Hohe Gefängnisstrafen und Sippenhaft
Wie Israel den Widerstandsgeist von
palästinensischen Kindern bricht
Arn Strohmeyer
Immer mehr Juden
in Deutschland fühlen sich nach eigenen Angaben
bedroht und sprechen von „anwachsendem
Antisemitismus“. Es ist schwer nachzuprüfen, ob
diese „Bedrohung“ einen realen Hintergrund hat
oder nur hysterische Panikmache ist. Aber wenn
ein Kern Wahrheit daran ist, dann sollte man
auch bedenken, dass in der ganzen Diskussion in
Deutschland ein Argument völlig fehlt: Wegen
Israels brutaler Besatzungs- und
Unterdrückungspolitik gegenüber den
Palästinensern herrscht Kriegszustand zwischen
Israelis und Palästinensern und auch den meisten
Arabern, der auch auf deutschem Boden
ausgetragen wird. Israels Okkupationspolitik
produziert geradezu den „Antisemitismus“, über
den hierzulande so geklagt wird, der in
Wirklichkeit aber ein Antizionismus oder
Anti-Israelismus, also Kritik an der Politik
dieses Staates ist. Aber die deutsche Politik
wagt nicht, diese Tatsache beim Namen zu nennen
und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu
ziehen: Druck auf Israel auszuüben, damit dieser
Staat endlich seine völkerrechts- und
menschrechtswidrige Besatzungspolitik beendet.
Ein Fall aus
dieser Besatzungspolitik, wie er sich im
besetzten Westjordanland täglich ereignet: Ein
israelisches Gericht hat jetzt die Haft des
16jährigen palästinensischen Teenagers Ahed
al-Tamimi verlängert. Das Mädchen war am
Dienstag bei einer Razzia israelischer
Sicherheitskräfte im Haus ihrer Familie in dem
Dorf Nabi Saleh verhaftet worden, ihre Mutter
wurde anschließend festgenommen, als sie ihre
Tochter im Gefängnis besuchen wollte. Was hat
sich das junge Mädchen zuschulden kommen lassen?
Es hat wie andere Mitglieder seiner Familie
Widerstand gegen die Besatzung geleistet, was
ihr nach internationalem Recht zusteht, wenn er
sich nicht gewaltsam gegen Zivilisten richtet.
Aber im Besatzerstaat Israel werden grundlegende
Rechte wie die Äußerung der freien Meinung, das
Veröffentlichen und Verbreiten von Dokumenten
des Widerstandes und jede Formulierung von
oppositionellen Gedanken hart bestraft.
Der Fall ist aber
offenbar so bedeutsam, dass selbst Israels
Verteidigungsminister Avigdor Lieberman dazu
Stellung nahm. Er sagte, dass Ahed nicht die
einzige sein werde, die die Konsequenzen ihres
Handelns tragen müsse. Und drohend fügte er
hinzu, auch alle um sie herum – also auch ihre
Verwandten – würden das bekommen, was sie
verdienten. Was Ahed konkret vorgeworfen wird,
konnte der Minister nicht sagen, das scheint
auch nebensächlich zu sein. Seine Drohung, gegen
Aheds Familie vorzugehen, nennt man in
Rechtsstaaten schlicht „Sippenhaft“.
Der Fall Ahed
al-Tamimi ist nur einer von hunderten ähnlichen
in jedem Jahr. Rund 300 bis 400 Kinder sitzen
wegen „Widerstand“ gegen die Besatzung ständig
unter furchtbaren Bedingungen in israelischen
Gefängnissen. Die Gesamtzahl der
palästinensischen Gefangenen liegt konstant
zwischen 6000 und 7000. Seit 1967 hat Israel
eine Million Palästinenser aus politischen
Gründen inhaftiert. Kinder können nach dem
israelischen Militärrecht, das für die
Palästinenser im Westjordanland gilt, bereits ab
einem Alter von 12 Jahren zu langjährigen
Gefängnisstrafen verurteilt werden – etwa wegen
Steinewerfen gegen israelische Militärs oder
deren Fahrzeuge. Nach diesem Militärrecht können
Verhaftete – auch Kinder – 90 Tage ohne
juristischen Beistand bleiben. Besuch ihrer
Angehörigen werden ihnen nur selten gestattet.
Das
UN-Kinderhilfswerk UNICEF hat gegen die
Behandlung palästinensischer Kinder durch Israel
immer wieder protestiert, aber ohne Erfolg. In
einem UNICEF-Bericht von 2013 heißt es: „Die
Misshandlung von palästinensischen Kindern in
israelischen Gefängnissen scheint weit
verbreitet, systematisch und institutionalisiert
zu sein. (…) Das Muster der Misshandlung
beinhaltet die Verhaftung von Kindern zu Hause
zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens durch
schwerbewaffnete Soldaten, die Praxis, Kindern
die Augen zu verbinden und ihre Hände mit
Plastikfesseln zu fixieren, physische und
verbale Misshandlung während der Transporte zum
Ort des Verhörs, (…) die Befragung mittels
physischer Gewalt und Drohungen (…) und
fehlender Beistand durch Anwälte und
Familienmitglieder während des Verfahrens.“
Palästinensische Kinder sollen offenbar auf
diese Weise seelisch gebrochen werden, damit sie
nie wieder auf den Gedanken kommen, Widerstand
gegen Israel zu leisten, das heißt, für ihre
eigenen Rechte als Individuen und Volk
einzutreten.
Die israelische
Soziologin Eva Illouz von der Universität in
Jerusalem hat die aktuelle Lebenssituation der
palästinensischen Bevölkerung unter der
Besatzung, einschließlich der von Frauen und
Kindern, mit einem Zustand der Sklaverei
verglichen. Die Lebensumstände dieser Menschen,
so Illouz, stellten uns vor eine der großen
moralischen Fragen unserer Zeit und seien in
mancher Beziehung vergleichbar mit der
Sklaverei, die die USA im 19. Jahrhundert
spaltete. Die Soziologin schreibt wörtlich:
„Wenn die Mehrheit der palästinensischen
Bevölkerung unter Bedingungen lebt, unter denen
ihre Freiheit, Würde, körperliche
Unversehrtheit, Möglichkeit zu arbeiten,
Eigentum zu erwerben, zu heiraten – und ganz
allgemein – ihre Zukunft zu planen, von der
Willkür und Macht ihrer israelischen Herren
abhängt, man diese Bedingungen nur bei ihrem
wahren Namen nennen kann: Zustände der
Sklaverei.“
An all dies sollte
man denken, wenn über das angebliche Anwachsen
des Antisemitismus in Deutschland und anderen
Ländern Europa geklagt wird. Man darf sich
nichts vormachen: Die furchtbaren Zustände in
Palästina und der Hass auf Israelis bzw. Juden
(zumeist, aber nicht nur von Arabern)
hierzulande hängen sehr eng miteinander
zusammen. Wie würden Juden ganz allgemein und
speziell Israelis reagieren, wenn irgendwo auf
der Welt Juden das angetan würde, was Israelis
Palästinensern jeden Tag antun? 20.12.2017