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Was sind "jüdische Gene"?
Einige Fragen nicht nur an Thilo Sarrazin
Von Arn Strohmeyer
Seit Tagen
sind die kruden Thesen des Bundesbankvorstandsmitgliedes
Thilo Sarrazin das Hauptthema in den deutschen Medien, die
er in seinem Buch und etlichen Interviews vertritt. In der
Ablehnung der zum Teil unsäglichen Aussagen gibt es mit
Recht einen breiten Konsens, weil sie den deutschen
Bemühungen um die Integration von Migranten schweren Schaden
zufügen.
Nun hat
Thilo Sarrazin auch behauptet, dass es "jüdische Gene" gebe.
Daraufhin brach in Deutschland ein Sturm der Entrüstung aus,
und es wurde mit Recht sofort an die
pseudowissenschaftlichen Auffassungen der Nazis erinnert.
Nach deren "Weltanschauung" ergaben sich positive oder
negative Eigenschaften einer Ethnie aus ihrem "rassischen
Erbgut". Die Folgen dieser Ideologie sind bekannt. Sarrazin
hat seine Aussagen inzwischen präzisiert und behauptet, dass
gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden
existierten, er will das aber nicht als Werturteil
verstanden wissen. Ob er das wirklich so meint, bleibt dahin
gestellt.
Aus Israel
selbst liegen zu diesem Thema aber ganz andere Informationen
vor, die Zarrazin nicht recht geben, aber dem deutschen
Beobachter ein Urteil in der Sache erschweren und Fragen
aufwerfen, auf die man gern Antworten bekommen würde. Denn
viele Israelis vertreten sehr wohl die Auffassung, dass es
so etwas wie "jüdische Gene" gibt. Das Thema ist in Israel
keineswegs ein Tabu.
Der
israelische Historiker Shlomo Sand geht in seinem Buch "Die
Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf
dem Prüfstand" (Propyläen-Verlag, Berlin 2010) ausführlich
auf dieses Problem ein. Sein Buch hat wochenlang auf der
israelischen Bestsellerliste gestanden, es muss also für
seine Landsleute von großem Interesse sein. Sand geht von
der sicher unumstrittenen Feststellung aus, dass die
"rassistischen Wissenschaften" den Nationalismus im Europa
des 19. Jahrhunderts zutiefst geprägt haben. Da der
Zionismus, der in dieser Zeit entstand, wiederum unter dem
Einfluss dieser Bewegung gestanden habe, habe er ihre
"ideologischen Strukturen" zutiefst integriert - er habe
also die Nation auch als "ethnisches Gebilde" im Sinne der
Biologie verstanden. Diese Argumentation im Sinne der
"biologischen Vererbung" sei nötig gewesen, um vor allem den
Anspruch auf Palästina zu untermauern. Denn da der religiös
begründete Anspruch aus dem Alten Testament nicht mehr
hinlänglich überzeugt habe, erforderte der historische
Mythos eine ergänzende und passende "wissenschaftliche"
Ideologie. Es sei eine Antwort auf die Frage gefordert
gewesen: Wenn die modernen Juden gar keine direkten
Nachfahren der ersten Exilanten waren, wie konnte man die
Besiedlung Palästinas dann rechtfertigen? Sand: "Wenn die
Rechtfertigung also nichts aus der religiösen Metaphysik
kommen konnte, dann musste sie - und sei es auch nur zum
Teil - von der Biologie kommen."
Sand führt
dann in einer Fülle von Beispielen und unter Nennung vieler
Namen aus, wie eng der Zionismus in der Folgezeit mit
rassischen Auffassungen verbunden war. Danach stellten die
Juden "ein Volk mit homogenem biologischen Ursprung dar".
Wobei es auch Gegner einer solchen Auffassung gab - etwa den
Mitbegründer des Zionismus Theodor Herzl, der schrieb: "Wir
sind eine historische Einheit, eine Nation mit
anthropologischen Verschiedenheiten. Das genügt auch für den
Judenstaat. Keine Nation hat die Einheit der Rasse."
Ganz anderer
Auffassung war da - so Sand - etwa der bedeutende
revisionistische Zionistenführer Wladimir Zeev Jabotinsky
(1880 - 1940). Ihm zufolge entstanden Nationen aus
Rassegruppen, und die biologische Herkunft formt die Psyche:
"Die Essenz [der Nation] aber, erstes und letztes Bollwerk
ihrer einzigartigen Erscheinung liegt in ihren besonderen
physischen Eigenschaften, in ihrer rassischen
Zusammensetzung... Wenn man schließlich alle möglichen
Schalen, die die Geschichte, das Klima und die umgebende
Natur bildeten, wegnimmt und die äußeren Einflüsse
ausschaltet, dann bleibt nur mehr der rassische Kern der
Nation."
Nach dem
Zweiten Weltkrieg und der furchtbaren Erfahrung des
Holocaust wurde es - so Sand - auch in Israel schwer, noch
Begriffe wie "Rasse" und "Blut" zu verwenden, letzterem
Begriff hing der deutsch-jüdische Philosoph Martin Buber an.
Der tief sitzende Glaube an den einheitlichen biologischen
Ursprung des jüdischen Volkes sei aber in weiten Teilen der
Bevölkerung und der Wissenschaft aufrechterhalten worden.
Sand: "In der populären Sprache der Medien nannte man es
einfach: 'Die Suche nach dem jüdischen Gen'", nach dem die
Fachwissenschaftler eifrig forschten.
Es gab aber
auch massive Kritik an diesem Vorgehen. So wurde moniert,
dass die Genetik, genau wie die Archäologie, in Israel keine
freie Wissenschaft sei, sie sei vielmehr einem
nationalhistorischen Konzept unterworfen und sollte um jeden
Preis eine gemeinsame biologische Herkunft aller Juden auf
der Welt aufdecken. Die Genetiker hätten den zionistischen
Mythos verinnerlicht und versuchten, wenn auch nicht
unbedingt bewusst, ihre Befunde an diesen anzupassen. Dazu
kam noch etwas anderes: Die Herrschaft Israels über eine
wachsende nichtjüdische Bevölkerung nach dem Krieg 1967 hat
das dringende Bedürfnis nach einer ethnisch-biologischen
Abgrenzung noch gesteigert. In Israel entstand deshalb die
neue Wissenschaftsdisziplin "Genetik der Juden".
Obwohl in
den israelischen Medien immer wieder Erfolgsmeldungen
auftauchten, dass es gelungen sei, das "jüdische Gen"
wenigstens annäherungsweise zu finden, trifft Sand die für
die israelischen Molekulargenetiker eindeutige und
vernichtende Feststellung: "Der Versuch, die jüdische
Eigenart am genetischen Fingerabdruck festzumachen, war
nicht sonderlich erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass
es keinen einheitlichen genetischen Fingerabdruck der Juden
gab... Bisher hat noch keine Untersuchung einheitliche und
einzigartige Charakteristika des jüdischen Erbgutes in
zufällig ausgewähltem Genmaterial gefunden, wenn dessen
'ethnische' Herkunft nicht von vornherein bekannt war...
Trotz aller wertvollen 'wissenschaftlichen' Ergebnisse lässt
sich ein jüdisches Individuum nicht durch irgendwelche
biologischen Kriterien charakterisieren."
Das klingt
gut, aber die wissenschaftlichen Ergebnisse bzw.
Nicht-Ergebnisse sind das Eine, und der fanatische Glaube an
die politische Ideologien, die man rassisch-biologisch
begründen kann, das andere. Denn sehr viele Menschen in
Israel glauben offenbar an diese Ideologie, und es wird
weiter in den Labors nach dem "jüdischen Gen" geforscht. Es
gibt sogar Internet-Seiten von "Gen-Labors", bei denen man
sich - für entsprechende Bezahlung versteht sich - seine
jüdischen Gene bzw. seine gen-mäßige jüdische Abkunft
bestätigen lassen kann. (http://www.igenea.com/index.php?c=40)
Shlomo Sand warnt vor dieser verhängnisvollen Sicht, denn
ein solches Unterfangen könne niemals völlig frei von den
bösen Geistern der Vergangenheit und der rassistischen
Weltanschauung sein.
Er schreibt:
"In einem Staat, der sich selbst als jüdisch definiert, in
dem es aber keine charakteristische Säkularkultur gibt, die
- außer einigen kümmerlichen Überbleibseln jüdischer
Folklore - nicht auch anderswo auf der Welt Gültigkeit
hätte, benötigt die kollektive Identität eine ebenso obskure
wie verheißungsvolle Vorstellung von einer gemeinsamen
biologischen Herkunft. Hinter jedem Akt der
Identitätspolitik in Israel verbirgt sich noch immer wie ein
langer Schatten die nicht tot zu kriegende Idee von den
Rassen."
Shlomo Sands
Beschreibung der Suche nach dem "jüdischen Gen" wirft -
gerade in Deutschland - Fragen auf, die man von Offiziellen
in Israel gern beantwortet hätte.
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