Über 100 Jahre
palästinensischer Widerstand gegen den Zionismus
Das jetzt in
Deutschland erschienene Buch von Rashid Khalid gibt eine
ungeschminkte Darstellung von der Geschichte dieses
unterdrückten Volkes
Arn
Strohmeyer
Khalidi,
Rashid
Der hundertjährige Krieg um
Palästina.
Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus
und Widerstand
Unionsverlag Zürich
ISBN 978-3-00603-4, 26 Euro |
Die deutsche
Position im Nahostkonflikt wird wegen der aus historischen
Gründen engen Verbindung zu Israel maßgeblich von den
politisch-ideologischen Vorgaben des zionistischen Staates
bestimmt. Dass die israelische Politik aber zutiefst von den
Interessen des zionistischen Siedlerkolonialismus bestimmt ist
und eine ganze Ansammlung von Mythen benutzt, um die eigene
Position und auch die eigene Geschichte zu rechtfertigen, ist
kein Geheimnis. Das hält die deutsche Seite aber nicht davon ab,
Israels Position zu akzeptieren und auch zu übernehmen – auch
wenn diese noch so sehr gegen Völkerrecht und Menschenrechte
verstößt. Die Folge davon ist, dass die deutsche Politik sich
nicht auf realistische Weise in den Konflikt einschalten kann.
So ist auch
das Israel-Bild in Deutschland weitgehend von der Propaganda (Hasbara)
dieses Staates bestimmt: Israel – der friedliche Staat der
Holocaust-Überlebenden, der von aggressiven Feinden umgeben ist,
die ihm seine Existenz streitig machen. Schon der
palästinensische Intellektuelle Edward Said hat vor Jahrzehnten
darauf aufmerksam gemacht, wie falsch dieses Bild ist. Er
schrieb: „Der liberale Westen fand im Zionismus den Triumph von
Vernunft und Idealismus wieder (also die Charakteristika, die
der Liberalismus grundsätzlich sucht); im Liberalismus spiegelte
sich das Selbstverständnis des Zionismus. In beiden Fällen wird
der Araber eliminiert, er bleibt nur ein Rest, als Aufwiegler
und destruktiver Einfluss bestehen.“
Das Klischee
vom fortschrittlichen, weil liberalen und so humanen Israel hat
sich lange gehalten, wird in letzter Zeit aber immer mehr durch
die politische Entwicklung im Land (zunehmender Machteinfluss
der rechtsradikalen und ultrareligiösen Kräfte) und nicht
zuletzt durch Israels äußerst brutale, genozidale
Militäraktionen – wie jetzt im Gazastreifen – korrigiert. Dazu
kommt, dass sich wichtige palästinensische intellektuelle
Stimmen zunehmend zu Wort melden, die das Narrativ dieses Volkes
und damit eben Israels unselige Rolle als kolonialer Besatzer
darstellen – dass endlich also auch diese Seite zu Wort kommt
und das einseitige vom Zionismus vermittelte Bild des
Nahost-Konflikts richtigstellt. (Großen Verdienst hatte sich da
schon die Nakba-Ausstellung von Ingrid Rumpf erworben.)
In diesen
Kontext gehört das Buch des palästinensischen Historikers und
Publizisten Rashid Khalidi Der hundertjährige Krieg um
Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und
Widerstand, dessen deutsche Ausgabe jetzt erschienen ist.
Der Titel des Buches macht schon klar, dass die Leidens- und
Widerstandsgeschichte der Palästinenser nicht nach dem
Juni-Krieg 1967 (wie oft dargestellt) beginnt, sondern vor mehr
als 100 Jahren, als die zionistische Einwanderung in Palästina
ihren Anfang nahm. Khalidi will in seinem Buch darstellen, „dass
die Entwicklungen in Palästina im Wesentlichen auf einen
mehrstufigen Krieg zurückgehen, den unterschiedliche Großmächte
im Bund mit der zionistischen Bewegung gegen die in Palästina
lebende Bevölkerung geführt haben – eine Bewegung, die zunächst
gleichzeitig siedler-kolonialistisch und nationalistisch war und
darauf abzielte, in der angestammten Heimat der Palästinenser
die Bevölkerung auszutauschen.“
Der Zionismus
hätte in Palästina niemals Erfolg haben können, wenn die
Großmächte – erst Großbritannien und dann die USA – nicht zuerst
die zionistische Bewegung und später den Staat Israel gestützt
hätten. Während der ganzen 100jährigen fortschreitenden
zionistischen Inbesitznahme Palästinas haben Palästinenser, auch
wenn sie untereinander nicht immer einig waren, gegen die
Usurpation ihres Landes Widerstand geleistet.
Khalidi sieht
als Gründe für die über ein Jahrhundert andauernde Konfrontation
mehrere miteinander verknüpfte Faktoren: „die Herausbildung
eines modernen Nationalismus auf arabischer wie jüdischer Seite;
das Eindringen des Imperialismus in den Nahen Osten; das
Vorgehen der zionistischen Bewegung unter Einsatz der
Gewaltmethoden des Siedlerkolonialismus nach europäischen
Muster, um ‚Palästina in das Land Israel zu verwandeln‘, wie es
der zionistische Führer Zeev Jabotinsky formulierte; und
schließlich der palästinensische Widerstand, gewaltsam wie auch
gewaltlos, gegen diese Methoden.“
Der Autor hat
kein trockenes Geschichtswerk über die Geschichte seines Volkes
geschrieben, sondern ein spannend zu lesendes Buch, das er immer
wieder auch mit persönlichen Stellungnahmen angereichert hat,
denn seine Familie gehörte zu den führenden Clans in Jerusalem
und er selbst hatte enge Beziehungen zu den palästinensischen
Spitzenpolitikern. Außerdem ergeben sich ganz von selbst aus
seiner Darstellung der zionistischen und palästinensischen
Geschichte Bezüge zu den aktuellen politischen Ereignissen.
So kann
Khalidi gut belegen, dass Israel die genozidale Strategie der
Vernichtung der palästinensischen Lebensgrundlagen wie jetzt im
Gazastreifen auch früher schon angewandt hat. So zum Beispiel
1982 im Libanon, als es das Ziel der israelischen Armee unter
ihrem Oberbefehlshaber Ariel Sharon war, die PLO Yassir Arafats
zu „vernichten“. Auch damals hatte die israelische Führung keine
Bedenken, massenweise Zivilisten zu töten. Der Autor erinnert
daran, dass während der Belagerung West-Beiruts auch ganze
Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht wurden. Fast 50 000
Menschen wurden in Beirut und im übrigen Libanon getötet oder
verwundet, darunter Tausende von Palästinensern und Libanesen –
überwiegend Zivilisten.
Auch auf das
Massaker in dem Flüchtlingslager Sabra & Shatila mit Tausenden
Toten geht Khalidi ausführlich ein, das maronitische Milizen
zusammen mit der israelischen Armee begangen haben. Der Autor
straft damit die Anhänger des Zionismus und Israels Lügen, die –
wie etwa der israelische Soziologe Natan Sznaider in einem
Spiegel-Essay – behaupten, dass der 7. Oktober 2023 mit den
vielen israelischen Toten ein außerhalb des Nahostkonflikts
stehendes Ereignis gewesen sei und „nichts mir dem manchmal auch
kriegerischen Hin und Her zwischen Israel und den Palästinensern
der vergangenen Jahrzehnte zu tun“ habe.
Khalidi merkt
zu solchen Geschichtsklitterungen an: „Der Angriff der Hamas am
7. Oktober mit seinen hohen zivilen wie militärischen
Todesopfern, und dann die präzedenzlose Welle von Tod und
Zerstörung, die Israel über den Gazastreifen niedergehen ließ,
könnten den Eindruck erwecken, dass es sich hier um historisch
neue Entwicklungen handelt, die außerhalb der Geschichte stehen.
Wir können sie aber nur im Kontext des Jahrhundertkriegs um
Palästina wirklich verstehen, auch wenn Israel und seine
Unterstützer alles versuchen, sie außerhalb aller historischen
Zusammenhänge darzustellen: Man könnte sie nur aus der
‚Barbarei‘ von Israels Feinden erklären. Die Aktionen der Hamas
wie die von Israel seit dem 7. Oktober mögen als eine Wende oder
Zensur erscheinen, aber sie folgen dem Muster der vergangenen
Jahrzehnte – mit ethnischer Säuberung und Besetzung und
Abschnürung des Gazastreifens auf der einen, und der Reaktion
darauf auf der anderen Seite.“
Khalidi ist
aber kein blinder Parteigänger der palästinensischen Sache. Ohne
Scheuklappen beschreibt er auch die Verfehlungen der
palästinensischen Politik – etwa das völlig misslungene Vorgehen
Arafats und der PLO im Oslo-„Friedens“-Prozess. Sein Vorwurf an
die PLO lautet: Anstatt den Erfolg der ersten Intifada [des
Aufstandes der Palästinenser] zu nutzen und auf ein Ende der
Besatzung und der Kolonialisierung zu drängen, hätte die PLO
sich in einen Prozess hineinziehen lassen, den Israel mit
Duldung der USA ausdrücklich darauf ausrichtete, die Besatzung
und die Kolonisierung zu verlängern. Arafat hätte das wissen
müssen, denn der israelische Regierungschef Jitzhak Rabin habe
immer wieder deutlich gemacht, dass er den Palästinensern
bestenfalls – eine von Israel kontrollierte – Autonomie
zugestehen wollte, aber keinen Staat.
So war der
Oslo-Prozess letztlich eine schmähliche Niederlage für die
Palästinenser, die Khalidi so beschreibt: „Israel hatte keinen
palästinensischen Staat anerkannt und sich nicht einmal
verpflichtet, die Gründung eines solchen Staates zuzulassen. Es
war insgesamt eine eigentümliche Transaktion: Eine nationale
Befreiungsbewegung erlangte von ihren Unterdrückern eine
nominelle Anerkennung, ohne eine Befreiung zu erreichen, im
Tausch gegen die Anerkennung des Staates, der ihr Heimatland
kolonisiert hatte und es weiterhin besetzte. Dies war ein
historischer Fehler mit schwerwiegenden Folgen für das
palästinensische Volk.“
Natürlich
richtet der Autor auch den Blick in die Zukunft. Frieden kann es
nur geben, davon ist er überzeugt, wenn es eine Perspektive für
das Ende der Besatzung, Kolonisierung und Unterdrückung der
Palästinenser gibt. Eine solche Perspektive ist aber an die
Erlangung von vollständiger Selbstbestimmung für das
palästinensische Volk gebunden. Es deutet aber gegenwärtig
nichts darauf hin, dass eine solche Lösung in nächster Zeit die
Chance auf Realisierung hat. Der Autor sieht nach dem 7. Oktober
und dem israelischen Genozid im Gazastreifen eher düstere
Szenarien am politischen Horizont des Nahen Ostens: einen großen
regionalen Krieg sowie eine neue Vertreibung der Palästinenser
wie 1948 und die Annexion der besetzten Gebiete, weil religiöse
Nationalisten und fanatische Siedler in Israel die Politik
bestimmen.
Khalidi hat
ein bedeutendes und wichtiges Buch geschrieben, das allen
Nahostinteressierten sehr zu empfehlen ist, die sich nicht
allein auf die israelisch-zionistische Version der Geschichte
dieser Region verlassen wollen. Denn diese lehnt sich eng an die
zionistische Weltanschauung und ihre Mythen an. Aufschlussreich
ist, dass Khalidis Darstellung der Geschichte Palästinas
weitgehend mit den Erkenntnissen der „neuen“ oder
„postzionistischen“ israelischen Historiker übereinstimmt. Die
Mitglieder dieser Gruppe, der Wissenschaftler wie Ilan Pappe,
Benny Morris, Tom Segev und Avi Shlaim angehören, waren am
Anfang der 1990er Jahre in die Archive gegangen (als dies für
kurze Zeit möglich war, heute sind die wieder geschlossen), weil
sie wissen wollten, wie es „wirklich“ gewesen war. Da deutete
sich wenigstens in der historischen Wissenschaft eine
israelisch-palästinensische Gemeinsamkeit an, die in der Politik
noch immer völlig ausgeschlossen ist. |