Ben Gurion: „Wir müssen sie mit Gewalt
vertreiben!“
Ein Antwort auf Uri Avnerys
Artikel Die wirkliche Nakba
Arn
Strohmeyer
Uri
Avnery ist ein äußerst verdienstvoller Mann, der als
Politiker, Publizist und Friedensaktivist sehr viel Mut,
Realitätssinn, humanes Engagement und visionäre
Weitsicht bewiesen hat. Wenn es nach ihm gegangen wäre
und noch ginge, gäbe es keinen Konflikt mehr mit den
Palästinensern, und Israel befände sich nicht in der
politischen Sackgasse, aus der nun kein Ausweg mehr zu
sehen ist und die die Zukunft dieses Staates verdüstert.
Aber immer wenn dieser große Journalist sich die Nakba
von 1948 als Thema vornimmt, verwundert es sehr, wie
einseitig er die Ereignisse beschreibt. Er beruft sich
dabei auf sein Augenzeugentum, denn er war im Krieg von
1948/49 Soldat an der Südfront dabei und kämpfte dort
gegen die Ägypter.
Die
Berufung auf Augenzeugen wirft eine grundsätzliche Frage
der Geschichtswissenschaft auf: Wie weit können
Augenzeugen wirklich authentische Aussagen über das
Gesamt geschehen von historischen Ereignissen machen,
denn sie bekommen ja selbst auch immer nur einen kleinen
Teil des Geschehens mit. Ihre Sicht – wie die jedes
Menschen – ist noch dazu von politischen und
ideologischen Prägungen vorbestimmt. Um ein Beispiel für
das Gesagte zu nennen: Könnte ein Soldat, der in Hitlers
Wehrmacht an der Ostfront gekämpft hat, allein aus
dieser Erfahrung heraus die Geschichte des Zweiten
Weltkrieges schreiben? Sicher nicht.
Es liegen
inzwischen wichtige historische Arbeiten zur Nakba vor –
etwa die von Simcha Flapan, Benny Morris, Avi Shlaim und
Ilan Pappe. Diese Autoren kommen zu ganz anderen
Ergebnissen wie Uri Avnery. Er schreibt, der Krieg von
1948/49 habe eigentlich aus zwei Kriegen bestanden, die
ineinander übergingen. Von Dezember 1947 bis Mai 1948
sei es der Krieg zwischen den Arabern und der jüdischen
Bevölkerung innerhalb Palästinas gewesen, vom Mai bis
zum Waffenstillstand Anfang 1949 der Krieg zwischen der
israelischen Armee und den Armeen der arabischen Länder.
Kritikwürdig ist der erste Teil des Satzes: Gab es von
Dezember 1947 bis zum Mai 1948 wirklich einen Krieg
zwischen den palästinensischen Arabern und den Juden?
Das klingt nach der Zwei-Seiten-Theorie, aber die zwei
gleich starken Seiten in dieser Auseinandersetzung gab
es nicht. Die Palästinenser verfügten lediglich über
einige kleine Milzverbände, die militärisch
bedeutungslos und der zionistischen Armee – der Hagana –
weit unterlegen waren. Letztere war seit 1920
systematisch aufgebaut und auch schon von den Briten,
die das Mandat über Palästina hatten, mit Waffen und
Gerät versorgt worden.
Was sich
nach dem Teilungsbeschluss vom November 1947 abspielte,
war von den Zionisten gut geplant und wohl vorbereitet
worden. Der zionistische Führer und spätere erste
Ministerpräsident Ben Gurion ließ verlauten: „In unserem
Land [so nennt er Palästina] ist nur für Juden Platz.
Den Arabern werden wir sagen: ‚Macht Platz!‘ Wenn sie
nicht einverstanden sind, wenn sie Widerstand leisten,
dann vertreiben wir sie mit Gewalt!“ Auch Yossef Weitz,
ein hoher Funktionär des Jüdischen Nationalfonds,
bestätigte schon 1940 die Absicht der Zionisten. Er
setzte sich für die Vertreibung der Araber ein, um das
Land von ihnen „freizumachen“ und so für die jüdische
Besiedlung zur Verfügung zu stellen. Am 31. Dezember
1947 formulierte er das Ziel der Zionisten so: „Ist
nicht der Zeitpunkt gekommen, uns von ihnen zu befreien?
Warum sollten wir diese Stacheln in unserem Fleisch
behalten, wenn sie für uns eine Gefahr darstellen?“ Das
Zitat stammt aus dem Tagebuch Ben Gurions.
Die
Vertreibung der Palästinenser wurde dann auch ganz
systematisch mit Gewalt und Terror durchgeführt. Dieses
Vorgehen ergab sich also keineswegs – wie Uri Avnery
anmerkt – aus der Kriegssituation, und es handelte sich
dabei auch nicht um ein „Wunder“, wie später oft
behauptet wurde. Die Idee, Palästina zu judaisieren und
das Land mit der Umsiedlung der arabischen Bevölkerung
zu „befreien“, stand von Anfang an auf der politischen
Agenda der Zionisten, es gibt sehr viele Belege dafür.
Noch im Jahr 1947 begann das, was heute als die
„ethnische Säuberung“ Palästinas bezeichnet wird – ein
bis in die Gegenwart tabuisiertes Kapitel im
zionistischen Geschichtsverständnis, dem sich das
offizielle Israel unter gar keinen Umständen stellen
will, denn die brutale Gewalt dieser ethnischen
Säuberung mit all ihren Gräueltaten würde das
zionistische Selbstverständnis und den Gründungsmythos
des Staates in Frage stellen. Vielleicht ist das der
Grund, warum Uri Avnery das Thema so vorsichtig mit
Samthandschuhen anfasst.
Es kann
hier nicht die ganze Geschichte der Nakba dargestellt
werden. Aber sie begann nach der Darstellung von Ilan
Pappe so: „Am 10. März 1948 saßen elf Männer zusammen –
altgediente zionistische Führer und junge jüdische
Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die
ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend
ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort,
die systematische Vertreibung der Palästinenser aus
weiten Teilen des Landes vorzubereiten. Die Befehle
gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung
vor: groß angelegte Einschüchterungen; Belagerung und
Beschuss von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der
Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und
schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der
vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit
erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den
Zielen des Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D (Dalet
in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version
vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die
Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung
vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage
umrissen, wie die zionistische Führung mit der
Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die
jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte,
umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause
sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser
mussten raus. (...) Ziel des Plans war tatsächlich die
Zerstörung ländlicher und städtischer Gebiete
Palästinas.“
Das
Ergebnis der ethnischen Säuberung war furchtbar: Elf
arabische Stadtviertel oder Städte und 531 Dörfer wurden
zwangsgeräumt und völlig zerstört, 800 000 Menschen
mussten fliehen – die Hälfte des palästinensischen
Volkes. Es kam zu zahlreichen Massakern (das schlimmste
war das von Deir Jassin mit über 200 Toten), sie sollten
die palästinensische Bevölkerung in Panik versetzen und
zur Flucht veranlassen, außerdem waren Vergewaltigungen
und Plünderungen an der Tagesordnung. Heute bedecken,
als sei nichts gewesen, Wälder, Parks und
Freizeiteinrichtungen diese Orte des Schreckens. Die
Erinnerung an die Nakba soll vollständig ausgelöscht
werden.
Sowohl
Simcha Flapan als auch Ilan Pappe berichten, dass es
kaum Gegenwehr auf der palästinensischen Seite gab. Die
Dörfer lagen so friedlich da, dass die zionistischen
Soldaten der Hagana zum Teil Skrupel hatten, gegen die
Bewohner vorzugehen. Man schickte deshalb
Propaganda-Offiziere an die „Front“, die den Soldaten
erklärten, dass die Palästinenser einen „neuen
Holocaust“ planten und man deshalb mit aller Gewalt
gegen sie vorgehen müsse. Das spielte sich gut zwei
Jahre nach dem Ende des wirklichen Holocaust ab – ein
abschreckendes und erschütterndes Faktum. Ilan Pappe hat
deshalb auch alle Tagebucheintragungen Ben Gurions aus
dieser Zeit befragt. Von einem „neuen Holocaust“ ist da
nirgends die Rede. Die Soldatin Tikva Honig-Parnass, die
damals in der Hagana mitkämpfte, fühlte sich später auch
getäuscht. Sie hatte fest daran geglaubt, einer
„revolutionären“ Armee der Unterdrückten anzugehören und
nicht etwa einer Streitkraft, die ein arabisches Land
erobern und ihre Bewohner vertreiben sollte.
Sie
schrieb später: „Dann begriff ich, das der Zionismus ein
kolonialistisches Unterfangen war, das von Anfang an den
Aufbau eines exklusiv jüdischen Staates im historischen
Palästina angestrebt hatte und dabei auch nicht davor
zurückschreckte, das palästinensische Volk gewaltsam zu
enteignen.“ Sie habe damals nicht verstanden, fährt sie
fort, dass die Werte, die die Zionisten vertraten, nicht
für alle Menschen galten: „Ich verstand nicht, dass sich
dieser warmherzige Humanismus nur auf diejenigen bezog,
die ‚wie wir‘ waren, während wir uns von denen, die
‚anders‘ waren, entfremdeten und sie entmenschlichten.“
An dieser Einstellung gegenüber den Palästinensern hat
sich bis heute nichts geändert.
Von der
Verabschiedung des UNO-Teilungsbeschlusses bis zu
Gründung des Staates Israel (also im Zeitraum von Ende
November 1947 bis zum 14. Mai 1948) hatten die
zionistischen Verbände nach dem Plan D, also bevor eine
einzige arabische Armee palästinensischen Boden betreten
hatte, mehr als 200 Ortschaften erobert und ihre
Bewohner vertrieben – dazu zählten die großen
palästinensischen Städte Tiberias, Haifa, Jaffa und
Safed. Außerdem hatten die Zionisten große Teile des
Territoriums eingenommen, dass der UNO-Teilungsplan für
den palästinensischen Staat vorgesehen hatte. Vielleicht
sollte Ur Avnery doch mal zu den Büchern von Benny
Morris, Simcha Flapan, Ilan Pappe und Avi Shlaim
greifen, Augenzeuge sein allein reicht eben nicht immer,
um sich ein Bild vom gesamten Geschehen zu machen.
7.06.2015
Die wirkliche Nakba
- Uri Avnery, 6.6. 15 - VOR DREI
Wochen war Nakbatag – der Tag, an
dem Palästinenser innerhalb und
außerhalb Israels an ihre
„Katastrophe“ denken – den Exodus
von mehr als der Hälfte des
palästinensischen Volkes aus den von
Israel besetzten Gebieten im Krieg
von 1948.
Jede Seite hat ihre eigene Version
dieses folgenschweren Ereignisses
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