„Es
geht um das nackte Überleben der Palästinenser“
Die
Politologin Helga Baumgarten beschreibt in ihrem neuen
Buch die unabdingbare Notwendigkeit der Aussöhnung
zwischen Hamas und Fatah
Arn Strohmeyer
In
die Nachricht vom Ende der sogenannten
„Friedensgespräche“ unter amerikanischer Leitung
zwischen Israel und der Palästinensischen
Autonomiebehörde (PA) in Ramallah platzte – Zufall oder
nicht –
die Nachricht, dass Hamas und Fatah sich ausgesöhnt
hätten. Erstere übt unter der scharfen
Besatzungskontrolle Israels die Herrschaft im
Westjordanland aus, die zweite im von Israel vollständig
abgeriegelten Gaza-Streifen. Ein Abkommen über die
Verständigung soll in Kürze unterzeichnet werden.
Nachrichten dieser Art hat es schon des Öfteren gegeben,
aber alle Initiativen waren letzten Endes dann doch
gescheitert. Sollten sie dieses Mal der Realität
entsprechen? Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu
reagierte wie üblich und drohte: Die Palästinenser
müssten sich entscheiden, ob sie mit Israel oder mit den
„Hamas-Terroristen“ Frieden schließen wollten, die
Israels Vernichtung anstrebten und einen neuen Holocaust
planten. Im Falle einer Versöhnung von Hamas und Fatah
sehe sich Israel zu einseitigen Schritten gezwungen.
Ähnliche
Signale kommen bei solchen Gelegenheiten stets auch von
der US-Regierung. Wenn die Vertreter Washingtons dann
immer noch hinzufügen, dass nur Verhandlungen mit der
jeweiligen israelischen Regierung unter US-Vermittlung
(natürlich ohne die Hamas) zum Erfolg, d.h. zur
Zwei-Staaten-Lösung, führen könnten, so konnte man sich
dieses Argument in Washington jetzt sparen, denn solche
Verhandlungen waren ja gerade eben erst an Israels
kompromissloser Haltung in der Land- und Siedlungsfrage
gescheitert. Der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmud
Abbas, steht also mächtig unter Druck von Israel und den
USA, was sicher einer der Gründe dafür war, dass es
bisher nicht zur Aussöhnung der palästinensischen
Konkurrenzorganisationen gekommen ist. Aber Abbas und
seine Leute in Ramallah scheinen über alternative
Strategien nachzudenken, nachdem die schon über
Jahrzehnte sich hinziehenden Verhandlungen mit Israel
alle zu nichts geführt haben. Beleg ist der
Aufnahmeantrag Palästinas in die UNO vom Herbst 2012 und
jetzt die Unterschrift von Abbas zum Beitritt in mehrere
UNO-Verträge.
Israel
hat in den letzten Jahren alles getan, um die Trennung
und Teilung zwischen den Palästinensern – nicht nur
zwischen denen in der Westbank und im Gazastreifen,
sondern auch zwischen denen in Jerusalem und ihren
Brüdern in Israel selbst – bürokratisch und logistisch
zu vertiefen, immer nach dem alten zynischen Motto
„Teile und herrsche!“ Palästinenser, die man zwingt, in
vielen kleinen Enklaven zu leben, kann Israel besser
unter Kontrolle halten. Alles ordnet Israel dem Ziel
unter, eine „Friedenslösung“ auf Grund seiner
militärischen Überlegenheit ohne Rücksicht auf die
Palästinenser durchzusetzen und nicht eine Lösung auf
der Basis des Völkerrechts und internationaler
Beschlüsse anzustreben, etwa von UNO-Resolutionen.
Israels Strategie scheint vorerst aufzugehen: Die
internationale Gemeinschaft (also vornehmlich der
Westen) akzeptiert zunehmend die israelische Besatzung
und reduziert das Nahost-Problem auf ein einfaches
Grenzproblem. Was Israel zu neuem Landraub antreibt und
zu der Sprachregelung: Die Westbank gehört uns, deshalb
müssen die Siedlungen auch ein Teil unseres Staates
bleiben. Die offizielle Annexion ist also nur noch eine
Frage der Zeit. Mit anderen Worten: In der israelischen
Sichtweise gibt es überhaupt keine Besatzung – der
Westen scheint inzwischen bereit zu sein, das so
hinzunehmen.
Das ist
für die Palästinenser natürlich eine ungeheure
Herausforderung, weil es hier um ihre nackte Existenz
und ihr Existenzrecht überhaupt geht. Denn genau zum
jetzigen Zeitpunkt stecken die beiden größten nationalen
Bewegungen der Palästinenser – Fatah und Hamas – in
einer großen Krise, weil es ihnen an Erfolgen beim
Erreichen ihres Zieles, ihr Land und ihre Gesellschaft
von der Besatzung zu befreien, fehlt und weil es ihnen
deshalb an Popularität und Legitimation in der eigenen
Bevölkerung mangelt. Die deutsche Politologin Helga
Baumgarten, die an der Universität von Birzeit in
Palästina lehrt, hat in ihrem neuen Buch alle diesen
komplizierten Prozesse gründlich untersucht, beschrieben
und analysiert. Sie kommt zu dem Ergebnis: Es ist fünf
Minuten vor Zwölf für die Palästinenser. Sie haben also
nicht mehr viel Zeit. Ihre Situation ist äußerst
bedrohlich, die Krise fast unüberwindlich. Es geht um
ihr Überleben als nationales Kollektiv. Ein weiteres
gegenseitiges Zerfleischen der beiden großen
Nationalbewegungen können sie sich nicht mehr leisten,
wenn sie nicht ganz von der Bühne des Nahen Ostens
verschwinden wollen.
Helga
Baumgarten schreibt: „Beide Bewegungen sind sich
inzwischen wohl bewusst, dass die palästinensische
Nationalbewegung vor einer historischen Wende steht:
entweder der drohende Zusammenbruch und das Ende oder
aber eine neue gemeinsame Strategie für alle
Palästinenser, die von beiden Bewegungen getragen wird,
sollten sie sich nicht selbst aufgeben wollen. Die
Zeichen der Zeit deuten in Richtung einer erneuten
Mobilisierung der Gesellschaft für einen neuen
Massenwiderstand gegen die Besatzung, die die
Palästinenser immer noch als solche Tag für Tag erleben
und die sie endlich beenden wollen. Dieser erneute
Massenwiderstand, auch da scheint sich nach und nach ein
Konsens herauszubilden, hat die besten Chancen, wenn er
als gewaltloser Widerstand organisiert und geleistet
wird.“ Diese neue Strategie muss natürlich auch
international akzeptiert werden.
Die
Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas muss also – so Helga
Baumgarten – der erste und unabdingbare Schritt sein,
wenn der unhaltbare Zustand des Status quo sich nicht in
alle Zukunft fortsetzen soll, d.h. wenn Israels
Behauptung der Nichtexistenz der Besatzung, sein Ziel
der vollständigen Annexion des Westjordanlandes und die
totale Entpolitisierung des Palästinenserproblems nicht
aufgehen soll. Dazu gehört dann aber auch, dass
Präsident Abbas sich von seiner Rolle löst, der brave
und gehorsame Diener der USA und Israels zu sein. Was
nicht so einfach ist, denn die beiden übermächtigen
Staaten können der Autonomiebehörde in Ramallah
jederzeit den Geldhahn zudrehen.
Helga
Baumgarten, die in Ihrem Buch ausführlich die Geschichte
des Bruderkampfes zwischen Fatah und Hamas beschreibt,
geht auch auf die Dämonisierung der Hamas ein, die in
der westlichen Öffentlichkeit durchgesetzt zu haben, vor
allem ein großer Erfolg der israelischen Propaganda ist.
Der Leser vernimmt erstaunt, mit welch vernünftigem und
absolut demokratischem Reformprogramm diese
nationalreligiöse Bewegung in die palästinensischen
Parlamentswahlen 2006 gegangen ist. Dieser Urnengang
fand auf Druck des Westens statt. Er hatte seine
Durchführung sogar gegen den Widerstand Israels
durchgesetzt, und bestand auf der Teilnahme der Hamas,
um so den freien Charakter der Wahlen zu garantieren.
Die Hamas
gewann die Wahlen überraschend mit absoluter Mehrheit
und legte auch ein moderates, pragmatisches und
akzeptables Regierungsprogramm vor. Darin bot sie u. a.
an: die Weiterführung des Waffenstillstandes mit Israel,
also Gewaltlosigkeit bzw. Verzicht auf Gewalt; Ende der
Besatzung und die Akzeptanz einer Zweistaatenlösung;
dieser Staat müsste in der Westbank und im Gazastreifen
mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt entstehen; außerdem
sollten alle internationalen Verträge anerkannt werden,
soweit die nicht zum ausdrücklichen Nachteil des
palästinensischen Volkes sind. Trotz all dieser
positiven Signale widerrief der Westen seine eigene
Befürwortung der Wahlen, weil die Falschen gewonnen
hatten. Die Hamas wurde zur „Terrororganisation“
erklärt, viele ihrer frei gewählten Abgeordneten sitzen
heute noch in israelischen Gefängnissen. Dass der Westen
mit einem solchen Umgang der Hamas und der israelischen
Totalabriegelung des Gazastreifens diese Bewegung
zusätzlich radikalisierte – dieser einfache Vorgang von
Ursache und Wirkung scheint westlichen Politikern nicht
klar zu sein.
Natürlich
hat die nationalreligiöse Hamas immer darauf bestanden,
was ihr gutes Recht ist, die Besatzung zu bekämpfen,
soweit sich der Widerstand gegen militärische Ziele
richtet. Die Lösung der Palästina-Frage ist für sie nur
durch das Festhalten an den religiösen Geboten des Islam
möglich. Ob es dabei um ganz Palästina oder Teile davon
geht – in diesem Punkt ist die Organisation durchaus
pragmatisch und hat in letzter Zeit immer wieder
Kompromissbereitschaft angedeutet. Der Anspruch auf
Palästina aus religiösen Gründen – auch das ist eine
Aussage, die der Hamas im Westen immer wieder den
Vorwurf des „Terrorismus“ und des „Israel
Vernichten-Wollens“ eingebracht hat – ist aber kein
Monopol der Hamas. Helga Baumgarten zeigt auf, wie
ähnlich, ja fast identisch die Argumentation der Hamas
mit der der nationalreligiösen jüdischen Siedler ist:
„Die Hamas entwickelte ein Programm, in dem das Programm
und die Ideologie der religiös-nationalistischen
israelischen Siedler unter umgekehrten Vorzeichen fast
spiegelbildlich reflektiert waren: War dort Erez Israel
den Juden von ihrem Gott Jahwe anvertraut worden, so war
es hier Palästina, das deren Gott Allah den Muslimen als
Trust, als religiöse Stiftung (waqf auf Arabisch),
übergeben hatte.“
Auf
beiden Seiten hat der Konflikt zum Teil also eine starke
religiöse Dimension. Helga Baumgarten konstatiert aber:
„Festzuhalten bleibt, dass die Hamas, im Unterschied zu
den extremistischen und fanatischen Siedlern, eine stark
pragmatische Ausrichtung zeigte, die sie in die Lage
versetzte, Kompromisse zu machen und Maximalforderungen
wenn nicht aufzugeben, so doch in den Hintergrund zu
stellen. Die Siedler waren dazu weder bereit noch wurden
sie von irgendeiner Seite zu Kompromissen gezwungen.“
Die
Autorin räumt in ihrem Buch mit vielen gängigen
Vorurteilen über die Palästinenser und besonders die
Hamas auf. Bei der Lektüre ihres Textes wird klar, wie
oft man in Deutschland Opfer einer einseitigen oder
sogar falschen Medienberichterstattung werden kann.
Infolge der letzten Annäherung zwischen Fatah und Hamas
hat ihr Buch allerhöchste Aktualität. Es ist eine große
Bereicherung für den Diskurs über den Nahen Osten.
Baumgarten, Helga: Kampf um Palästina – Was wollen Hamas
und Fatah?, Herder Verlag Freiburg 2013, 9,99 Euro