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Ist Israel noch zu retten?
Eine Buchbesprechung
Von Rudolph Bauer
Das Buch „Wer rettet Israel?“ von Arn
Strohmeyer ist auch ein Dokument der Leidenschaft, die in
jener Verantwortung wurzeln dürfte, welche der Autor
angesichts des Holocaust und des Völkermordes an den Juden
„für dieses unsägliche Verbrechen“ (S. 1) empfindet. Gleich
vier Mal begegnet der Begriff „Verantwortung“ bei der
Lektüre am Anfang des Buches: Schon auf der ersten Seite
wird die „deutsche Verantwortung“ beschworen, auf der
zweiten dann die „Verantwortung für Israel und die Juden“,
eine „Verantwortung ohne Vorbehalt“, eine „Verantwortung …,
die ihnen (d. h. den Deutschen) aus den Verbrechen des
‚Dritten Reiches’ gegen das jüdische Volk erwächst“ (S. 2).
Als Leserin und Leser droht man, ähnlich wie der Autor, in
den Sog des schuldbeladenen Bekenntnisses einer
Verantwortung zu geraten, welche von der deutschen
Bundeskanzlerin vor dem israelischen Knesset-Parlament als
„immerwährend“ und „historisch“ bezeichnet und in den Rang
eines Teils der „Staatsräson meines Landes“ erhoben wurde
(Angela Merkel im März 2008, zit. S. 236).
In demselben Buch, das leidenschaftlich von
der deutschen Verantwortung spricht, werden aber auch andere
als die Nazi-Verbrechen benannt. Sie wurden begangen in der
Verantwortung des Zionismus, einer nationalistischen
Bewegung zur kolonialistischen Inbesitznahme des von den
Palästinensern besiedelten „Heiligen Landes“, und sie werden
weiterhin ausgeübt in Verantwortung des 1948 von der
zionistischen Bewegung gegründeten Staates Israel und seiner
Regierungen. Einerseits erinnernd an die deutsche Schuld und
andererseits konfrontierend mit den israelischen
Schandtaten, erweist sich die Lektüre des Strohmeyer-Bandes
als beschämend, bedrückend und belastend. Kein einfaches
Buch, kein leicht bekömmlicher Lesestoff.
Worum geht es?
Arn Strohmeyer erzählt die Vor- und
Gründungsgeschichte des Staates Israel sowie den seitherigen
historischen Verlauf der israelischen Politik im Verhältnis
zu den Palästinensern einerseits und den Nachbarstaaten
andrerseits. Dabei geht es dem Autor vor allem darum, die
zahlreichen „Mythen“, wie er es nennt, zu widerlegen -
Legenden, die nicht nur im Selbstverständnis Israels, seiner
Politiker und Militärs sowie des Großteils seiner Bewohner
verankert, sondern weit darüber hinaus prägend sind.
Israel-Mythen bestimmen nicht zuletzt auch und gerade in
Deutschland, bei den deutschen Politikern und in der
Bevölkerung, das politische Bewusstsein.
Zweck solcher Legenden, die deshalb auch
hartnäckig fortbestehen, ist es, hierzulande wie auch in
Israel „Identität (zu stiften) und ein
Zusammengehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft (zu
ermöglichen)“ (S. 12). Im Falle Israels bilden die von
Strohmeyer akribisch entlarvten „Mythen“ Narrative mit
Rechtfertigungscharakter. Sie legitimieren zum einen die
Existenz des israelischen (bzw. jüdischen) Staates auf einem
Territorium, das ursprünglich im Zuge kolonialistischer
Landnahme durch Ankauf, weitgehend aber unrechtmäßig in
Besitz genommen wurde. Zum anderen dienen sie zur
Rechtfertigung der seither teils terroristisch, teils mit
militärischer Übermacht, teils durch die Besetzung mit
„Siedlungen“, immer aber gewaltförmig erfolgten Ausweitung,
Annexion und Okkupation der für die zionistische „Heimstatt
des jüdischen Volkes“ beanspruchten Landesfläche.
Da die kolonialistische und nationalistische
Landnahme den Protest der palästinensischen Bewohner
herausforderte, diente und dient deren Widerstand zusätzlich
- neben den Mythen - zur Rechtfertigung von Diskriminierung,
Unrecht, Vertreibung, Überfällen, Massakern, Gefangennahmen,
Folter und Kriegen aller Art. Arn Strohmeyer spricht in wohl
begründeter Weise von Apartheid (u. a. auf S. 90, 154, 171,
173), von Rassismus (u. a. auf S. 101, 123, 156, 160, 167
ff.) und von ethnischer Säuberung (u. a. S. 74 und 131).
Damit verbunden sind Anklagen, die auch von kritischen
Israeli erhoben, von offizieller israelischer Seite und von
Israels Verbündeten aber strikt zurück gewiesen werden.
Analysen statt Legenden
Neben den vielen bestürzenden Fakten, die der
Autor recherchiert hat und in seinem Bericht mit Quellen
belegt, kommen bei Strohmeyer zahlreiche kritische
Historiker und Sozialwissenschaftler aus Israel oder mit
jüdischer Herkunft zur Sprache. Sie alle entwerfen ein Bild
von Israel, das diametral Gegensätzliches enthält zu dem,
was die staatliche israelische Öffentlichkeitsarbeit
verbreitet und was auch in Deutschland allgemein gilt: auf
politischer Ebene, in den Medien, bei den Kirchen und an den
Schulen, nicht zuletzt auch seitens jüdischer Gemeinden und
des Zentralrats der Juden.
In ihrer Konsequenz konterkarieren die in
Strohmeyers Veröffentlichung gewissenhaft zusammengetragenen
Befunde die offiziell propagierte, teils schönfärberische,
teils lügnerische Phraseologie von Israels geduldiger
Bereitschaft zum Friedensschluss mit einem biterritorialen
Staat Palästina (sog. Zwei-Staaten-Lösung) - ein Angebot,
das nach israelischer Lesart gegenwärtig von „den Arabern“,
„der Hamas“ und durch das Abfeuern von Qassam-Raketen
ausgeschlagen werde.
Das israelische Militär, die israelischen
Regierung und die Mehrheit in der Knesset mit ihren
„zionistischen Fraktionen“ Likud und Arbeitspartei (vgl. S.
47) verfolgen in Wahrheit die gegenteilige Absicht. Ihr Ziel
schlechthin ist es, den Widerstand der in Gaza und den
besetzten Gebieten noch vorhandenen palästinensischen
Bewohner zu brechen bzw. sie weitestgehend durch jüdische zu
ersetzen. Erreicht werden soll dies mit den Mitteln und
Folgen von Diskriminierung, bürokratischer Schikane,
Misshandlung, Erschwerung der Lebensbedingungen,
wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen, territorialer
Verdrängung, Einsperrung, Vertreibung und Tötungen aller
Art.
Ausweg oder Perspektive
Für die Palästinenser gibt es nach Maßgabe
der von Strohmeyer analysierten israelischen Politik nur
einen einzigen Ausweg. Sie sollen für das von ihnen bewohnte
und beanspruchte Land die israelische Oberhoheit akzeptieren
und sich dem jüdischen Staat als Bürger zweiter, wenn nicht
dritter Klasse unterwerfen. Die geschichts- und
politikwissenschaftliche Untersuchung von Israels
Mehrheitspolitik kommt zu dem Resultat, dass der
Friedensprozess ein „Riesenschwindel“ sei (S. 240). Dieses
nüchterne, aber auch niederschmetternde Urteil ist der
Süddeutschen Zeitung vom 10. April 2008 entnommen. Es stammt
aus dem Mund von Henry Siegmann, einem früheren Präsidenten
des American Jewish Congress, der heute dem US/Middle East
Project vorsteht.
Das Fazit von Henry Siegmann ist dermaßen
erschreckend, dass Arn Strohmeyer in seiner Schrift nicht
damit zu enden vermag. Der Untertitel des Buches lautet:
„Ein Staat am Scheideweg“. In dieser Formulierung kommen der
Wunsch und die Hoffnung zum Ausdruck, es sei denkbar und
trotz allem immer noch möglich, dass Israel sich eines
anderen Weges besinnt, statt den seit Jahrzehnten
eingeschlagenen weiter zu gehen - einen anderen Weg als den,
der dem Autor zufolge in die „politische Isolierung“ und in
einen Zustand von „Lähmung, Stillstand und Immobilismus in
der israelischen Politik und Gesellschaft“ (S. 245) führt.
Das würde freilich zunächst und in erster
Linie zur Voraussetzung haben, dass die Staaten und
Regierungen an der Seite Israels - an erster Stelle die USA,
Deutschland und die EU - auf den israelischen Partner
entschiedenen Druck ausüben, damit dieser bereit ist zu
einer Politik der vorbehaltlosen Anerkennung
palästinensischer Interessen, des Ausgleichs, der Abrüstung
(auch atomar!) und der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft im
Nahen Osten. Stellt das eine begründete und begründbare
Perspektive dar?
Retter Israels?
Mit Blick auf Deutschland und den hiesigen
Philosemitismus und -zionismus sind größte Zweifel
angebracht. Aufs Ganze gesehen [und m. E. allzu voreilig]
stellt Strohmeyer fest, „dass der als Mainstream
vorherrschende Philosemitismus sich längst als verkappter
Antisemitismus entlarvt hat“ (S. 225). [Das wäre in der Tat
eine gute Botschaft!] Er zitiert Judith Butler: „Der
Philosemitismus macht dieselben Fehler wie der
Antisemitismus … Der Philosemitismus verkehrt den
Antisemitismus, ohne die Prämisse in Frage zu stellen, die
sie beide stützt.“ (Zit. ebd.)
Die These, dass Anti- und Philosemitismus die
zwei Seiten einer rassistischen Münze sind, wirft
erschreckende Fragen auf: Hat die Judophobie, der Judenhass,
sich in unverdächtige Freundschaftsgewänder gekleidet?
Werden die Wannsee-Beschlüsse erst jetzt vollständig
grausame Wirklichkeit, indem sich das Handeln deutscher
Politik „der besonderen historischen Verantwortung
Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet“
(Angela Merkel; zit. S. 236) - einer Sicherheit wohlgemerkt,
die allein auf Gewalt, Töten und Waffen beruht und somit
ohne menschlich lebbare Perspektive ist?
Die deutschen Waffenlieferungen und
-schenkungen an Israel sowie der heuchlerische
Schulterschluss mit der israelischen Aggressions- und
Besatzungspolitik zeigen an, dass es der Bundesregierung
nicht um das friedliche Zusammenleben und die Gestaltung
einer humanen Zukunft geht, sondern um Morden, Krieg und
Vernichtung. Ein Regime aber, das seine Macht nur auf
militärische Überlegenheit allein stützen kann, droht an
Waffen zu Grunde zu gehen: physisch oder moralisch.
Verdienstvoll, streitbar und beherzt
Arn Strohmeyer scheut sich nicht, in seiner
Untersuchung diese und andere Fragen anzuschneiden und
grundsätzliche Problematisierungen aufzuwerfen, die
fundamental an deutsche Tabus rühren. Indem er so verfährt,
setzt er ein persönliches Zeichen der moralischen
Verpflichtung angesichts der historischen Schuld des
rassistischen deutschen Herrenmenschentums. Das ist
verdienstvoll und verdient Achtung.
Seine Analyse ist aber auch streitbar und
beherzt, weil damit das Licht auf ein anderes
Herrenmenschentum geworfen wird, welches ohne arisches
Vorzeichen gleichfalls die Menschen- und Lebensrechte
anderer negiert. Der militante Judaismus der zionistischen
Bewegung trägt jedenfalls Herrenmenschenzüge, die - ohne sie
denen der Nationalsozialisten gleichsetzen zu wollen -
ebenfalls menschenverachtend und gefährlich sind.
Darauf mit seinem Buch hinzuweisen, wird dem
Autor gewiss mit bitteren Anfeindungen aus dem Heerlager des
philosemitischen Antisemitismus entgolten werden. Allerdings
gibt er sich dafür auch die eine oder andere Blöße. Seine
Arbeit - teils journalistisch, teils wissenschaftlich - ist
wegen der Überfülle der Aspekte anstrengend zu lesen. Sie
bietet kleinere formale sowie terminologische
Angriffsflächen. Schließlich werden nur die eine
Konfliktpartei, die israelisch-zionistische, und deren
Verfehlungen untersucht. Es gibt aber auch auf der anderen
Seite politische, diplomatische und militärische Fehler: bei
den Palästinensern und den Nachbarstaaten Israels. Nicht
zuletzt spielen schwerwiegende Fehlentscheidungen der
Großmächte eine nicht unwesentliche Rolle.
Die Schwächen des Buches hätten leicht
behoben werden können, wenn einer der deutschsprachigen
Verlage mutig genug gewesen wäre, die Publikation
Strohmeyers in sein Programm aufzunehmen und sie sowohl
leserfreundlicher als auch dem Thema angemessen zu
lektorieren. Dem Autor und seiner Veröffentlichung ist daher
sehr zu wünschen, dass das Interesse daran eine zweite,
verbesserte und ergänzte Auflage (mit Kartenmaterial,
Schlagwort- und Personenverzeichnis!) bei einem
friedensengagierten Verlag möglich macht. Für den
öffentlichen Diskurs ist Strohmeyers Dokumentation eine
wertvolle und unerlässliche Quelle
(Rudolph Bauer ist emeritierter Professor für
Sozialwissenschaften an der Universität Bremen.)
Strohmeyer, Arn: Wer rettet Israel?
Ein Staat am Scheideweg. Bremen 2012. 275 Seiten, € 16,00 -
Das Buch ist zu beziehen über arn.strohmeyer@web.de <mailto:arn.strohmeyer@web.de> |