungen zwischen
den Juden und der Welt neu zu definieren.“
Und wie soll die
Flucht aus dem „Ghetto“ gelingen: „Wir sollten nicht länger seltsame
Exponate in einem Reservat für Lebewesen sein, die von der
Ausrottung bedroht sind; vielmehr müssen wir uns in die gesamte
menschliche Gesellschaft integrieren, in der ein Verbrechen gegen
das jüdische Volk selbstverständlich ein Verbrechen gegen die
Menschheit ist. Es gibt keine separate jüdische Menschheit, und es
darf sie nicht geben. Menschheit ist Menschheit, ohne Kompromisse
und Ausnahmen. Nicht einmal für uns. Mit der Streichung dieses
Begriffes aus unseren Gesetzbüchern werden wir befreit und frei
sein.“ So gesehen könne der Holocaust dann auch keine
Einzigartigkeit mehr besitzen, wie die Zionisten es sehen. Die Shoa
wäre dann ein Verbrechen unter vielen anderen in der
Menschheitsgeschichte gewesen, wenn auch ein besonders
schreckliches.
Aus dem „das darf
uns nicht wieder passieren“ müsse dann ein universales „das
darf überhaupt nie wieder passieren“ werden – keinem Volk und keinem
Menschen auf der Welt. Jede Unterdrückung und Misshandlung von
Menschen und jeder Rassismus müssten unter Tabu gestellt werden. Das
setzt für Burg aber auch eine völlige Wandlung des Judentums voraus:
„Der Begriff Jude kann zur Bezeichnung für jeden werden, der sich
weigert, sich Diskriminierung, Bösem und Verfolgung zu beugen. Er
wird für einen freien Menschen stehen wie Judentum ein
Synonym für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sein wird... Ich
möchte sehr daran glauben, dass wir eines Tages Teil einer
weltweiten Kultur des Universalismus sein werden und eine treibende
Kraft bei der Überbrückung der Kluft, die zwischen Nationen und
Kulturen klafft.“
Burgs Utopie eines
neuen Judentums, das wieder das „Licht der Völker“ werden soll,
liegt zweifellos das untergegangene deutsche Judentum als Vorbild zu
Grunde, denn er schreibt: „Es war ein Judentum, das auf
Friedfertigkeit, Versöhnung, hoher Kultur, Identität, Integration,
Wurzeln und Moderne, Judentum und Universalismus, Glaube an den
Menschen und unendliche Unschuld bis zu seinem Ende basierte.“
Burg nennt sich
selbst einen „utopischen Juden“. Sein Buch ist in der Tat eine
bemerkenswerte Mischung aus glasklarer politischer Analyse und
utopischer Vision. Dass er Israel den Weg aus seiner
verhängnisvollen Seelenlage der Selbstisolierung zeigen will,
erinnert an Alxander und Margarethe Mitscherlichs Versuch, den
Deutschen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
„Unfähigkeit zu trauern“ vorzuhalten, um so durch einen
Erkenntnisprozess aus der seelischen Erstarrung der Nach-Hitler-Zeit
herauszukommen. Auch Burg sieht viele Parallelen zwischen dem Täter-
und Opfervolk, die offenbar durch den Holocaust wie siamesische
Zwillinge aneinander gekettet sind.
Nun mag es
dahingestellt sein, ob den Deutschen die Aufarbeitung ihrer
Vergangenheit gelungen ist – einiges spricht dafür, anderes dagegen.
Denn der Anspruch, dies zu leisten oder geleistet zu haben, ist
hoch, wenn die Mitscherlichs schreiben: „Um die Fähigkeit zu trauern
zu entwickeln, ist eine besondere Art der Erinnerungsarbeit
notwendig, die die Wiederbelebung unserer damaligen
Verhaltensweisen, unserer Gefühle und Phantasien einschließt.“ Sie
präzisieren dann, was Trauer überhaupt ist: „Trauer ist ein
seelischer Vorgang, in dem ein Individuum einen Verlust mit Hilfe
eines wiederholten, schmerzlichen Erinnerungsprozesse langsam zu
ertragen und durchzuarbeiten lernt, um dann zu einer
Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen
seiner Umgebung fähig zu werden.“ (Hervorhebung
vom
Verfasser)
Die partiellen
Parallelen zwischen Täter- und Opfervolk in der Aufarbeitung des
Schreckens sind in der Tat frappierend, wenn auch die Perspektive
natürlich jeweils eine ganz andere ist. In Deutschland war die Folge
des Nicht-Trauernkönnens über den begangenen Massenmord an den Juden
die Flucht in „manische Überaktivität“ und die Konzentration auf
„Erfolge in der äußeren Welt“ (so die Mitscherlichs) – Stichwort
„Wirtschaftswunder“. Folgt man der Argumentation von Abraham Burg,
haben die Israelis in ihrer Mehrheit die Trauerarbeit über ihre
Toten im Holocaust auch nicht wirklich geschafft. Denn die
„offizielle“ Trauer in Israel war und ist danach kein wiederholter
schmerzlicher Erinnerungsprozess, in dem man den Verlust zu ertragen
und durchzuarbeiten lernt, sondern er besteht aus erstarrten
Ritualen wie speziellen Feiertagen, Heldenverehrung und einer sehr
einseitigen Erziehung. Auch die Gründe für die hohe Gewalt- und
Kriegsbereitschaft sind demnach in der Abwehr wirklicher
Trauerarbeit zu suchen. Hatten die Mitscherlichs als Folge der
Trauerabwehr einen sozialen und geistigen Immobilismus bei den
Deutschen konstatiert, stellt Burg dasselbe Phänomen der
„Stagnation“ in der heutigen israelischen Gesellschaft fest.
Als besonders
abstoßendes Beispiel einer misslungenen Trauerarbeit führt Burg die
vom Staat organisierten Jugendreisen nach Auschwitz an, weil diese
nicht die Absicht hätten, die jungen Menschen zum Trauern über die
Opfer des Holocaust anzuleiten, sondern sie zum fanatischen
Nationalismus zu erziehen. Er schreibt: „Ich halte die für Israelis
verpflichtenden Gedenkreisen nach Polen für verfehlt und gefährlich.
Da dieses Erlebnis sehr emotional ist, kultivieren wir eine
unbewusste mentale Realität, die sämtliche Schrecken der
Vergangenheit rekonstruiert und klont, damit zukünftige Generationen
sie auffrischen und perpetuieren. Es ist wie eine kollektive
Reinkarnation. Statt aus dem pathologischen Kreislauf auszubrechen,
setzen wir ihn fort. Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns
selbst. Statt zu vergessen, kratzen wir unsere Wunden auf, damit sie
wieder bluten. Israelische Nationalseparatisten finden in den
Aschehaufen – die einmal lächelnde kreative Menschen waren – einen
Nährboden für gepeinigte Seelen.“
Bis zu diesem
Punkt kann man dem Autor folgen, weil er tiefe Einblicke in die
Seelenlage und Politik Israels vermittelt. Und mit so radikaler
Offenheit spricht man im Land der Täter, in dem die enge
Freundschaft mit Israel nicht hinterfragbare „Staatsräson“ ist,
natürlich nicht über den Judenstaat. Aber Burg bleibt bei seiner
Kritik und der Erklärung guter Absichten stehen. Offenbar soll das
im Sinne des Universalismus erneuerte Judentum automatisch alle
Probleme Israels lösen – und die der ganzen Welt gleich mit. Denn
Burg betont immer wieder, dass ein universalistisches Israel
Vorbildcharakter für alle Völker der Welt habe – Israel als „Licht
der Völker“, das danach streben solle, die Moral der Welt zu
verändern.
Anstatt so nach
den Sternen zu greifen, müsste doch erst einmal der Dreck vor der
eigenen Tür weggekehrt werden. Über Israels grausame
Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern verliert er aber nur
wenige Sätze. Auf das Problem der jüdischen Siedlungen auf geraubten
Land, das das größte Friedenshindernis darstellt, geht er nur
indirekt ein. Er wettert gegen die jüdischen Fundamentalisten, die
den Hauptanteil der Siedler stellen, die er mit den Nazis
gleichsetzt und „spirituelle Schurken“ nennt, die das Judentum
desavouieren. Er malt die Gefahr der nicht unwahrscheinlichen
Machtübernahme dieser Radikalen an die Wand und vergleicht deshalb
das heutige Israel mit dem Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis
1933, also die Zeit der Weimarer Republik bis zum Machtantritt
Hitlers, was in Israel nach Erscheinen des Buches dort große
Empörung ausgelöst hat.
Man weiß aus
Interviews, dass Burg für die Schaffung eines Palästinenser-Staates
ist, schon weil er nicht unter einer nicht-jüdischen Mehrheit leben
möchte. Aber in seinem Buch sagt er das nicht so konkret. Im
Gegenteil, er blendet die entscheidende Frage aus: Wie soll der
zionistische Traum von einem Großisrael auf einem Boden verwirklicht
werden, auf dem seit Jahrhunderten ein anderes Volk siedelt? Und
wenn Burg die Schuld für die Besiedlung des Westjordanlandes (und
bis 2005 auch des Gaza-Streifens) ausschließlich den jüdischen
Fundamentalisten zuschiebt, wie er es in seinem Buch tut, dann ist
diese Behauptung schlicht unwahr. Denn er verschweigt dann, dass
alle israelischen Regierungen – egal welcher Parteizugehörigkeit –
seit 1967 die Siedlungspolitik gebilligt und mit Milliarden von
Dollars unterstützt und damit das Problem erst geschaffen haben.
Unvergesslich sind
Ariel Sharons Worte, die er den jungen Israelis zurief: „Geht
schnell auf die Hügel des Westjordanlandes und besetzt so viele von
ihnen wie Ihr könnt. Die Gelegenheit wird nie wieder so günstig
sein!“ Hinter der völkerrechtswidrigen Besiedlung dieses Gebietes
stand und steht der politische Wille aller wichtigen israelischen
politischen Kräfte und ohne den Flankenschutz der israelischen Armee
wäre diese Politik gar nicht möglich gewesen.
Auch die
Verklärung des frühen Israel durch Burg mutet befremdend an. Denn
die Zionisten wollten von Anfang an (die ersten Siedler kamen um
1880) ihr Siedlungsprojekt auf arabischem Land durchführen. Dass das
nicht ohne Gewalt gehen würde, war auch den zionistischen
Gründervätern klar. Sie wussten, dass „das Volk ohne Land nicht in
ein Land ohne Volk“ kommen würde. So schrieb schon Theodor Herzl,
der Begründer des Zionismus, in sein Tagebuch: „Wir sollten
versuchen, die arme Bevölkerung [in Palästina] wegzubekommen, indem
wir für sie Arbeit in den Nachbarstaaten besorgen. Gleichzeitig
sollten wir ihnen jede Beschäftigung in unserem Land verweigern. Die
Reichen werden wir für uns gewinnen. Beides – der Prozess der
Enteignung und der Vertreibung der Armen – muss diskret und
umsichtig durchgeführt werden.“
Und Ben Gurion
bekannte nach der Staatsgründung in einem Brief an den Präsidenten
des Jüdischen Weltkongresse Nahum Goldmann: „Wenn ich ein arabischer
Führer wäre, würde ich niemals eine Einigung mit Israel anstreben.
Das ist ganz natürlich: Wir haben ihr Land in Besitz genommen.
Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was haben sie damit zu
tun? Unser Gott ist nicht der Ihre. Wir kommen von Israel, das ist
wahr. Aber 2000 Jahre ist das her, was geht sie das an? Es hat
Antisemitismus gegeben, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das
ihre Schuld? Sie sehen nur das Eine: Wir sind hierher gekommen und
haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das einfach hinnehmen?“
Die Gründung und
erfolgreiche Entwicklung Israels war nur durch die Vernichtung der
über ein Jahrtausend alten arabischen Gesellschaft in Palästina
möglich – einschließlich der Vertreibung des größten Teils der
palästinensischen Bevölkerung, durch die Enteignung ihres Bodens und
den Verlust ihres Hab und Gutes. Diese Katastrophe der Palästinenser
von 1948 (die „Nakba“) erwähnt Burg auch mit keinem Wort. Auch die
Schuld nicht, die Israel durch diesen Vorgang auf sich geladen hat,
die nach historischer Aufarbeitung, Wiedergutmachung und
Entschädigung verlangt. Israel weigert sich bis heute, für diese
Untaten die Verantwortung zu übernehmen.
Da ist es schon
ein seltsamer Widerspruch, dass Burg ein in Teilen ein sehr
aufrichtiges und moralisches Bekenntnisbuch geschrieben hat, das in
anderen Teilen aber den Willen zur Auseinandersetzung mit der
Geschichte und Gegenwart Israels vermissen lässt. Denn er geht
ausführlich auf andere Weltprobleme und die daran beteiligten Völker
ein: Kurden, Tibeter, Armenier, Indianer und australische
Ureinwohner. Er schreibt über China, Indonesien, Osttimor,
Kambodscha, Darfur und Ruanda, aber die Unterdrückung der
Palästinenser durch die israelische Besatzungspolitik und deren
verheerende Rückwirkungen auf die Israelis selbst streift er nur am
Rande.
Ein mitfühlender
Beobachter des Nahost-Konflikts hat einmal geschrieben: Erst wenn
beide Seiten bereit sind, die Leiden der anderen Seite anzuerkennen,
kann es in dieser Region Frieden geben. Das klingt gut und ist doch
nicht korrekt. Denn das andauernde israelische Siedlungsprojekt mit
all seinen furchtbaren Folgen ist die Ursache für das Leiden der
Palästinenser, aber diese sind nicht für die Leiden der Israelis
verantwortlich– den Holocaust. Sie hatten damit nichts zu tun und
müssen aber dennoch schon seit Jahrzehnten die bitteren Konsequenzen
tragen. Abraham Burgs Tabu brechendes Buch wäre noch
beeindruckender, wenn er diese Zusammenhänge mit derselben
Ehrlichkeit aufgearbeitet hätte wie die Ursachen des israelischen
Leidens. Denn diese Leiden und die der Palästinenser hängen
untrennbar zusammen und ohne eine faire und gerechte Lösung des
Palästinenser-Problems wird es in Israel keinen Sieg über Hitler
geben.
Abraham Burg:
Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss,
Campus Verlag Frankfurt/ New York 2009, 29,80 Euro
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