Arn
Strohmeyer
Der Disput über den sehr
deutschen Begriff der "Leitkultur" und den einen Satz des
neuen Bundespräsidenten Christian Wulf, dass "der Islam zu
Deutschland gehört", füllt immer noch die Seiten der
Gazetten. Aber ist diese Aussage wirklich so bedeutend? Sie
ist eigentlich eher eine Selbstverständlichkeit, wenn vier
Millionen Muslime - zum Teil seit Jahrzehnten - im Land
leben und die nicht zu übersehenden Minarette der Moscheen
überall ihre Anwesenheit anzeigen. Wulff und andere
Politiker werden nicht müde auch darauf hinzuweisen, sich
gleichzeitig vom Islam distanzierend, dass die Wurzeln der
westlichen Kultur "jüdisch-christlich" seien. Das ist
historisch nicht nur inkorrekt, es ist schlicht falsch. Denn
eine gemeinsame "jüdisch-christliche" Tradition in diesem
Sinne hat es in der Geschichte nicht gegeben und ein
"jüdisch-christlicher" Dialog hat erst nach dem Völkermord
der Nazis an den Juden eingesetzt. Die gemeinsame
Vergangenheit ist eine nachträgliche Erfindung vor allem der
von Schuld geplagten Deutschen den Juden gegenüber und
offenbar auch ein ideologisches Zugeständnis an Israel. Mit
der historisch falschen Bindestrich-Ideologie wollen
deutsche Politiker - so ist zu vermuten - ihre engen
Beziehungen zu diesem Staat (und den Juden) unterstreichen,
die nach bundesdeutschem Verständnis "bedingungslose
Staatsräson" sind. Dass dabei wieder einmal
fälschlicherweise Israel mit Judentum gleichgesetzt wird,
fällt dabei gar nicht auf. Die Bindestrich-Ideologie ist
offenbar Teil vor allem konservativen Staatsverständnisses.
Beleg für solche Vermutungen
ist etwa die Rede, die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008
anlässlich des 60jährigen Bestehens Israels in der Knesset
in Jerusalem hielt. Sie betonte darin neben den sich aus der
deutschen Geschichte ergebenden "Besonderheiten" der
Beziehungen beider Staaten die "wertegebundenen
Gemeinsamkeiten" zwischen ihnen, die auf den Werten
Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenwürde
beruhten. Angesichts der Realitäten im besetzten
Westjordanland und im belagerten Gaza-Streifen sowie der
Palästinenser in Israel selbst kann man diese Äußerungen nur
als grenzenlos Chuzpe oder blanken Zynismus bezeichnen. Der
israelische Historiker Moshe Zuckermann kommentierte diesen
Sachverhalt denn auch so: "Israel hält sich für westlich,
ohne jedoch die strukturellen Koordinaten westlicher
Zivilgesellschaften wahren zu wollen."
Wie falsch die
Bindestrich-Ideologie ist, zeigt zudem ein Blick in die
Geschichte. Der Bindestrich zwischen "christlich-jüdisch"
erweckt den Eindruck, als hätte das Wirken der beiden
Religionen ganz automatisch über die Stationen Reformation
und Französische Revolution zu dem geführt, was man heute
die abendländische oder westliche Kultur nennt. Das
Gegenteil war der Fall. Man muss klar konstatieren: Die
"jüdisch-christliche" Tradition ist ein Konstrukt der
europäischen Moderne. Denn die Christen begegneten den
Juden, die für sie die Mörder des Gottessohnes waren, von
Anfang an mit leidenschaftlichem Hass, der sich über die
Jahrhunderte hielt und nicht nur zur Unterdrückung und
Ausgrenzung dieser Minderheit führte, sondern auch zu
unzähligen gewaltsamen Ausschreitungen (Pogromen), die
vermutlich Hunderttausenden von Juden das Leben kosteten.
Letztendlich bereitete dieser Judenhass oder Antijudaismus
den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden
säkularen Antisemitismus vor, der dann in dem von den Nazis
durchgeführten Holocaust seinen schrecklichen Höhepunkt
fand. Was die Frage aufwirft, wie ein so gut wie zu hundert
Prozent vom Christentum geprägtes Volk wie das deutsche zu
einem solchen Mega-Verbrechen fähig war. Jüdische
Intellektuelle haben zudem immer wieder darauf hingewiesen,
dass die Kreuzestheologie des Christentums für das Judentum
reine Blasphemie sei.
Man kann natürlich
argumentieren, dass der Bindestrich zwischen
"christlich-jüdisch" sich nicht auf das Verhältnis der
beiden Religionen zueinander bezieht, sondern nur auf den
gemeinsamen biblischen Ursprung. Vertreter dieser Position
glauben auch, die heutige politische Kultur aus der Religion
- besonders der jüdischen - ableiten zu können. Der
biblische Satz, dass alle Menschen vor Gott gleich seien,
habe letztendlich zu Demokatie und Rechtsstaat geführt. Und
die Tatsache, dass König, Priester und Propheten im
(mythischen) Reich König Davids unabhängig voneinander
agieren konnten, wäre der Ausgangspunkt für den Gedanken der
Gewaltenteilung gewesen - wie die modernen westlichen
Demokratien sie heute kennen, also Exekutive, Legislative
und Jurisdiktion. Aber wann und wo haben die Kirchen oder
die von ihnen beeinflusste Kultur diese Prinzipien in der
Praxis realisiert und gelebt? Sie sind erst von Vertretern
der Aufklärung im 18. Jahrhundert formuliert und dann gegen
den erbitterten Widerstand der Kirchen durchgesetzt worden.
Auch die Abfassung der allgemeinen Menschenrechte ist ein
Produkt der Aufklärung. Die Kirchen haben noch weit bis ins
16. Jahrhundert hinein gefoltert und Hexen verbrannt. Man
muss ja wohl klar zwischen den aus den religiösen Schriften
abgeleitetem Anspruch und der von der Religion geschaffenen
soziopolitischen Realität unterscheiden.
Ganz übersehen wird von den
Ideologen der christlich-jüdischen Tradition, dass die
Verbindung zwischen jüdischer kosmopolitischer Gelehrsamkeit
und arabischer Aufklärung sehr eng war - viel enger als
zwischen christlicher Theologie und jüdischem Geistesleben.
So weist die Judaistin Almut Shulamit Bruckstein Coruh im
Zusammenhang mit der engen Liaison zwischen Juden und
Muslimen daraufhin, dass der große jüdische Philosoph Moses
Maimonides (1135 - 1204) zu den arabisch-sprachigen Juden
des Maghreb gehörte und seine Philosophie Teil der
arabischen Aufklärung gewesen sei. Für ihn sei Rabbinisches
und Islamisches in vielerlei Hinsicht eng verwoben gewesen.
Im 18. Jahrhundert griff der deutsch-jüdische Philosoph
Moses Mendelssohn (1729 - 1786) in seiner politischen
Aufklärungsschrift "Jerusalem" da, wo er von Kant abweicht,
auf Argumente der arabischen Aufklärungstradition zurück.
Und im 20. Jahrhundert hat der französische Philosoph Jaques
Derrida immer wieder davor gewarnt, Jüdisches von Arabischem
zu trennen oder gar einer jüdisch-christlichen Geschichte
zuzuordnen, so Bruckstein Coruh.
Der moderne Begriff der Bildung
hat seine Wurzeln weder im Christentum noch im Judentum,
sondern in der Aufklärung. Das Mittelalter kannte so etwas
wie Volksbildung gar nicht. Wissensvermittlung war auf die
Klöster und später auf die von den Kirchen getragenen
Universitäten beschränkt, zu denen aber nur eine Minderheit
Zutritt hatte. Zuerst unternahmen die Humanisten im Gefolge
der Reformation den Versuch, Bildung auf eine breitere Basis
zu stellen, die allgemeine Schulpflicht hat aber erst
Preußen im 18. Jahrhundert eingeführt, auch das ein Ergebnis
der Aufklärung.
Wenn Politiker die Antike als
Quelle der abendländischen Kultur zu nennen vergessen, ist
das ein schwerer Lapsus. Denn der Untergrund der geistigen
Landschaft der westlichen Welt wurde im antiken Griechenland
bereitet. Die Griechen zeichneten als erste die Landkarte
unserer Begriffswelt und formulierten die Grundelemente
unseres Denkens und unserer Betrachtungsweisen. Selbst die
Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, machten die
Griechen zum Kern der westlichen Kultur. Das Wort Alphabet
ist griechischen Ursprungs, gebildet eben aus den beiden
ersten Buchstaben des ABC Alpha und Beta. Ein moderner
Philosoph hat einmal angemerkt, dass es keinen Gedanken in
der heutigen Wissenschaft gebe, den die Griechen nicht
zumindest schon angedacht hätten. Die
christlich-mittelalterliche Philosophie - eine Wissenschaft
im modernen Sinne kannte diese Zeit noch nicht - war
hauptsächlich damit beschäftigt, die Schriften des antiken
Philosophen Aristoteles auszulegen.
An dieser Stelle kommt auch der
Islam wieder ins Spiel. Denn das Abendland besäße die antike
Überlieferung gar nicht, wenn arabische Gelehrte nicht ihren
hohen geistigen Wert erkannt hätten, sie gerettet und
aufbewahrt hätten. Nur so konnte sie nach Europa gelangen
und blieb der Weltkultur erhalten. Die Christen hatten wenig
Achtung vor den antiken Hinterlassenschaften, sie galten
ihnen als "heidnisch" und wurden zumeist systematisch
vernichtet. Der Beitrag der Muslime zur Kultur des Westens
ist also ganz beträchtlich. Auch das müsste in der
gegenwärtig laufenden Diskussion erwähnt werden. Man hat
wohl gute Gründe dafür, so etwas wie eine
"jüdisch-christliche" Tradition des Abendlandes zu erfinden
und sie dem Volk permanent vorzuhalten, die wahren
historischen Zusammenhänge aber zu verschweigen. Man
verbreitet also weiter das falsche historische Konstrukt der
Bindestrich-Ideologie, um nicht zuletzt Israel, das sich zum
Westen gehörig fühlt, ohne aber dessen Werte wirklich zu
teilen, einzubeziehen und den Islam auf Distanz zu halten.
Aber auf falschen Voraussetzungen kann man keine richtige
und realistische Politik machen.