In
Deutschland nimmt die inquisitorische Jagd der Israel-Lobby
auf vermeintliche „Antisemiten“ immer drastischere,
brutalere, aber auch kuriosere Formen an. Veranstaltungen
wie Vorträge, Lesungen, Seminare und Ausstellungen (sogar
Konzerte wie kürzlich in München) werden auf den Index
gesetzt, und es wird mit allen erdenklichen diffamierenden,
verleumderischen und denunzierenden Mitteln versucht, solche
events – unter dem Vorwand sie seien „antisemitisch“, zu
verhindern. Dass solche Methoden totalitär sind und die
hohen demokratischen Güter der Meinungs-, Informations- und
Wissenschaftsfreiheit sowie der Menschenrechte und des
Völkerrechts nur mit völliger Verachtung strafen, schert
diese Leute nicht im geringsten. Diese Art von
Gesinnungsjagd hat das einzige Ziel, jeden Diskurs über
Israels verbrecherische Politik gegenüber den Palästinensern
zu verhindern und ist längst zu einer eigenständigen
fanatischen Ideologie geworden, die den Antisemitismus, der
ja eigentlich bekämpft werden soll, eher fördert als ihn
aktiv anzugehen.
Aber
Gottseidank gibt es immer noch couragierte Verleger und
Autoren, die keine Angst vor dieser selbsternannten
Zensurpolizei haben und im besten Sinne aufklärerische
Bücher publizieren, die sich mutig und tabulos mit der
israelischen politischen Realität auseinandersetzen. So ist
es dem noch jungen Cosmics-Verlag mit ihrem Mentor Abrahan
Melzer zu danken, dass er das neueste Buch des israelischen
Historikers Ilan Pappe herausgebracht hat, das den fast
harmlosen Titel trägt „Was ist los mit Israel? Die zehn
Hauptmythen des Zionismus“. Aber hinter dieser Zeile
verbirgt sich politisch-intellektueller Sprengstoff
allergrößten Ausmaßes.
Ilan Pappe
ist durch sein inzwischen zum Standardwerk gewordenen Buch
„Die ethnische Säuberung Palästinas“ einem großen Publikum
bekannt geworden. In diesem Text legte er schonungslos die
Vertreibungspolitik der zionistischen Führung und später
(nach der Staatsgründung im Mai 1948) der israelischen
Regierung bloß, die er ein „Verbrechen gegen die Menschheit“
nennt – ein Kapitel, das bis heute in Israel vollständig
tabuisiert ist. Pappe musste einen hohen Preis für seinen
wissenschaftlichen Mut zahlen. Nach beispiellosen
Mobbing-Attacken auf ihn verließ er Israel und forscht und
lehrt heute über den Nahen Osten an der Universität von
Exeter (England).
Dass Pappe
sich kritisch mit den Mythen der israelischen Geschichte und
Politik auseinandersetzt, hat seinen guten Grund und auch in
Israel eine Tradition. Denn erstens wird wohl in keinem
anderen Staat so intensiv Politik mit Mythen gemacht wie
dort, die dann zumeist nur eine andere Form der staatlichen
Propaganda (Hasbara) sind. Das fängt bei dem Anspruch auf
das Land an, der aus biblischen Erklärungen abgleitet wird,
die aber keinerlei historische Aussagekraft haben. Das ganze
zionistische Geschichtsbild ist aus Mythen zusammengesetzt –
der Vertreibung nach der Eroberung Jerusalems durch die
Römer 70 n. u. Z., dem Exil und der Rückkehr in die „alte
Heimat“. All das sind Behauptungen, die ironischer Weise
gerade von israelischen Historikern und Archäologen längst
widerlegt worden sind.
Die Mythen,
die die israelischen Ideologen kreiert haben, sollen vor
allem Argumente und Rechtfertigungen für Israels politisches
Vorgehen schaffen, halten aber in den wenigsten Fällen einem
kritischen Hinterfragen stand. Dennoch hält das offizielle
Israel an ihnen fest. Der Zionistenführer und spätere erste
Ministerpräsident des Landes, Ben Gurion, ging so weit zu
behaupten, dass ein starker Glaube an den Mythos ihn in
Wahrheit und Realität verwandelt, zumindest so gut wie. Was
ja heißt, der Mythos ist an sich etwas Fiktives, eine nicht
objektive menschliche Wahrheit, die aber durch menschliches
Zutun und Fantasie zur Wahrheit und Realität werden kann.
Einer der
ersten israelischen Historiker und Publizisten, die sich
daran machten, die Mythen des Zionismus zu
entmythologisieren, war der Historiker, Publizist und
Politiker Simcha Flapan (1911 – 1981). In seinem Buch „Die
Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit“ (deutsch 2006)
wartete er mit einer Fülle von historischen und politischen
Enthüllungen auf, die Israels Geschichte und Gegenwart in
einem völlig neuen Licht erscheinen ließen, indem er die
offizielle zionistische Geschichtsschreibung in großen
Teilen als propagandistische Mythen entlarvte.
Er tat das
aber nicht um der Sensation willen, sondern er verfolgte
eine klare Absicht: „Mein Buch soll dazu dienen,
propagandistische Denkstrukturen aufzulösen, die so lange
verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des
Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die den
Intellektuellen und den Freunden beider Völker [der Israelis
und der Palästinenser] zufällt, besteht nicht darin,
ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen des
Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu
tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise
schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu
sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu
schaffen.“
In dieser
aufklärerischen Tradition steht auch Ilan Pappe. Er
definiert das Problem zunächst ganz allgemein: Eine durch
Manipulation verfälschte Sicht der Geschichte, die dann auch
noch die Gegenwart entstellt, verhindert das Verständnis
eines Konflikts und versperrt so den Weg zu einem
dauerhaften Frieden und kann nicht zu einer bleibenden
Lösung beitragen. Das ist Pappes Credo, und auf den
Konflikt in Israel/Palästina übertragen heißt das für ihn:
„Der schlimmste Mythos um Israel und Palästina ist die
Behauptung, er sei ein Konflikt zwischen zwei
Nationalbewegungen. Das ist nicht der Fall – es handelt sich
um den Zusammenstoß zwischen einem siedlerkolonialistischen
Projekt und einer antikolonialistischen Bewegung.
Siedlerkolonialistische Projekte sind neben anderen Logiken
von einer Logik der Entmenschlichung motiviert.“
Pappe
beschreibt die zwei hauptsächlichen Charakterzüge des
Siedlerkolonialismus so: „Diese neuen Nationen [er meint
hier neben Israel die auch durch Siedler zustande gekommenen
Staaten USA, Australien, Südafrika und diejenigen in Mittel-
und Südamerika] konnten nur geschaffen werden, wenn die
Siedler sich an zwei Maximen halten: die Logik der
Eliminierung (die Beiseiteschaffung der indigenen
Bevölkerung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln,
einschließlich Völkermord) und die Maxime der
Dehumanisierung (die Betrachtung der Nicht-Europäer als
minderwertig und daher als Menschen, die nicht dieselben
Rechte verdienen wie die Siedler).“
Für diese
von Israel angewendete Logik der Entmenschlichung bietet
Pappe eine überwältigende Fülle an Fakten und Belegen oder
eine neue Sicht auf schon bekannte Zusammenhänge, sodass
sich gerade der deutsche Leser fragen muss: Warum erfahren
wir so etwas nicht durch unsere Medien? Pappe gibt eine
Antwort: „Die Tatsache, dass die israelische und
zionistische Version der Geschichte des umstrittenen Landes
in Deutschland weitgehend akzeptiert wird, basiert auf einer
ganzen Ansammlung von Mythen, die alle darin münden, das
moralische Recht und das ethische Verhalten der
Palästinenser ins Zwielicht zu rücken, was allerdings jede
Chance auf einen zukünftigen gerechten Frieden enorm
verringert. Dass dies funktioniert, liegt daran, dass diese
Mythen von den Mainstream-Medien und politischen Eliten in
Deutschland – wie im Westen überhaupt – als die Wahrheit
akzeptiert werden.“
Pappe
untersucht kritisch zehn Mythen, auf denen Israels
Siedlungsprojekt und seine gegenwärtige Politik beruhen und
ihm eine Scheinlegitimation verleihen. „Denn ein Staat, der
auf der Unterdrückung eines anderen Volkes gründet, wird
immer in Frage gestellt werden.“ Dass dieses Projekt dennoch
mit Gewalt aufrechterhalten wird, ist nur mit einem
ungeheuren Zynismus möglich, den Pappe immer wieder der
israelischen politischen und militärischen Elite
bescheinigt. Ein Beispiel: Der Umgang mit der Hamas im
Gaza-Streifen. Auch in Deutschland wird diese dort
herrschende Organisation nach israelischem Vorbild so
dämonisiert, als sei sie die Verkörperung des Leibhaftigen.
Pappe entdämonisiert die Hamas und zeigt auf, dass sie wie
andere Bewegungen des politischen Islam eine komplexe
örtliche Reaktion auf die harten Realitäten wie die
fortgesetzte brutale Besatzung und die totale Blockade des
Streifens ist, aber auch eine Antwort auf die von den
säkularen und sozialistischen Kräften in der Vergangenheit
verursachten politischen Sackgassen.
Pappe
beschreibt, wie Israel die weltlichen und sozialistischen
Bewegungen in der palästinensischen Gesellschaft
systematisch einzudämmen, ja zu eliminieren versucht hat und
die Hamas gleichzeitig ganz bewusst und gezielt zu einer
bedeutenden Kraft vor Ort machte, den Aufbau einer
islamischen ideologischen Infrastruktur im Gazastreifen
ermutigte und förderte, um gegen die säkulare Dominanz der
Fatah (als stärkster Gruppe innerhalb der PLO) ein
Gegengewicht zu schaffen. Die Hamas ist heute so tief in der
Bevölkerung verankert, weil ihr authentisches Bemühen
anerkannt wird, das Leiden der einfachen Menschen zu
lindern, indem sie für Bildung, ein Gesundheitssystem und
Sozialleistungen sorgt. Außerdem ist sie die einzige
palästinensische Kraft, die es wagt, sich einer Besatzung
entgegenzustellen, die der renommierte amerikanische Autor
Michael Chabon „die schlimmste Ungerechtigkeit nennt, die
ich je gesehen habe.“
Pappe
zitiert einen UNO-Bericht, der die Elendssituation
schildert, die Israel im Gaza-Streifen geschaffen hat: „Die
israelischen Militäroperationen in den letzten sechs Jahren
und acht Jahre wirtschaftliche Blockade haben die bereits
verkrüppelte Infrastruktur des Gaza-Streifens verwüstet,
seine Produktionsbasis zerstört, keine Zeit für sinnvollen
Wiederaufbau oder ökonomische Erholung gelassen und die
palästinensische Bevölkerung dort zu Bettlern gemacht, deren
wirtschaftliche Situation heute schlechter ist als noch vor
zwanzig Jahren.“ Pappe scheut sich nicht, das, was die
israelische Armee seit 2006 im Gaza-Streifen tut,
„schleichenden Völkermord“ zu nennen.
Blanken
Zynismus sieht Pappe auch hinter dem israelischen Argument,
der Abzug des israelischen Militärs und der Siedler aus dem
Gazastreifen 2006 sei eine „Geste der israelischen
Friedensbereitschaft“ gewesen. Denn Israel hatte den
Gaza-Streifen schon in den 90er Jahren mit einem
Stacheldrahtzaun von der Außenwelt abgeschottet, der die
jüdischen Siedler aber mit einschloss. Sie wurden nun, als
Israel sich entschloss, den Streifen strategisch von außen
zu kontrollieren, zum Hindernis. Der damalige
Ministerpräsident Ariel Sharon stellte zudem an die USA
Bedingungen für einen Abzug aus Gaza, die die Regierung von
George W. Bush ihm erfüllen sollte: weitgehende Annexion des
Westjordanlandes – abgesichert durch den Bau der Mauer, kein
Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und
Unterlassung jeglichen Drucks der USA in Sachen
„Friedensprozess“. Bush billigte alle diese Punkte.
Fazit der
Lektüre dieses Buches: Man glaubt, einiges über den Zynismus
des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser zu
wissen, aber der israelische Insider Ilan Pappe belehrt
einen eines Besseren: Die Realität ist noch viel schlimmer
als die Kenntnis aus der Ferne. Aus der Sicht der
Israel-Anhänger ist dieses Buch sicher eine „Ausgeburt des
Antisemitismus“. Aber können Fakten antisemitisch sein? Das
ist genau das Paradox, mit dem die Israel-Verteidiger vor
einem für sie unlösbaren Problem stehen. Und deshalb müssen
sie sich, weil sie keine auf Fakten gestützten Argumente
haben, in Unterstellungen, Diffamierungen und Denunziationen
flüchten.
Pappe weist
auf dieses Paradox hin: Der Zionismus präsentierte sich
ursprünglich (durch die Sammlung der Juden in einem Land)
als die simpelste Lösung für das Problem des Antisemitismus,
doch ironischer Weise wurde er dann (durch die brutale
siedlerkolonialistische Politik Israels gegenüber den
Palästinensern) zum bedeutendsten Grund für sein
Fortbestehen. Er schreibt: „Die Palästinenser sollen all
ihre Hoffnungen auf Rückkehr, gleiche Rechte für sie in
Israel, einen gleichberechtigten Zugang zu Jerusalem und ein
Recht auf ein normales Leben in ihrem Heimatland aufgeben.
Jede Kritik an diesem Mythos wird als Antisemitismus
gebrandmarkt. Aber tatsächlich sind die israelische Politik
und Mythologie der Hauptgrund dafür, dass der Antisemitismus
immer noch virulent ist.“ Und der Antisemitismus bleibt
virulent, so Pappe weiter, weil Israel behauptet, es
betreibe seine Politik im Namen des Judentums, was dann
leicht dazu führt, den zionistischen Siedlerkolonialismus
und Judentum gleichzusetzen. Was belegt, wie wichtig es ist,
beide Begriffe und Sachverhalte fein säuberlich zu trennen.
In einer
Zeit, in der beim Aussprechen des Wortes „Palästinenser“ bei
den Israel-Anhängern schon die „Antisemitismus“-Hysterie
ausbricht, tut Aufklärung not. Die Deutschen haben auf Grund
ihrer furchtbaren Geschichte ein Wahrnehmungsproblem
gegenüber allem, was Israel betrifft. Die Lektüre von Pappes
Buch öffnet die Augen dafür, dass unser Israel-Bild mehr
eine aus deutscher Schuld geborene Projektion von Wünschen
und Idealen ist, die aber mit der Realität nicht viel zu tun
hat. Mit dieser Illusion räumt Pappe gründlich auf.
12.11.2016
Ilan
Pappe: Was ist los mit Israel? Die zehn Hauptmythen des
Zionismus, Cosmics-Verlag Neu-Isenburg 2016. ISBN
978-3-9817922-6-3, 14.95 Euro