Die Diskussion über Boykottaktionen gegen
Produkte aus den besetzten Gebieten in Deutschland führt zu
absurden Blüten
Arn Strohmeyer
Die Boykottaktionen gegen Produkte aus den
von Israel völkerrechtswidrig besetzten Gebieten haben in
Bremen - und nicht nur dort - hohe Wellen geschlagen. Die
Teilenehmer dieser Aktion wurden als üble Antisemiten und
„Nazis“ diffamiert, die dazu aufforderten, „nicht bei Juden
zu kaufen!“ Henryk Broder zog sogar einen Vergleich mit der
SS. Und auch in der „Linken“ gab es wütende Kommentare.
Nun erfährt man zu dem Thema interessante
ergänzende Einzelheiten, die bisher wenig oder gar nicht
bekannt waren, die die Medienrechtlerin Sabine Schiffer
jetzt aber öffentlich gemacht hat. Am 2. Dezember 2010 kam
in Brüssel beim Präsidenten des Rates der EU, Hermann von
Rompuy, und bei der Hohen Repräsentantin für Auswärtige
Angelegenheiten, der Ersten Vizepräsidentin der Europäischen
Kommission, Lady Catherine Ashton, ein Schreiben an. Der
Brief hatte Appell-Charakter und lässt sich unter die
Überschrift bringen: „Es reicht! Europa hat die Nase voll!“
Es ging in dem Schreiben um die Nahost-Politik der EU.
Unterschrieben hatten den Brief ehemalige europäische
Spitzenpolitiker und Staatsoberhäupter, die klar und
deutlich eine andere Nahost-Politik der EU fordern, nämlich
die „Umsetzung der Beschlüsse des Rates zum
Nahost-Friedensprozess“. Eine Kopie des Schreibens erhielten
am 6. Dezember 2010 alle EU-Regierungschefs, die
EU-Außenminister und die Medien.
Große Namen der europäischen Politik gehörten
zu den Unterzeichnern wie Helmut Schmidt, Richard von
Weizsäcker, Javier Solana, Felipe Gonzales, Benita
Ferrero-Waldner, Lionel Jospin und Romani Prodi, um nur
einige zu nennen. Obwohl die Deutsche Presse Agentur (dpa)
einen längeren Text über den Vorgang verbreitete, nahmen die
bürgerlichen Medien in Deutschland von dem Text keine Notiz.
Als einzige Tageszeitung brachte die linke „Junge Welt“ am
13.12. eine Meldung unter dem Titel „Appell der Oldies“.
Selbst „Die Zeit“, deren Mitherausgeber Helmut Schmidt ist,
unterdrückte die Nachricht. Man kann das mit Recht einen
Skandal nennen. Wegen des Totschweigens läuft nach den
Angaben von Sabine Schiffer bei der ARD eine
Programmbeschwerde, die ein Rechtsanwalt an den Sender
gerichtet hat. Denn die Öffentlich Rechtlichen
Sendeanstalten haben einen verfassungsrechtlich festgelegten
Informationsauftrag, dem sie in diesem Fall - wohl ganz
bewusst - nicht nachgekommen sind.
Der Inhalt des Briefes der Elder Statesmen
war offensichtlich zu brisant für deutsche Medien. Denn die
prominenten Politiker betonen vor allem den fortgesetzten
Siedlungsbau als Staatsgründungs- und damit
Friedenshindernis und fordern die israelische Regierung auf,
sich an Vereinbarungen zu halten. Sie verlangen auch, die
Einfuhr von Produkten zu unterbinden, die aus den besetzten
Gebieten stammen, und als „israelisch“ ausgewiesen werden
und damit gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Außerdem rufen
sie die EU dazu auf, die Bildung eines unabhängigen
Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967 zu
unterstützen. Hier ginge es um die Glaubwürdigkeit der EU.
Die eingesetzten hohen europäischen Investitionen könnten
sonst allesamt ergebnislos verloren sein und dies könne man
dem europäischen Steuerzahler nicht mehr länger zumuten.
Diese Erklärung wurde vor den arabischen
Revolutionen formuliert und abgeschickt. In ihr fordern die
Elder Statesmen zudem, dass Israel auf Grund der Asymmetrie
der Macht im Nahen Osten eine Bringschuld für eine
Friedenslösung habe. Erst in zweiter Linie könne man die
unterlegenen Palästinenser in die Pflicht nehmen. Auf jeden
Fall sollten in Zukunft EU-Gelder ihren Zweck erfüllen und
nicht die israelische Besatzung stützen. Die Unterzeichner
empfehlen den Staats- und Regierungschefs der EU, Israel
jetzt eine Frist zu setzen, innerhalb derer
Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern zu
einem Ergebnis führen müssten. Geschehe dies nicht, müsse
die internationale Gemeinschaft über die Konfliktlösung
entscheiden.
Die Bremer Teilnehmer an der Boykottaktion
haben nichts anderes gefordert, als es in dem Schreiben der
Elder Statesmen angesprochen wird. Sogar die Unterbindung
der Einfuhr von Produkten und Früchten aus den von Israel
besetzten Gebieten in die EU wird dort verlangt. Genau dafür
sind die Bremer Demonstranten auf die Straße gegangen. Sind
also Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Lionel Jospin
und Felippe Gonzales und die anderen Unterzeichner alle
Antisemiten, die dazu auffordern, „nicht bei Juden zu
kaufen“? Der Appell der Elder Statesmen belegt einmal mehr,
wie irrational und absurd die ganze Antisemitismus-Debatte
in Deutschland inzwischen ist und wie dringend notwendig und
überfällig eine für beide betroffenen Seiten gerechte Lösung
des Nahost-Problems ist. Die Deutschen - gerade auch die
gegenwärtigen Amtsträger in den politischen
Spitzenpositionen - müssen die Verantwortung, die sie
aufgrund der deutschen Geschichte gegenüber den Juden und
Israel haben, endlich in das Bemühen um einen gerechten
Nahost-Frieden im Sinne der Elder Statesmen einbringen und
nicht die Kolonial- und Besatzungspolitik Israels stützen,
die Europa viel Geld kostet und keine Zukunft hat. Wer das
nicht unterstützt, entpuppt ich als der wahre „Antisemit“,
weil er nicht sehen will oder kann, dass Israel mit seiner
gegenwärtig praktizierten Politik seine eigene Zukunft
gefährdet.