Der Triumph
des moralischen Nihilismus
Der wahnhafte Antisemitismus-Vorwurf bei jeder
Kritik an Israels Unrechtspolitik ist ein Tiefpunkt der politischen
Debattenkultur in Deutschland
Arn Strohmeyer
Ein Journalist fragte
kürzlich in einer Kolumne, ob es zur Zeit auf dem Globus politisch nur noch nach
dem Prinzip Gaga läuft: Brexit-Lustspiel, Trump-Trara, Italo-Dramen und
AfD-Gepolter. Also alles nur Gaga? Wäre ja schön, wenn es so harmlos und spaßig
wäre, aber so lachhaft sind Typen wie Trump, May, Orban, Erdogan und Netanjahu
denn doch nicht. Der Schaden, den sie anrichten, ist unermesslich, vor allem der
moralische, denn die Maßstäbe verschieben und verzerren sich in ganz
bedenklicher Weise, im Großen wie im Kleinen.
Als Beispiel für einen
moralischen Verfall soll es hier um den Antisemitismus-Vorwurf bei Kritik an
Israels Politik gegenüber den Palästinensern gehen, der immer groteskere und
wahnhafte Züge annimmt. Dieser Vorwurf hat mit Gaga gar nichts mehr zu tun.
Israel hält seit über 50 Jahren ein brutales und grausames Besatzungsregime über
ein ganzes Volk aufrecht, nachdem es ihm zuvor (1948) schon sein Land geraubt,
die Hälfte dieses Volkes vertrieben und seine Gesellschaft und Kultur zerstört
hat. Und die Unterdrückung geht weiter mit allem, was dazu gehört: Landraub,
totaler Kontrolle, Checkpoints, Razzien, Verhaftungen (auch von Kindern),
Administrativhaft, Folter und dem Erschießen gewaltloser Demonstranten. Dazu
kommen immense ökonomische Verluste.
Der israelische
Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever hat die Schäden aufgelistet, die die
Besatzung den Palästinensern zufügt: „Die Höhe einer solchen Entschädigung [die
Israel zahlen müsste] zu schätzen, ist sehr schwierig. Dafür muss das Ausmaß des
Schadens in Betracht gezogen werden, den die israelischen Behörden der
palästinensischen Ökonomie zugefügt haben: Sie haben Häuser zerstört [inzwischen
weit über 30 000], Land konfisziert, Bäume entwurzelt, den Zugang zu
Arbeitsplätzen und Agrarland verwehrt, Importe und Exporte blockiert,
palästinensische Arbeitskräfte und Naturressourcen, besonders Wasser,
ausgebeutet und Zehntausenden von Palästinensern körperliche Verletzungen und
dauerhafte Behinderungen zugefügt. Die Schäden addieren sich mindestens zu einer
Summe von US-Dollar im zweistelligen Milliardenbereich. Eine Entschädigung in
dieser Höhe könnte die israelische Ökonomie in den Bankrott treiben, Jahre der
Stagnation mit sich bringen und zu einer Einschränkung des Lebensstandards der
meisten Israelis führen.“
Diese unhaltbaren Zustände
offen beim Namen zu nennen, löst in breiten deutschen Mainstream-Kreisen
inzwischen reflexartig den Antisemitismus-Vorwurf aus. Man muss bei diesem
Reflex automatisch an die Pawlowschen Hunde denken, denen man in einem
Experiment beim Ertönen eines Klingelzeichens etwas zu fressen gab und die dann
nach gewisser Zeit beim erneuten Ertönen des Klingelzeichens sofort zu ihren
Fressnäpfen liefen. Inzwischen ist ein ganzer Berufsstand von Organisationen und
Leuten entstanden, die (teilweise sogar unterstützt durch Steuergelder) nichts
weiter tun, als inquisitorisch „Antisemiten“ zu jagen und zur Strecke zu
bringen.
Der israelische
Sozialwissenschaftler Moshe Zuckermann hat das Phänomen schon vor Jahren so
beschrieben: „Kaum noch zur Sprache kommt nämlich, was es damit auf sich hat,
dass der Antisemitismus-Vorwurf inzwischen selbst zum Fetisch geronnen ist, die
Sachwalter des Antisemitismus-Vorwurfs sich (nach alter deutscher Tradition) wie
scharfrichterliche Gesinnungspolizisten gerieren, und der real grassierende
Antisemitismus sich an der Tendenz delektieren darf, dass alles, was sich
kontingent anbietet, so sehr dem Antisemitismus-Vorwurf unterstellt wird, dass
der wirklich zu bekämpfende Antisemitismus sich hinter der Verwässerung des
Begriffs und seiner zunehmenden Entleerung konsensuell verstecken kann. Vor
lauter Antisemitismus-Jagd ist inzwischen jeder und jede im deutschen
öffentlichen und halböffentlichen Raum tendenziell dem drohenden Vorwurf
ausgesetzt, manifest oder latent antisemitisch zu sein, wobei die keulenartige
Drohgebärde mittlerweile so wirkmächtig geworden ist, dass viele in
eingeschüchtert-vorauseilender Unterwerfung die perfiden Regeln des Katz- und
Mausspiels verinnerlicht haben und ihnen nichts dringlicher erscheint, als dem
Vorwurf dessen, was ihnen gar nicht in den Sinn gekommen war, entkommen zu
sollen.“
Und weiter: „Das
In-Abrede-Stellen des Vorgeworfenen nützt nichts, wird mithin im günstigen Fall
belächelt, im gängigeren aber als um so evidenterer Beweis für den unbewussten
Antisemitismus des sich des Vorwurfs Erwehrenden gedeutet (und lauthals
verkündet). Die Aura ahnungsvollen Wissens um das, was dem ignoranten
Beschuldigten verborgen bleiben muss, umgibt jene, die sich schon mal in der
Bezeichnung ‚hauptamtliche Antisemitismusjäger‘ gefallen, wobei sie inzwischen –
auch das hat deutsche Tradition – nicht nur dezidiert zu bestimmen wissen, wer
(annehmbarer) Jude, sondern gleich auch, wer unweigerlicher Antisemit sei.“
Zuckermann hat bereits die
Methoden angedeutet, nach denen die neuen Inquisitoren vorgehen. Sie suchen
vorrangig nicht nach harten Fakten, um wirklichen Antisemitismus aufzudecken und
zu bekämpfen, was ja volle Unterstützung verdienen würde. Sie gehen viel
diffiziler, aber auch perfider und infamer vor. Das Wort „Jude“ muss gar nicht
vorkommen in den von ihnen inkriminierten Aussagen, man liest zwischen den
Zeilen und unterstellt, dass „Antisemiten“ bestimmte Anspielungen, Bilder,
Chiffren und Codes benutzen, weil sie sich als Judenhasser direkt nicht outen
wollen. Selbst das Unbewusste wird als Beleg herangezogen. Damit ist jeder
Verdächtigung und jedem Rufmord Tür und Tor geöffnet.
Die wichtigsten Code- und
Signalwörter, die sie bei ihrer Jagd auf „Antisemiten“ einsetzen, betreffen
erstens– wie schon angesprochen – Kritik an Israels völkerrechts- und
menschenrechtswidriger Politik gegenüber den Palästinensern und zweitens das
neoliberale Wirtschaftssystem. Denn auch Kritik am Kapitalismus und an dem
gegenwärtigen Finanzsystem wird Antisemitismus unterstellt, weil es sich für
diese Inquisitoren ja von selbst versteht, dass damit nur Juden gemeint sein
können – also Kapitalisten, Investmentbanker und Finanzmogule. Fallen in diesem
Zusammenhang Begriffe wie „Globalität“, „Raffgier“ und „Drahtzieher“ oder werden
Tiermetaphern in Verbindung mit der Wirtschafts- und Finanzwelt benutzt wie etwa
„Heuschrecken“ (was bei Hedgefonds und Investmentbanken durchaus angebracht und
treffend sein kann), dann ist für die Inquisitoren der Fall klar: Hier handelt
es ich eindeutig um Antisemitismus, denn solche Begriffe gehörten schon immer in
das Arsenal der Judenhasser.
Ganz konsequent fragte Jens
Berger von den „NachdenkSeiten“ denn auch kürzlich: „Wie soll man als Autor denn
beispielsweise die kriminellen Aktionen von Investmentbanken wie Goldman Sachs
sonst beschreiben? Goldman Sachs ist nun einmal ein global agierendes
Unternehmen und keine Kreissparkasse. Die Investmentbanker sind tatsächlich
raffgierig, ziehen im Finanzsektor die Fäden und sitzen leider auch vornehmlich
in New York.“ Also künftig keine kritische Auseinandersetzung mehr mit diesem
Finanzsystem? Völlig absurd!
Aber die Kritik der
Inquisitoren zeigt durchaus Wirkung – nicht erst seit gestern. Als 2005 in
Deutschland eine erregte Debatte über das skrupellose Vorgehen von Hedgefonds
ausbrach und der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering die
Vorgehensmethoden dieser Finanzsparte mit „Heuschrecken“ verglich, brach der
Sturm über ihn los. Vor allem der deutsch-israelische Historiker Michael
Wolffsohn war sofort mit dem Antisemitismus-Vorwurf zur Stelle, obwohl von Juden
im Zusammenhang mit den Hedgefonds direkt gar keine Rede war: „60 Jahre ‚danach‘
werden heute wieder Menschen mit Tieren gleichgesetzt, die – das schwingt
unausgesprochen mit – als ‚Plage‘ vernichtet, ‚ausgerottet‘ werden müssen.“ Und:
„Diese Plage nennt man heute ‚Heuschrecken‘, damals ‚Ratten‘ oder
‚Judenschweine‘. Wörter aus dem Wörterbuch des Unmenschen, weil Menschen das
Dasein abgesprochen wird.“
Über die Sache, also die
Praktiken der Hedgefonds, Mittelstandsbetriebe aufzukaufen, sie zu zerlegen, um
sie dann mit Gewinn zu verkaufen und viele Arbeitnehmer auf die Straße zu
setzen, sprach niemand mehr. Wolffsohns Antisemitismus-Vorwurf hatte die Debatte
abrupt beendet. Die Hedgefonds werden es ihm gedankt haben, sie konnten nun
wieder in Ruhe und ungestört ihren fraglichen Geschäften nachgehen. Apropos
Tiervergleiche. Hatte Michael Wolffsohn sich auch zu Wort gemeldet, als Franz
Josef Strauß linke Intellektuelle als „Schmeißfliegen“ beschimpfte und die
rebellischen Studenten in der 1968er Zeit als „Tiere“ dämonisierte, „für die die
Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich“ sei? Oder als
Israels Ministerpräsident Menachem Begin Palästinenser als „Tiere auf zwei
Beinen“ titulierte.
Wie absurd die
Antisemitismusjagd der neuen Inquisitoren ist, möge ein Beispiel demonstrieren,
das sich die Jäger aber noch nicht vorgenommen haben, das aber ihrer fanatischen
Logik und ihrem Suchen nach Codes, Chiffren, Anspielungen, verdächtigen
Begriffen und Bildern genau entspricht. Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker
und große Humanist Erich Fromm hat ein Buch mit dem Titel „Haben und Sein“
geschrieben. In diesem Werk konstatiert er zwei Arten der Existenz der
menschlichen Seele: den Modus des Habens, der sich auf das gierige Streben nach
materiellem Besitz konzentriert, auf raffende Gewinnsucht, Macht und Neid. Dem
stellt Fromm den Modus des Seins gegenüber, der sich auf Liebe gründet, auf die
Bereitschaft zu teilen und sich in mitmenschlicher und wesentlicher
schöpferischer Tätigkeit ausdrückt.
Natürlich denkt Fromm beim
Habenmodus an den die gegenwärtig Welt beherrschenden Kapitalismus und natürlich
auch an seine Finanziers und beim Seinsmodus an eine sozialistische
Gesellschaftsform, wobei er den damals noch existierenden sowjetischen
Kommunismus strikt ablehnte, weil er in ihm keinerlei Fortschritt für die
Menschen sah. In der Bilanz seiner Analyse ging er sogar noch weiter, denn er
prognostizierte, dass der Habenmodus mit seiner aggressiven, expansionistischen
Besitz- und Wachstumsmoral die Welt in den ökonomischen sowie ökologischen Ruin
führen werde und dass nur eine seins-orientierte Lebensweise den Globus noch
retten könne. Da müssen doch bei den Inquisitoren alle Alarmglocken auf einmal
läuten – so viele „antisemitische“ Chiffren, Codes und verdächtige Begriffe in
einem Buch, das noch vor wenigen Jahren ein Bestseller war. Und da Fromm sich in
allen seinen Schriften auf Karl Marx und Sigmund Freud beruft, müsste man diese
beiden überragenden jüdischen Gestalten der Geistesgeschichte auch gleich noch
auf den „Antisemitismus“-Index setzen. Völlig absurd!
Ein anderes Beispiel. Der
schon genannte israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever untersucht in
seinem Buch „Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Unterdrückung
über die Ausbeutung hinaus“, wie sehr der Staat Israel und sein ökonomischer
Neoliberalismus von der Besatzung über die Palästinenser profitieren und wie
Israel auch die Kriege, die es zusammen mit den USA im Nahen Osten führt, nur
wirtschaftlichen Nutzen bringen. Hever, der sich bei dieser Aussage auf die
beiden ebenfalls israelischen Ökonomen Jonathan Nitzan und Shimson Bichler
beruft, schreibt: „Da viele der größten und mächtigsten Ölunternehmen und
Waffenhersteller ihren Sitz in den USA haben und einen starken Einfluss auf die
US-Regierungen ausüben, behaupten Bichler und Nitzan, dass die Beteiligung der
USA im Nahen Osten nicht darauf abzielt, Frieden zu fördern, sondern vielmehr
darauf, Konflikte anzustiften und zu verewigen. Erreicht wird dies durch die
Unterstützung der Kriegspolitik Israels, den Schutz Israels vor etwaigen
Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf seine Verstöße gegen
internationales Recht sowie durch Waffenlieferungen in die Region.“
Weiter stellen Hever, Nitzan
und Bichler fest: „Die Vereinigten Staaten haben durchweg die israelische
Siedlungs- und Besatzungspolitik unterstützt, um mit ihr das Potential zum
Erzeugen von Provokationen aufrechtzuerhalten, die zu gewalttätigen Ausbrüchen
führen können. Diese wiederum bringen Erhöhungen der Preise für Öl und Waffen
mit sich und damit höhere Profite für die Ölunternehmen und Waffenhersteller.
Obwohl die US-Ökonomie als ganze von Öl abhängig ist und von niedrigeren
Ölpreisen profitieren würde, haben hier die Interessen der zentralen
wirtschaftlichen Akteure [auch israelischer, wie Nitzan und Bichler an anderer
Stelle schreiben] vor denen der Bevölkerung Vorrang.“ Nach dieser Aussage sind
die USA und Israel aus reiner Profitgier die Hauptkriegstreiber im Nahen Osten.
Wie stehen die Antisemitismus-Jäger zu dieser Feststellung dreier israelischer
Wirtschaftswissenschaftler? Alle Antisemiten?
Aber Juden werden von den
Absurditäten dieser Antisemitismus-Jäger nicht ausgenommen. Das belegt der Fall
der deutschen Sektion der Menschenrechtsgruppe „Jüdische Stimme für gerechten
Frieden in Nahost“. Ihr wurde von der Berliner „Bank für Sozialwirtschaft“ auf
Betreiben der Inquisitoren das Konto wegen des Verdachts des „Antisemitismus“
gekündigt, weil sie angeblich BDS unterstütze. Auf Proteste der Öffentlichkeit
hin wurde die Entscheidung der Bank wieder zurückgenommen. Der Streit geht aber
weiter und gipfelte jetzt in dem Auftrag der Bank an den Beauftragten der
Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen
Antisemitismus Dr. Felix Klein, eine wissenschaftliche Expertise über die Frage
einzuholen, ob die „Jüdische Stimme“ als „antisemitisch“ einzustufen sei. Eine
deutsche nicht-jüdische Antisemitismus-Expertin soll diese Expertise erstellen.
Über hundert jüdische
Intellektuelle von Rang aus Israel und den USA (darunter Micha Brumlik, Judith
Butler, Noam Chomsky, Alfred Grosser, Ruchama Marton, Avi Shlaim, Moshe
Zimmermann und Moshe Zuckermann) unterschrieben daraufhin eine Resolution, deren
Kernaussage ist, dass der Einsatz für Menschenrechte nicht „antisemitisch“ sein
kann. Wörtlich heißt es in dem Text: „Unter dem Vorwand des Schutzes jüdischen
Lebens sind (…) inzwischen Angriffe auf Organisationen und Personen, die sich
mit palästinensischen Bestrebungen nach Gleichheit und Befreiung solidarisch
zeigen, Alltag geworden. Die freie Rede in Bezug auf palästinensische
Menschenrechte wird durch Forderungen, Diskussionen im öffentlichen Raum zu
verbieten, durch öffentliche Verleumdungskampagnen und entsprechende Beschlüsse
eingeschränkt.“
Weiter heißt es in dem
Aufruf, dass das Vorgehen gegen die „Jüdische Stimme“ alarmierend sei:
„Repräsentanten des deutschen Staates, des Finanzsektors und der Wissenschaft
sind zusammengekommen, um gemeinsam ein Urteil darüber zu fällen, ob eine Gruppe
von Juden und Israelis, darunter viele Nachkommen von Holocaust-Überlebenden,
antisemitisch sei. Aus gutem Grund weigern sich Mitglieder der ‚Jüdischen
Stimme‘, bei einem solchen lächerlichen und schamlosen Unterfangen mitzuwirken.
Als jüdische und israelische Akademiker und Intellektuelle, die dem Kampf gegen
Antisemitismus und alle Formen von Rassismus verpflichtet sind, verurteilen wir
die laufende Kampagne, die darauf abzielt, die ‚Jüdische Stimme‘ und ihre
Mitglieder zum Schweigen zu bringen, unabhängig davon, ob wir mit allen ihren
Positionen übereinstimmen. Wir rufen die deutsche Zivilgesellschaft dazu auf,
Antisemitismus unnachgiebig zu bekämpfen und dabei klar zu unterscheiden
zwischen Kritik am Staat Israel, so hart sie ausfallen mag, und Antisemitismus.
Wir fordern sie weiter dazu auf, die freie Meinungsäußerung jener zu
gewährleisten, die sich gegen die israelische Unterdrückung der
palästinensischen Bevölkerung wenden und auf der Beendigung dieses Zustandes
bestehen. Wir stehen ein für Menschenrechte. Unsere Solidarität gilt der
‚Jüdischen Stimme‘.“
Nach der Logik der
Inquisitoren müssten alle diese renommierten israelischen und jüdischen
Akademiker und Intellektuellen Antisemiten sein. Man sieht hieran sehr gut, in
welche irratonalen Abgründe sich diese Leute verirrt haben. Außerdem wird an
diesem Beispiel klar, wie tief das heutige Judentum gespalten ist: in die
nationalistischen Zionisten und ihre Anhänger, denen es ausschließlich um das
Wohl Israels geht, und die weltoffenen Universalisten, deren Anliegen die
Verwirklichung der Menschenrechte überall auf der Welt ist. Was auch die
Schlussfolgerung aus dem Holocaust deutlich macht. Die Zionisten sagen: Das darf
uns nie wieder passieren. Die Universalisten sagen: So etwas darf
keinem Menschen auf der ganzen Welt noch einmal widerfahren. Die
Antisemitismusjäger und ihre Anhänger sind ausschließlich dem zionistischen
Dogma verpflichtet.
Der perfide
Antisemitismus-Vorwurf, der bis zur Denunziation und zum existenzvernichtenden
Rufmord gehen kann (was natürlich beabsichtigt ist), hat seinen Grund vor allem
darin, dass die Inquisitoren sich weigern, klar und deutlich zwischen Judentum
und Zionismus zu unterscheiden. Es sei hier noch einmal gesagt: Judentum ist
nicht nur eine Religion, sondern eine kulturelle Gemeinschaft im weitesten
Sinne, wohingegen der Zionismus eine politische Ideologie ist, deren Ziel die
Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina ohne Palästinenser ist.
Antisemitismus ist Hass auf Juden, der sich im negativen Habitus ihnen gegenüber
ausdrückt, der bis zur Verfolgung und Ausrottung (Holocaust) gehen kann. Dieser
sogenannte „alte“ Antisemitismus ist von dem „neuen“ zu unterscheiden, den die
Zionisten und die Israel-Anhänger vertreten und der in erster Linie Kritik an
der Politik Israels als „antisemitisch“ diffamiert.
Nur weil die Inquisitoren
beides in einen Topf werfen und nicht differenzieren, können sie ihr infames
Handwerk ausüben. Ein Meister in diesem Fach ist der Publizist Henryk M. Broder.
Er unterstellt den „neuen“ Antisemiten „Ressentiments“ (den alten Antisemitismus
hält er für eine Sache der Archäologen und Antiquare), die für ihn eine
Steigerung von Vorurteilen sind. Vorurteile sind unter Umständen noch
korrigierbar, Ressentiments aber nicht. Antisemitismus ordnet Broder der
Kategorie der Ressentiments zu, sie haben sich tief ins menschliche Gefühlsleben
(offenbar ins Unbewusste) eingenistet, sodass keine noch so rationale
Argumentation sie verändern kann. Sie sind sozusagen immun gegen jede
Widerlegung. Broders Dogma ist: Der einzige Antisemitismus, den es gibt, ist die
Kritik an der Politik Israels, und die Kritiker Israels wollen diesen Staat
zerstören. Da ist kein Nachfragen mehr erlaubt, er postuliert ein absolutes
Kritikverbot. Dass ein und dieselbe Person den mörderischen Antisemitismus der
Nazis mit Abscheu und großer Scham ablehnt und gleichzeitig aus einer humanen,
an den Menschenrechten orientierten Haltung heraus Israels Verbrechen
kritisiert, ist für ihn offenbar nicht vorstellbar.
So wird deutlich, worum es
den Antisemitismus-Jägern im Grunde geht und was ihr ausschließliches Ziel ist:
Israels verbrecherische Politik vor jeder kritischen Auseinandersetzung zu
bewahren und auch die neoliberale Wirtschafts- und Finanzordnung, von der auch
Israel sehr profitiert, vor Kritik zu schützen. Diese Inquisitoren berufen sich
auf Recht und Moral und sogar auf den Holocaust – und wollen oder können nicht
sehen, dass ihre Theorien in Wirklichkeit die Unterstützung von Unrecht und
Unmoral und eine missbräuchliche Instrumentalisierung des Holocaust bedeuten,
letzten Ende also einen moralischen Nihilismus darstellen. Denn die Realität des
ungeheuren Unrechts, das Israel den Palästinensern antut, ignorieren oder
verleugnen sie, sie passen sich an die ideologischen Vorgaben des Zionismus an,
obwohl die israelische Justizministerin Ajelet Shaked offen bekennt, dass der
Zionismus mit Menschenrechten und Völkerrechten nichts zu tun habe, weil diese
Ideologie ihre eigene Gesetzlichkeit besitze.
Während die zionistischen
Juden 4,5 Millionen Menschen im Westjordanland und im Gazastreifen in Geiselhaft
haben, ihnen jede Menschenwürde absprechen und ihnen die Zuerkennung aller
bürgerlichen und politischen Rechte verweigern (und Gaza durch die totale
israelische Blockade in Hunger und Elend versinkt), putschen die Inquisitoren
und ihre Anhänger hierzulande jede noch so kleine Attacke auf Juden als
antisemitischen Auswuchs hoch. Es muss klar sein, was hier gesagt ist, damit
kein Missverständnis aufkommt: Jede Attacke auf Juden oder andere ethnischen
Gruppen in Deutschland ist eine zu viel und ist mit aller Schärfe zu
verurteilen, aber man muss die Maßstäbe beachten: Angesichts dessen, was in
Israel/Palästina einem ganzen Volk angetan wurde und weiter angetan wird, nennt
selbst der Israeli Moshe Zuckermann antisemitische Vorfälle in Deutschland
„randständig“, weil die Juden physisch und in ihrer Existenz nicht bedroht
seien. Er fragt, warum jedes Mal eine Hysterie oder orchestrierte Panik
ausbricht, sobald von einem antisemitischen Vorfall moderaten Ausmaßes berichtet
wird.
Er nennt den Grund für die
Hysterie: „Es mag sich in der performativen Überidentifizierung mit Juden eine
Art Schuldabtragung, mithin eine selbsterteilte Vergebung, manifestieren. Wenn
man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern ‚Opfer‘, hat
somit etwas nagend Quälendes an sich selbst ‚wiedergutgemacht‘.“ Es ist also das
nicht aufgearbeitete Schuldgefühl, das Auschwitz den Deutschen aufgebürdet hat
und das die Antisemitismus-Hysterie auslöst. Das ist auch der Grund, warum die
Politik aller deutschen Bundesregierungen die Unrechtspolitik Israels
unterstützt.
Dass hier die Unmoral über
die Moral, das Unrecht über das Recht triumphiert, wird hingenommen. Und auch,
dass der immer so hoch gehaltene westliche Wertekanon zur leeren Sprachhülse
verkommt: Die Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung,
Rechtstaat, Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit – um Israels
Unrechtspolitik zu ignorieren oder sogar zu rechtfertigen, sind die deutsche
Politik und der mediale Mainstream mit Blick und Rücksicht auf den zionistischen
Staat bereit, dies alles für obsolet zu erklären.
20.1.2019
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