Wie Israel das „Heilige Land“ eroberte /
Das neue Buch des Zambon-Verlages: „Palästina. Ethnische
Säuberung und Widerstand“
Arn Strohmeyer
„Oft
wurde uns gesagt, dass wir wegen der Leiden, die die Juden
in Europa seitens der Nationalsozialisten ertragen mussten,
Sympathie für Israel empfinden müssten. Ich sehe in einer
solchen Empfehlung keinen Grund dafür, die Leiden anderer zu
perpetuieren. Das, was Israel heute anrichtet, kann nicht
mit Nachsicht behandelt werden. Die Schrecken der Verfolgung
heraufzubeschwören, um die Gegenwart zu rechtfertigen, ist
nichts als pure Scheinheiligkeit!“
Ein mutiges Wort, das gut in die gegenwärtige
Debatte in Deutschland über das Thema „Darf man Israel
kritisieren?“ und Antisemitismus passt. Denn die Freunde
Israels, die die Politik dieses Staates trotz ständigen
Bruchs des Völkerrechts und der Menschenrechte, trotz
permanenter Kolonisierung und Landraub, Gewaltausübung,
Blutvergießen, Verhaftungen und ununterbrochener Kontrollen
rechtfertigen und verteidigen, benutzen den
Antisemitismus-Vorwurf ohnehin nur als Schutzschild, um eben
diese Politik des permanenten Unrechts zu kaschieren und
ihre Gegner zu diffamieren. Sie erweisen Israel und „den“
Juden damit einen denkbar schlechten Dienst. An einer
Debatte über wirklichen und nicht herbeigeredeten
Antisemitismus würde man sich gern beteiligen und auch
solidarisch hinter den Angegriffenen und Bedrohten stehen.
Eine Selbstverständlichkeit, wenn man die Katastrophen der
deutschen Geschichte ernst nimmt.
Die oben zitierte Zeilen sind aber kein
aktueller Beitrag zu dieser unseligen Debatte, sondern eine
Feststellung des britischen Philosophen Bertrand Russell aus
dem Jahr 1970! Er fügt gleich noch einige Sätze hinzu, die
auch 41 Jahre nach ihrer Niederschrift noch genauso wahr
sind wie damals: „Die Tragödie des palästinensischen Volkes
besteht in der Tatsache, dass ihr Land von einer
ausländischen Macht an ein anderes Volk ‚übergeben‘ wurde,
das darauf einen neuen Staat errichten sollte. Dabei kam
heraus, dass hunderttausende unschuldige Personen für immer
Obdachlose wurden. Nach jeder Auseinandersetzung ist ihre
Zahl angewachsen. Wann wird die Welt das Spektakel dieser
hemmungslosen Grausamkeit tolerieren? Es ist eine
Selbstverständlichkeit, dass die Flüchtlinge das Recht auf
ihr Vaterland haben, aus dem man sie verjagt hat. Die
Verweigerung dieses Rechts ist die Grundlage des andauernden
Konflikts.“ Man erinnere sich an die Bilder des vergangenen
Wochenendes, als Palästinenser ( die Kinder und Enkel der
Vertriebenen) versuchten, an verschiedenen Stellen gewaltlos
die israelische Grenze zu überschreiten, um genau dieses
Recht einzufordern. Zwölf Tote und über 200 Verletzte
blieben auf der Strecke.
Entnommen sind die Zitate des großen
britischen Philosophen dem Buch „Palästina. Ethnische
Säuberung und Widerstand“, das der jüdische (aber
antizionistische) Zambon-Verlag in Frankfurt/ Main gerade
herausgebracht hat. Der Zeitpunkt war offenbar gut gewählt,
widmet sich das aus dem Italienischen übersetzte Buch doch
ausführlich der palästinensischen Katastrophe (der Nakba),
die sich gerade zum 53. Mal jährte. Die Texte stammen von
acht italienischen Autoren - alle exzellente Kenner der
Materie. Unter ihnen ist auch der charismatische Kämpfer für
die Selbstbestimmung der Palästinenser Vittorio Arrigoni,
der vor wenigen Wochen unter so mysteriösen Umständen in
Gaza ums Leben gekommen ist.
Sein Beitrag über die Situation im
Gazastreifen ist denn auch einer der eindrucksvollsten des
Buches, ohne die Beiträge der anderen Autoren im geringsten
schmälern zu wollen. Als Augenzeuge vor Ort schildert er die
ganze Brutalität der Abriegelung dieses durch die
Flüchtlinge völlig übervölkerten Landstrichs und ihre
Folgen, die dann im Krieg von 2008/2009 gipfelten. Wie die
Menschen exemplarisch für das „Verbrechen“ bestraft wurden,
„sich eine Regierung mit Hilfe von freien und demokratischen
Wahlen selbst ausgesucht zu haben und dem besser bewaffneten
Unterdrücker nicht unterliegen zu wollen.“ Die Strafe für
dieses „Verbrechen“ bestand dann in dem Krieg von 2008/2009,
in dem Israel - auch nach Angaben der
Menschenrechtsorganisation Amnesty International -
„Kriegsrecht gebrochen hat“, und Waffen einsetzte, „die für
den Gebrauch auf den Schlachtfeldern geeignet sind, hier
aber gegen die zivile Bevölkerung eingesetzt wurden, die im
Gazastreifen ohne Fluchtmöglichkeit in der Falle sitzt.“ Und
die Daten vom Amnesty International, die Arrigoni zitiert,
belegen, dass die Angriffe auf Gaza an Umfang und Stärke
„beispiellos“ waren.
Der letzte Absatz von Vittorio Arrigonis Text
klingen fast wie sein Vermächtnis. Daher sei er hier
zitiert: „Unter dem Rost des Verfalls und den Trümmern
glänzt Gaza für sich wie ein Juwel und gleichzeitig für die
Welt wie eine Schande. Wer, wie ich, das Schicksal der
Gaza-Bewohner so nahe miterlebt hat, dass er fast auch zum
Mitbürger geworden ist und folglich Gefangener ohne
Fluchtmöglichkeit, für den ist Gaza ein Symbol für den
dauernden Widerstand gegen eine übermächtige Unterdrückung.
Die Steinschleuder des kleinen David am Gürtel von Ahmed
gegen einen Goliath, der Hebräisch spricht, und sich
bevorzugt mit DIME-Bomben und dem weißen Phosphor aus dem
fernen amerikanischen Land, seit neuestem mit schwarzen
Präsidenten, ausdrückt. Ein Symbol des Lampfes für die
Menschheit, die sich nicht schweigend beugen will und eine
Schmach für die, welche sich mit der Auslöschung eines
ganzen Volkes schon abgefunden haben. Denn Gaza ist noch
nicht zu einem dichten Gräberfeld am Mittelmeer verkommen,
sondern es ist voller Menschen mit unbeugsamen Geist und
undurchdringlichen Gesichtern, die in eine unbekannte
Zukunft blicken. Restiamo umani - lasst uns Menschen
bleiben!“
Wer sich ohne Tabus und ideologischen
Scheuklappen vor den Augen über die wahre Geschichte des
Palästina-Konfliktes informieren will, sollte zu diesem Buch
greifen. Italiener können - trotz ihrer auch faschistischen
Vergangenheit - offensichtlich sehr viel unbefangener an das
Thema herangehen als die Deutschen. In Deutschland hat
jedenfalls - von wenigen Ausnahmen abgesehen - noch kein
Autor dieses heiße Eisen in einer solchen Ausführlichkeit
und Detailbesessenheit angepackt. Und die oft grausamen und
furchtbaren Fotos zeigen deutlich, was sich im Nahen Osten
wirklich abspielt und was unsere Medien uns vorenthalten.
Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
schwelende Konflikt, als die ersten Zionisten ins Land kamen
und ihren Anspruch darauf anmeldeten, ist ja ein gutes
Beispiel dafür, dass man politische Probleme der Gegenwart
ohne die Kenntnis ihres historischen Zustandekommens gar
nicht verstehen kann. Nach der Lektüre dieses Buches sieht
man Israel und den Nahen Osten anders - eben so, wie er
wirklich ist: Dass hier eine von außen kommende Macht ohne
Rücksicht auf die dort lebenden Bewohner die Herrschaft für
sich beansprucht - gemäß der Aussage des ersten israelischen
Regierungschefs David Ben Gurion, der schon 1937 schrieb:
„[Ein] jüdischer Staat in einem Teil [Palästinas] ist nicht
das Ziel, sondern der Ausgangspunkt (...) Ein Gebiet in
unserem Besitz wäre nicht nur an und für sich wichtig. Es
macht uns stärker, und was uns stärker macht, ist dazu
bestimmt, die Eroberung des ganzen Landes zu erleichtern.
Einen kleinen Staat zu gründen liefert uns einen Hebel für
unseren historischen Versuch, die gesamte Region zu
befreien.“
Palästina. Ethnische Säuberung und
Widerstand. Autoren: Arrigoni, Vittorio; Canarutto, Paola;
Dametti, Margherita; Forti, Giorgio; Giannangeli, Ugo;
Lastaria, Federico; Tafeche, Dirar, Zambon, Guiseppe,
Zambon-Verlag Frankfurt/ Main 2011, ISBN 9783889751560, 35
Euro