Zurück
in die archaische Vergangenheit
Nationalstaat oder Gottesstaat? / Der Buchautor Sven
Severin sieht Israel auf dem gefährlichen Weg ins
religiöse Abseits
Arn
Strohmeyer
Dass der
Staat Israel mit dem Völkerrecht und den
Menschenrechten - im wahrsten Sinne des Wortes – auf
Kriegsfuß steht, ist kein Geheimnis. Man kann die
Ursachen für diese Feindschaft gegenüber
universalistischen Werten in der zionistischen Ideologie
selbst suchen und wird dort viele Anhaltspunkte und
Belege finden. Dem Autor Sven Severin reicht dieser
Ansatz nicht und er dringt in seinem Buch „Shalom ist
nicht Frieden. Die emotionalen Wurzeln des
Nahost-Konflikts“ tief in die Traditionen des Judentums
ein und wird dort auch in vieler Hinsicht fündig.
Parallelen zwischen der jüdischen Überlieferung und der
gegenwärtigen Politik Israels sind unübersehbar.
Dass die
Tora (das christliche Alte Testament) voller
Grausamkeiten steckt, die der jüdische Gott Jahwe zum
Teil selbst befiehlt, ist bekannt, auch wenn die
christlichen Kirchen diese Passagen lieber schamhaft
verschweigen, weil sie nicht ins fromme Bild passen. Der
konservative katholische Theologe Raymund Schwager hat
sich einmal die Mühe gemacht, die menschenverachtenden
Stellen im Alten Testament zu zählen. Er nennt etwa 1000
Passagen, in denen Jahwe selbst als direkter
Vollstrecker von strafenden Gewalttaten erscheint.
Außerdem gibt es viele Textstellen, in denen dieser Gott
die Übeltäter selbst dem Schwert der Bestrafer
ausliefert. In weiteren über hundert Stellen befiehlt
Jahwe ausdrücklich, Menschen zu töten. Der
protestantische Theologe Heinz-Werner Kubitza folgert
daraus: „Das Alte Testament ist ein Dokument des
religiösen Extremismus, der Gewaltverherrlichung und der
Intoleranz. Es ist geprägt von Rassismus, Verachtung
Andersdenkender, von perversen Bestrafungsfantasien und
einer rückständigen Ethik.“
Hier
setzt Sven Severin an und kann viele direkte Bezüge zur
zionistischen Ideologie und Praxis herstellen. Immer
wieder stellt er deshalb die Frage, inwieweit der Staat
Israel aus einer „Ideologie der Bronzezeit“ heraus lebt
und Politik macht, denn am Ende dieser vorhistorischen
Epoche entwickelten sich das Judentum und die beiden
frühen Stammesstaaten Nord- und Süd-Reich. Severin
konstatiert für die Gegenwart: „Je redlicher der
[jüdisch] Glaubende sein will, je genauer er die Gesetze
der Tora befolgen will, desto größer wird sein Problem
mit dem humanistischen Teil der durch die Aufklärung
gegangenen europäischen Restwelt.“ Und da Israel
politisch immer weiter nach rechts auf die
national-religiöse Seite rückt, ist dies vielleicht die
größte Spannung, die dieser Staat austragen muss.
Severin
hat seinem Buch den Titel gegeben: „Shalom ist nicht
Frieden“. Diese Formulierung überrascht, denn Shalom
wird auch in der nicht-jüdischen Welt als Gruß mit der
Aussage des Friedens verbunden. Der Autor zitiert den
Rabbi Boruch Leff, der Frieden so definiert: „Da der
Frieden kein passives Fehlen des Krieges, sondern eine
aktive Kraft ist, muss letzten Endes alles, was diesen
Friedenszustand stört und zerstört, aus dem Weg
geschafft werden, damit es einen wahrhaften Shalom,
einen wirklichen Frieden geben kann.“ Dieser
Friedensbegriff schließt danach den versöhnlichen
Kompromiss mit dem Gegner aus: Jahwes Frieden ist in der
Regel eine Folge des Sieges seines Volkes über die
Ungläubigen und Nichtjuden. Es geht immer um „sie“ oder
„wir“. Die Distanz zum Besiegten bleibt bei einem
solchen Shalom-Frieden immer erhalten. Severin schreibt:
„Es gibt keinen gemeinsamen Frieden, es gibt nur einen
befriedeten, sprich: ruhig gestellten und vergoltenen
Zustand, weil es mit dem Feind, der nachgeordneten
Ethnie, keine Gemeinsamkeit geben kann.“ Wer denkt da
nicht gleich daran, dass es aus israelischer Sicht mit
den Palästinensern eben keinen wahren und gerechten,
sondern nur einen Diktat- oder Unterwerfungsfrieden
geben kann?
Viele
Probleme und Missverständnisse, die sich das Judentum,
aber auch der Staat Israel selbst geschaffen haben und
auch noch schaffen und die bis zur Ablehnung oder zum
Antisemitismus reichen, rühren auch aus früher
biblischer Zeit her: der stammesmäßigen Absonderung, dem
Partikularismus, der Exklusivität. In der Tora nannten
sich die Hebräer schon das Volk, „das abgesondert wohnt,
das sich nicht rechnet zu den Völkern.“ (Numeiri 23,9).
Diese Tendenz zum eigenwilligen Rückzug auf sich selbst
ist eng mit dem Gefühl der Auserwähltheit verbunden, das
im Judentum und auch im heutigen Israel stark verankert
ist: „Israel, das Volk der Erwählung, glaubt einer
anderen Gesetzmäßigkeit zu unterliegen als die Völker
der Welt“, schreibt der jüdische Theologe Shalom
Ben-Chorin. Und weiter: „Das Gelobte Land gehört dem
erwählten Volk. Daraus werden realpolitische
Konsequenzen abgeleitet, die gegenwärtig den
internationalen Konfliktstoff darstellen.“ An anderer
Stelle schreibt er: „Erwählung, Verheißung und Landnahme
bilden eine Einheit. An die Erwählung schließt sich die
Verheißung des Landes an, die durch die Landnahme
realisiert wird.“
Politik
und Religion sind also im Judentum nicht voneinander zu
trennen. Das ist der rote Faden, der durch Severins Buch
zieht. Er beschreibt ausführlich Macht und Einfluss des
Rabbinats im heutigen Israel und führt an etlichen
Beispielen aus, wie diese „Ideologie der Bronzezeit“
nach wie vor die Politik des Staates Israel bestimmt. Er
will so die hinter der israelischen Politik stehenden
Erfahrungen und Gefühle aufspüren, die nicht in die
offizielle politische Diskussion der säkularen Welt
passen. Sie lägen viel tiefer in einer anderen
Gedankenwelt, außerhalb aller politischen Standpunkte,
merkt er an.
Er kann
zur Bestätigung seiner Thesen den israelischen
Journalisten Gideon Levy von der Zeitung Haaretz
zitieren, der schreibt: „Auf jeden Fall gibt es kein
anderes Land in der westlichen Welt, in dem Religion
einen so eisernen Griff um den Staat hat wie in Israel.
Israel ist ein halb-theokratischer Staat – nehmen wir es
zur Kenntnis.“ Der Zionismus hatte eben von Anfang an
das Problem, dass seine säkularen normativen
Begründungen zur Staatsbildung und Erneuerung des
jüdischen Volkes nicht ausreichten. Um eine Identität zu
schaffen, musste er auf die Religion zurückgreifen.
Die
religiöse Ethik in ihrer pharisäischen Version ist aber
anti-universalistisch und erlaubt vieles, das in der
westlich aufgeklärten Kultur nicht gestattet wäre,
zumindest offiziell nicht. Nur so und aus der aus der
Auserwähltheit hervorgehenden jüdischen Exklusivität
lässt sich die Akzeptanz der ständig ausgeübten
strukturellen und direkten Gewalt gegen die
Palästinenser erklären, die immer als „gerecht“ und
„vernünftig“ empfunden wird. Severin führt für das
Leiden der Palästinenser das Beispiel mit der „Grube“
an, ein Bild aus dem Talmud. In die Grube wurden
Abtrünnige gestoßen, deren man sich entledigen wollte.
Sie durften nicht gerettet werden, alle vorhandenen
Leitern wurden mit der Begründung entfernt: „Dem
Rechtschaffenen steht es nicht an, sich zu erbarmen über
die Bösen.“ Severin bezieht diese alte Talmud-Regel auf
die Lage der Palästinenser heute und schreibt: „Jetzt
muss man lediglich diese talmudische Grubenregel auf die
beiden arabisch gebliebenen Gebiete in Israel
extrapolieren, und man erkennt sofort ihren Charakter in
der Lage der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland
wieder. In jedem Detail ihrer dortigen Realität werden
talmudische Verfahrensweisen gespiegelt. Alle täglich
vorhandenen und mildernd wirkenden ‚Leitern‘ in der
Grube wurden entfernt. Nennen wir sie hier: Ausreichend
Trinkwasser, ärztliche Versorgung, Geburtshilfe,
Bewegungsfreiheit, Ausreisemöglichkeit (dazu die
schikanösen Hürden bei Wiedereinreise), die Einfuhr von
Medikamenten und Baumaterialien, Stromversorgung, heile
Dächer über dem Kopf, normale sanitäre Bedingungen, aus
eigener Kraft für die eigene Ernährung sorgen zu können,
also sein eigenes Feld zu bestellen und Fische (in
weiterer Entfernung als 4,5 Kilometer fangen zu dürfen),
alles das wurde nach der zweiten Intifada, dann nach der
(leider von der ‚falschen Partei‘, der Hamas,
gewonnenen) Wahl 2006, und vor allem nach dem ersten
Gaza-Krieg sukzessiv mit militärischer Nötigung und
Bürokratie bis zur Aberwitzigkeit erschwert.“ Das Ziel
dabei war klar: das Selbstwertgefühl der
Eingeschlossenen zunehmend kollektiv auszulöschen.
Sven
Severin zerstört mit solchen Deutungen sicher
Denk-Tabus, denn die jüdische Religion gilt im immer
noch schuldbeladenen Deutschland als unantastbar, es ist
eine „Religion der Nächstenliebe“, wie immer wieder
betont wird. Aber Severins Belege sind zu überzeugend,
als dass man ihnen widersprechen könnte. So sieht es
auch der israelische Theologe Ben-Chorin: solche
Jahrtausende alten Traditionen sitzen tief im
kollektiven Unbewussten, auch bei den Säkularen.
Konsequent von seinem Ansatzpunkt ausgehend, dass die
Religion Israels Politik ganz maßgeblich mitbestimmt,
kann Severin sich eine Wende der israelischen Politik
nur vorstellen, wenn diese Religion eine Reformation
durchläuft und sich zu universalen Werten wie den
Menschenrechten und dem Völkerrecht hin öffnet. Aber
solche Prozesse dauern sehr lange, und es ist die Frage,
ob das politische Israel noch so viel Zeit hat, eine
Lösung des Palästina-Problems zu erreichen.
Etwas zu
kurz kommt in Severins Buch der sicher immense Einfluss
des Holocaust auf die israelische Mentalität und
Identität. Das Holocaust-Bewusstsein wird ja
propagandistisch mit allen Mitteln betrieben, was auch
viele Israelis sehr kritisch sehen, denn das Land müsse
nach vorn schauen und nicht zurück, der Opfer müsse man
mit Würde gedenken, aber „aus ihrer Asche lasse sich
nichts Neues und Kreatives schaffen“ (Abraham Burg).
Sven Severins sehr gründlich recherchiertes Buch
beleuchtet Israels Politik von einer Seite, der man
bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat und das macht
diese Neuveröffentlichung überaus wertvoll.
Sven
Severin: Shalom ist nicht Frieden. Die emotionalen
Wurzeln des Nahost-Konflikts, Gabriele Schäfer Verlag
Herne, ISBN 978- 3-944487-18-2, 25 Euro