TRANSLATE
„Wenn Israel fällt,
dann fällt auch der Westen!“
Der Antisemitismus-Vorwurf als stärkste
Waffe der neoliberalen Ideologie
Arn Strohmeyer
Wenn man heute über Antisemitismus –
vermeintlichen oder wirklichen – oder über den Vorwurf
dieser Form des Rassismus informieren oder debattieren will,
dann sind die neuen „scharfrichterlichen
Gesinnungspolizisten“ (der israelische Historiker Moshe
Zuckermann) sofort zur Stelle: die „Antideutschen“ oder wie
sie sich sonst gerade nennen. So auch bei einem Vortrag der
renommierten Hamburger Publizistin Susann Witt-Stahl in
Bremen, der dem Thema „Der Antisemitismus-Vorwurf als
ideologische Waffe“ gewidmet war. Die Flyer und Poster für
die Veranstaltung waren kaum in Umlauf gebracht, da gab es
die ersten Gewaltandrohungen mit Aufrufen, den Vortrag zu
verhindern. Das „Bremer Bündnis gegen Antisemitismus“ rief
zu einer Mahnwache auf und rückte kurz vor der Veranstaltung
auch mit Israel-Fahnen an. Die Polizei versuchte, einen
störungsfreien Verlauf sicherzustellen. Die Referentin
sprach also sozusagen im Belagerungszustand – anders sind
Debatten über Israel und seine Besatzungspolitik offenbar in
Deutschland gar nicht mehr möglich. Damit bestätigt sich der
schon vor Jahren von Moshe Zuckermann vorgebrachte Vorwurf,
dass die Jagd auf „linke Antisemiten“ (oder wen diese Leute
dafür halten) inzwischen hierzulande McCarthysche Formen
angenommen habe, eine Tendenz, die demokratiefeindlich, ja
totalitär sei.
Dabei wäre gerade der Vortrag von Susann
Witt-Stahl eine gute Gelegenheit gewesen, über das brisante
Thema wie den „Antisemitismus-Vorwurf als ideologische
Waffe“ und Israels Besatzungspolitik ins Gespräch zu kommen
und den Versuch zu unternehmen, die Fronten zu klären. Ein
Prozess, der gerade unter Linken (soweit sie sich wirklich
noch als solche verstehen) unbedingt notwendig ist. Denn
Susann Witt-Stahl stellte die Nahost-Problematik und auch
den Vorwurf des Antisemitismus in den viel größeren
Zusammenhang des Neoliberalismus, der ökonomischen Doktrin,
die gegenwärtig weiten Teilen der Welt ihren Stempel
aufdrückt. Sie begann ihre Ausführungen damit, darauf
hinzuweisen, dass Israel ein ganz normales kapitalistisches
Land sei. Es wird zurzeit von einem extremen
Neoliberalismus beherrscht. Regierungschef Benjamin
Netanjahu ist ein Schüler von Milton Friedman, einem der
Begründer des Neoliberalismus.
Aber Israel sei auch ein außergewöhnliches
Land, meint die Referentin. Es unterhält seit 1967 ein
Okkupationsregime, liegt an der vordersten Frontlinie zur
östlichen Hemisphäre und ist einer der engsten Verbündeten
der USA im Nahen Osten. Israel ist sozusagen das
„Schussfeld“ und der Ort, wo viele geopolitischen Konflikte
kulminieren. Darüber hinaus – so Witt-Stahl weiter – ist
Israel auch ein „Traumschiff“ geworden, eine
„Wunschmaschine“ und eine Projektionsfläche für alle
möglichen gescheiterten Linken (Ex-Linke, teilweise aber
auch Anti-Linke), die nach dem Zusammenbruch des real
existierenden Sozialismus das damals entstandene
politisch-ideologische Vakuum nicht ausgehalten haben und
sich, nachdem sie die Orientierung verloren hatten, dem
vorläufigen welthistorischen Sieger – dem Kapitalismus - in
die Arme geworfen haben.
In diesem Zusammenhang attestierte die
Referentin der Linken (worunter sie die wirklich
emanzipative Linke versteht) schwere historische
Versäumnisse vor. So hätte diese Linke die Ambivalenzen des
Zionismus reflektieren müssen. Er war ursprünglich eine
bürgerliche Befreiungsbewegung, die aus einer
jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte entstanden ist.
Aber der Zionismus erwies sich auch als ein koloniales
Projekt. Es hatte massive Vertreibungen der Palästinenser
zur Folge, denen bis heute die Gründung eines eigenen
Staates verwehrt werde. Die Linke habe es auch – so
Witt-Stahl – in den letzten Jahren versäumt, die
Antisemitismus-Kritik weiterzuentwickeln. Zu diesem Thema
sei von linker, emanzipativer Seite kaum etwas geschrieben
worden. Zudem sei eine der wichtigsten marxistischen
Analysen des Antisemitismus („Elemente des Antisemitismus“
der Frankfurter Schule in der „Dialektik der Aufklärung“)
bis heute von der Linken kaum zur Kenntnis genommen worden.
Es sei eine verkürzte Wahrnehmung des Antisemitismus
entstanden. Die enge Verbindung zwischen Kapitalismus und
Antisemitismus sei oftmals nicht erkannt worden.
Nur über den Weg der Analyse des
Antisemitismus als notwendig falsches Bewusstsein des
Kapitalismus kann man verstehen, was seine Prinzipien
ausmacht: Solange Kapitalismus existiere, könnten die
Ideologeme des Antisemitismus nicht nur Juden, sondern auch
andere Menschengruppen treffen. So gebe es einige Parallelen
zwischen Antisemitismus und Islamhass. Das, was sich heute
in der westlichen Welt – so Witt-Stahl – an Hass gegenüber
Menschen muslimischen Glaubens oder gegen Menschen aus dem
arabischen Kulturraum, besonders gegen Araber aus Palästina
entlade, das sei sehr beängstigend und diene der
Konstruktion eines neuen Feindbildes. Viele, die sich im
Lager der Linken verorten würden, schützten die Opfer nicht
nur nicht, sondern beteiligten sich sogar massiv an der
Hetze.
Die Referentin nannte dann ihre Hauptthese:
In den gegenwärtigen ideologischen Schlachten um Israel und
den Antisemitismus geht es nur sekundär um den
Nahostkonflikt und das Judentum, sondern beide werden
vorwiegend als Instrumente und Joker benutzt, um die
antikapitalistische linke Opposition zu zerschlagen Die
heutigen Zustände in der westlichen Welt beschreibt
Witt-Stahl so: Antisemitismus-Vorwürfe werden in großer Zahl
und Dichte gegen antikapitalistische Linke formuliert, es
werden aber kaum noch Antisemitismus-Vorwürfe gegen Nazis
und andere Gruppen im rechtsradikalen Spektrum – also
genuine Antisemiten – erhoben. Die können sich beruhigt
zurücklehnen und weiter antisemitisch sein. Das stört kaum
jemanden.
Gegen linke emanzipative Bewegungen werden
Antisemitismus-Vorwürfe fast schon als Universal-Waffe in
Stellung gebracht. Die Urheber dieser Vorwürfe stammen
zumeist aus dem neokonservativen Spektrum und der Neuen
Rechten – also Rechtspopulisten, Islamhasser wie Henryk M.
Broder, Sarrazin-Anhänger, aber auch ehemalige Nazis, die
mittlerweile festgestellt haben, dass Islamhass und
Linken-Bashing in Zusammenhang mit Antisemitismus-Vorwürfen
ein lukratives Geschäft für ihre Propaganda sind. Viele
Neonazis seien ja inzwischen zur Neuen Rechten und zum
neoliberalen Faschismus übergelaufen. Man kann auch in
England und Frankreich beobachten, wie man dort auf
neoliberalen Faschismus einschwenkt und den völkischen
Nationalismus überwindet. Auch bei dieser Neuen Rechten
dient Israel als Projektionsfläche.
Wir erleben heute – so Witt-Stahl -, dass
„antideutsche“ und andere neokonservative, Kriegsbefürworter
und Neue Rechte Friedensaktivisten mit
Antisemitismus-Vorwürfen zubrüllen. Wir erleben, dass
Muslimen ein mit hasserfüllter Emphase aufgeladener
Rassismus entgegenschlägt – sie werden als „Judenmörder“,
„Antisemiten“ und „Nazis“ beschimpft. Oder es wird
skandiert: „IDF [die israelische Armee] in Ramallah, das ist
die wahre Antifa!“ Oder: „Gaza, knie nieder, die Siedler
kommen wieder!“ Das sind Parolen nicht von Nazis, sondern
von „Antideutschen“, die sich zum Teil auch „Kommunisten“
nennen. Intellektuelle und Politiker wie Judith Butler, der
südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond
Tutu sowie der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Anan werden
wegen ihrer Kritik an der israelischen Politik als
„Antisemiten“ diffamiert. Aber auch jüdische und israelische
Intellektuelle werden denunziert beispielsweise Moshe
Zuckermann, Ilan Pappé und Felicia Langer. Sogar der Zionist
und ehemalige Irgun-Kämpfer Uri Avnery muss sich so etwas
anhören. [Die Irgun war vor der Gründung Israels eine
zionistische Terrororganisation.]
Von diesen Vorwürfen sind aber auch Personen
betroffen, die nie die israelische Politik kritisiert haben,
Kapitalismuskritiker, Gegner der Bankentrettungspolitik der
Bundesregierung, Antirassisten, Gewerkschafter und
Antifaschisten. Ihnen wird „struktureller Antisemitismus“
vorgeworfen. Der „Konkret“-Autor Alexander Feuerherdt hat
sogar die These aufgestellt, dass Fußballfans, die den FC
Bayern nicht mögen, von antisemitischen und
antiamerikanischen Ressentiments angetrieben seien, weil
dieser Verein die USA der Fußball-Bundesliga sei. Man kann
sagen, bilanzierte Witt-Stahl, dass alle Personen, die
eine-oppositionelle Haltung gegenüber der hegemonialen
neoliberalen Politik einnehmen, unter dringenden
Antisemitismus-Verdacht gestellt werden. Wer sind aber die
Leute, die diese Vorwürfe erheben und sie auch verbreiten?
Es sind in erster Linie Neokonservative - von Mitgliedern
der US-amerikanischen Regierung, deutsche Politiker bis hin
zu den „Antideutschen. In den USA spielen auch die
christlichen Fundamentalisten eine wichtige und
einflussreiche Rolle.
Der Neokonservatismus ist bereits in den
1970er Jahren in den USA als eine rechte Gegenbewegung zu
den Anti-Vietnamkriegs-Protesten und dem Keynesianismus
entstanden. Er entwickelte sich mehr und mehr zum Überbau
des Neoliberalismus. Dieser hat als herrschendes
Wirtschaftssystem in der Praxis seine Testphase unter dem
Diktator Pinochet im faschistischen Chile gehabt, er ist
dann von der Premierministerin Margaret Thatcher in
Großbritannien und von Präsident Reagan in den USA
durchgesetzt worden. Dann hat er seinen Siegeszug
angetreten.
Zu den Gründervätern des Neokonservatismus
gehören auch abtrünnige Linke, die ins rechte Lager
übergelaufen sind. Die Neokonservativen unterscheiden sich
von den herkömmlichen Konservativen durch einen aggressiven
Bellizismus, also die Ansicht, dass man Konflikte mit
Kriegen lösen und mit Hilfe von Kriegen auch neue Märkte
erschließen sollte. Von Völkerrecht und den Vereinten
Nationen hält diese politische Richtung gar nichts. Am
liebsten würde sie sie abschaffen. Der Neokonservatismus ist
für die Durchsetzung imperialer Interessen des Westens– im
Sinne einer „neuen Weltordnung“, wie sie US-Präsident George
H.W. Bush [der Vater von George W. Bush] entwickelt hat. Er
ist zudem ohne Probleme bereit, Grund- und Freiheitsrechte
aufzugeben, wenn es der neoliberalen Agenda nützt. So hatte
die Enttabuisierung der Folter ganz wenig mit den
Ereignissen vom 9. 11. 2001 zu tun, diese waren nur ein
Vorwand, um den imperialistischen Krieg effizienter führen
zu können. Warum sollten die neokonservativen Kräfte also
das geringste Interesse daran haben, dass es einen gerechten
Frieden im Nahen Osten gibt? fragte die Referentin.
Natürlich haben sie das nicht.
Ein Erfolgsgeheimnis des Neokonservatismus
ist, dass sich diese Ideologie einer äußerst manipulativen
Sprache bedient. Neokonservative benutzen sehr gern und
vorzugsweise Begriffe aus der linken und marxistischen
Denktradition, also Begriffe wie „Aufklärung“ und
„Emanzipation“. Sie verzerren diese Begriffe zumeist
ideologisch und verkehren ihre Bedeutung in ihr Gegenteil.
In diesen Manipulationstechniken ist der Neokonservatismus
so weit entwickelt, dass er dem George-Orwellschen Neusprech
kaum noch nachsteht. So kann man etwa in der
Springer-Zeitung „Die Welt“ lesen, dass Kriege
„Friedensmissionen“ sind und dass die „internationale
Gemeinschaft“ eingreifen muss. Wer ist das aber? Natürlich
ist das fast immer die NATO, die da eingreift. Man liest da
viel über „Freiheit“ und „Demokratie“ und dass das irgendwie
etwas mit Judentum zu tun hat.
Die amerikanische Friedenaktivistin Angela
Davis hat vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass man
die Reden von George W. Bush nur verstehen könne, wenn man
das Wort Demokratie jeweils durch den Begriff Kapitalismus
ersetzen würde. Man sagt nicht, so die Referentin, dass
Kriege notwendig sind, um kapitalistische Marktexpansion
durchzusetzen oder Rohstoffvorkommen zu sichern, heute ist
es selbstverständlich, dass man für die „Befreiung der
Frauen“ bombt. Diese Argumentation ist keineswegs neu. Die
Kolonialisten des 19. Jahrhunderts hatten auch schon
moralisch argumentiert. Die Neokonservativen haben deren
„ethischen Imperialismus“ wieder aufgegriffen und
perfektioniert.
Die Referentin wies dann auf die Bedeutung
der US-amerikanischen Denkfabriken, der sogenannten
ThinkTanks, für die Verbreitung der neoliberalen Ideologie
hin. Diese Institutionen werden von der US-amerikanischen
Regierung, aber auch von der Öl- und Rüstungsindustrie
finanziert, um Propaganda-Feldzüge zu organisieren. Dass die
Rüstungsindustrie großes Interesse an Kriegen im Nahen Osten
und anderswo hat, versteht sich von selbst. In diesen
Denkfabriken ist auch der hetzerische Begriff
„Islamfaschismus“ entwickelt worden. Dieser Begriff kommt
also nicht aus einer politischen Bewegung, und er entspricht
auch nicht einem real existierendem politischen Phänomen.
Die Denkfabriken produzieren auch
Antisemitismus-Vorwürfe gegen Linke am Fließband. Da wird
zum Beispiel behauptet, dass gerade der „Vierte Weltkrieg“
stattfindet. Der dritte sei von 1945 bis 1989 vom
Kommunismus gegen die „freie westliche Welt“ geführt worden.
Der „Vierte Weltkrieg“ sei von der arabischen Welt gegen den
Westen angezettelt worden. Unter ganz besonderem Verdacht
stehen dabei die Palästinenser, die angeblich die „Nazis von
heute“ seien, „Vernichtungsantisemiten“, die Israel
auslöschen und Hitlers Krieg viele Jahre später gewinnen
wollten. Israel werde von den Denkfabriken gern mit dem
Warschauer Getto verglichen.
Alle diese ideologischen Elemente gebe es
auch bei der Neuen Rechten in Europa – etwa in dem
Islam-Hasser-Netzwerk „Politically Incorrect“. Immer geht es
darum, die Palästinenser als „Judenmörder“ und „Nazis“
darzustellen. „Antideutsche“ und andere Neokonservative -
beschimpfen auch Linke als „Nazis“. Pazifisten sind für sie
„Mörder“. Zum Irakkrieg hatten sie Aufkleber verbreitet, auf
denen der britische General des Zweiten Weltkrieges, Arthur
Harris („Bomber-Harris“), gepriesen und der damalige
US-Verteidigungsminister Donald
Rumsfeld aufgefordert wurde, seine
„antifaschistische Mission“ gegen die „Achse des Bösen“
Berlin - Bagdad fortzusetzen.
Dann ging die Referentin auf den
Springer-Konzern als Ideologieproduzenten ein, speziell auf
den Vorstandsvorsitzenden, Mathias Döpfner, den sie als
„einen der einflussreichsten Neokonservativen in
Deutschland“ bezeichnete. Er hat 2010 einen Leitartikel
verfasst mit dem Titel: „Der Westen und das höhnische Lachen
der Islamisten“. Dieser Artikel hat bis heute
programmatischen Charakter für die deutsche neokonservative
Agenda. Anhand dieses Textes lässt sich gut die
Instrumentalisierung des Judentums und des Staates Israel
zum Zweck der Propaganda für die westlichen Kriege
demonstrieren. Döpfner hat ein „kollektives Ideal“ als
besondere Bedrohung für die Freiheit des Westens ausgemacht.
Unter diesem „Ideal“ versteht er den Sozialismus. Die
sozialistischen Ideen würden vor allem vom Islamismus, vom
Kommunismus und vom Faschismus gepflegt. Sie seien vor allem
im Nahen und Mittleren Osten verbreitet. Die einzige
positive Ausnahme dort sei Israel. Die Existenz des Westens
sei durch den Islam akut bedroht, der die freie
Marktwirtschaft verabscheue.
Hier wird also der Islam wieder mit dem
Antikapitalismus in Verbindung gebracht. Ihm wird
unterstellt, er wolle im Bündnis mit dem Kommunismus zuerst
Israel und dann die Vereinigten Staaten und schließlich den
gesamten liberalen Westen unterminieren und von außen
zerstören. Der Islam mache das mittels
Parallelgesellschaften, Selbstmordattentaten und Atomwaffen.
So nivelliert Döpfner alle Unterschiede zwischen kultureller
Abgrenzung und Massenmord, das ist für ihn offenbar ein und
dasselbe, und er bringt das heterogenen Kollektiv der
Muslime auf den Generalnenner: der Feind.
Der Iran kommt dann bei Döpfner natürlich
auch noch ins Spiel. Dieser hole bereits zum atomaren Schlag
aus. US-Präsident Obama, der dem Iran bei seinem Amtsantritt
die Hand entgegengestreckt habe, sei nur auf schallendes
Gelächter gestoßen. Wenn Obama nicht endlich handle, werde
er als Totengräber der freiheitlichen westlichen
Wertegemeinschaft in die Geschichte eingehen. Eine Politik,
die auf Verhandlungen setze, habe sich bereits in den 1930er
Jahren gegen Nazi-Deutschland als fatal erwiesen. Ein
friedenspolitische Ansatz würde den nächsten Völkermord
einleiten. Für Döpfner stellt der Islam das reine Böse dar,
der Islamist habe einen hinterhältigen Charakter und besitze
eine Schurkenmentalität, grenzenlose Gewaltbereitschaft und
einen perfiden Vernichtungswahn. Er habe keinerlei
moralische Skrupel. Die Bewohner des Westens seien durch
ihre falsche Toleranz gehandicapt und deshalb dem Islamismus
hoffnungslos unterlegen. Allein die Israelis seien zu
konsequentem Widerstand bereit. Diesem Volk, das durch den
Holocaust beinahe vernichtet worden sei, drohe nun die
endgültige Auslöschung.
Die Referentin merkte an dieser Stelle an,
dass die Mehrheit der Juden gar nicht in Israel lebt und 20
Prozent der Bewohner dieses Staates Araber sind. Das ficht
den Springer-Chef aber nicht an. Ihn interessiert auch
nicht, dass die zweifellos explosive und für alle Bewohner
des Nahen Ostens bedrohliche Lage in versäumten
Friedensprozessen und nicht in versäumten Kriegen ihre
Ursache hat. Es geht ihm wohl darum, die nuklear gerüstete
israelische Armee (IDF), eine der stärksten Armeen der Welt,
in der Wahrnehmung seiner Leser in die Nähe der Warschauer
Getto-Kämpfer zu rücken. Deutschland habe – so Döpfner – nur
die Wahl: helfen oder Israels Vernichtung zuschauen. Er ist
der Überzeugung: „Wenn Israel fällt, dann fallen langfristig
auch der Westen, Europa und Deutschland!“ Dafür gibt es für
Döpfner auch nur eine richtige Entscheidung: Gegenwehr, wie
er den Angriffskrieg des Westens nennt.
Interessant ist auch hier – so die Referentin
- , wie Döpfner die Muslime als „unsere“ Existenz bedrohende
Spezies dämonisiert. Döpfner konstruiert hier eine
islamisch-bolschewistische Verschwörung gegen den Westen und
Israel. Die Muslime werden nicht nur als unzivilisierte
Barbaren, sondern als eine „Gegenrasse“ charakterisiert,
gegenüber deren Verschlagenheit der gutgläubige Westmensch
natürlich völlig hilflos sei. An dieser Stelle erinnerte
Witt-Stahl daran, wie sehr solche Aussagen der
Hetzpropaganda im Deutschland der 1930er Jahre ähneln.
Der Neokonservatismus ist in der deutschen
Linken inzwischen fest verankert, stellte die Referentin
fest. Es gebe eine große Bandbreite von „antideutschen“
Strömungen. Diejenigen, die die reine Lehre vertreten,
betonen immer wieder, dass sie das „Abbruchunternehmen der
Linken“ sein wollten. Neokonservative „Antideutsche“ sind im
akademischen Bereich längst etabliert, ebenso in den
Parteien (Grüne, LINKE und Jusos) und deren Stiftungen
(Rosa-Luxemburg- und Heinrich-Böll-Stiftung, auch der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung), in den
Medienbetrieben (besonders im SpringerVerlag). Islamhass und
Relativierung des Völkermords an den Juden (etwa 9/11 mit
der Shoa gleichzusetzen) sind im „antideutschen“ Milieu
durchaus üblich.
Die wenigsten seiner Anhänger nennen sich
heute noch „Antideutsche“. Sie bezeichnen sich als
„Ideologiekritiker“, „Freunde des amerikanischen Krieges“
oder als „Antinationale“, manchmal aber auch schlichtweg als
„Linke“ oder „Kommunisten“. Denn die antideutschen
Neokonservativen bedienen sich gern einer Nomenklatur, die
aus dem klassischen Marxismus und der Kritischen Theorie der
Frankfurter Schule stammt. Die Kritische Theorie werde von
den „Antideutschen“ missbraucht und völlig auf den Kopf
gestellt.
Das trifft z.B. auf die Zivilisationskritik
der „Dialektik der Aufklärung“ zu. Die habe man inzwischen
nahezu komplett umgeschrieben, sie sei nicht mehr
wiederzuerkennen. So hat die Frankfurter Schule immer
betont, dass die Barbarei, die zu Auschwitz geführt hat, aus
der Mitte der aufgeklärten Gesellschaft gekommen sei und
nicht von ihrer Peripherie. Die „Antideutschen“ hingegen
hätten aber einen reaktionären Zivilisationsbegriff, der
denen der Kolonialisten im 19. Jahrhundert gleicht, die der
Meinung waren, dass sie den Menschen in den kolonisierten
Ländern westliche Zivilisation und Fortschritt beibringen
und sie mit Kapitalismus beglücken müssten, um ihnen das
Barbarentum auszutreiben.
Interessant ist – so die Referentin - ,
welche Neologismen aus der „antideutschen“ Bewegung kommen.
So verwendet beispielsweise einer ihrer Chefideologen,
Stephan Grigat, den Begriff „Umma-Sozialismus“, damit ist
der Islam gemeint. Dieser Begriff beinhaltet natürlich die
Unterstellung einer islamisch–kommunistischen
Weltverschwörung. Außerdem soll der „Umma-Sozialismus“ „vernichtungsantisemische“
Züge tragen. Da werden also Islam, Dschihadismus und
Nationalsozialismus in einen Topf geworfen, umgerührt, und
so macht man dann auch gleich noch Stimmung gegen den Iran,
damit man nicht vergisst, dass dieser Krieg unbedingt
notwendig ist.
Die Referentin ging dann auf den
Antisemitismus-Begriff ein. Sie stimmte Rolf Verleger zu,
der in seinem Buch „Israels Irrweg“ den Antisemitismus als
„Gouvernantenwort“ bezeichnet hat – ein Wort, das einem sehr
hässlichen Tun einen seriösen wissenschaftlichen Anstrich
gebe. Das stimmt genau, stellte Witt-Stahl fest, denn beim
Antisemitismus handelt es sich um Judenhass. Er richtet sich
nicht gegen Staaten und Ideologien, sondern gegen Menschen,
ein Tatsache, die leider oft vergessen wird. Mit dem Begriff
„Antisemitismus“ kann man diesen Fehler und andere falsche
Vorstellungen zudecken. Aber nicht der Begriff sei das
Hauptproblem, sondern das, was mit ihm gemacht wurde und
wird. Allerdings könne man mit Israelkritik und -Feindschaft
natürlich auch existierenden Antisemitismus verschleiern.
Anders gesagt: Man kann sich als Judenhasser hinter
Israel-Kritik verstecken. Es sei aber zumeist so, dass
Antisemiten, die sich solcher Praktiken bedienen, ihre
Kritik mit antijüdischen Projektionen und Stereotypen
verknüpfen.
Die Referentin nannte ein Beispiel für
solchen wirklichen Antisemitismus. Die Aussage: Israel könne
gar keinen Frieden machen. Das liege an den Juden. Wo sie
seien, herrsche immer Zwietracht. So etwas sagen aber keine
Vertreter der emanzipativen Linken, sondern Pseudolinke,
Rechte und Nazis. Derartige Aussagen werden Linken aber
unentwegt unterstellt. Es sei „reine Demagogie“, so
Witt-Stahl, wenn man behauptet, dass jede Kritik an Israel,
die sich auf seine Regierungspolitik bezieht,
„antisemitisch“ sei. Solche Antisemitismus-Vorwürfe dienten
der Diskreditierung der Kritik an Israel. Das sei das
zentrale Problem.
Um Antisemitismus-Vorwürfe als ideologische
Waffe einsetzen zu können, muss man natürlich einige
Taschenspielertricks anwenden. Witt-Stahl nannte drei:
Erstens: Die Erweiterung. Dabei geht es darum, die
Kriterien, die für die Definition und Kritik des
Antisemitismus verwendet werden, erheblich auszuweiten und
auf der anderen Seite natürlich darum, die
Abgrenzungskriterien zu vermindern und die Grenzen zwischen
Antisemitismus und Kritik zu verwischen. Ein Beispiel: Die
Aussage, israelische Regierungen unterhalten seit 46 Jahren
ein völkerrechtswidriges brutales Besatzungsregime ist nur
dann antisemitisch, wenn man zugleich die israelische
Regierung mit den Israelis und diese dann mit den
Juden gleichsetzt und identifiziert.
Wie man mit solchen Tricks arbeitet, belegt
eine Erhebung des European Monitoring Centre on Racism and
Xenophobia von 2005. Da wird beispielsweise als
„antisemitischer Vorfall“ registriert, dass junge Leute in
Spanien sich für die Unterstützung der PLO eingesetzt haben.
Ein kommunistischer Kongress, ebenfalls in Spanien, nahm
positiv Bezug auf Palästina. Auch das gilt in der EU schon
als Antisemitismus. Auch telefonische Proteste bei der
israelischen Botschaft werden in diesem Sinne schon
„antisemitisch“ verbucht, ohne dass man den Inhalt der
Telefonate überhaupt kennt.
Beim zweiten Taschenspielertrick geht es um
Verknüpfungen. Antisemitismus wird an
Weltanschauungen, politische Kollektive und Bewegungen
rückgebunden, die man diskreditieren will. Umgekehrt wird
das Judentum mit Weltanschauungen, politischen Kollektiven
und Bewegungen in Verbindung gebracht, die man vor jeglicher
Kritik schützen will. Das hat z.B. der neokonservative
Historiker Michael Wolffsohn gemacht, indem er Juden mit
Kapitalismus und Antisemitismus mit Antikapitalismus
gleichgesetzt hat. Er sagte, „nur im liberalen
kapitalistischen System konnten und können sich Juden frei
entfalten.“ Kommunistische Juden gibt es in Wolffsohns
Vorstellungswelt offenbar nicht. Seiner Ansicht nach „sahen
und sehen sich die Juden als Teil der Bourgeoisie.“ Sie
würden von der Linken gehasst, weil sie der „Klassenfeind“
seien. Sein Fazit: Die Linke (inklusive die Linkspartei) ist
antisemitisch. Sie muss es sein, wenn sie links sein will.“
[An dieser Stelle des Vortrags gab es lautes Gelächter.]
Schon der Antisemit Wilhelm Marr ging im 19.
Jahrhundert von der Grundannahme aus, dass der Jude
Kapitalist ist. Beide – Marr und Wolffsohn – argumentieren
also auf derselben Basis eines antisemitischen Stereotyps,
eben dass der Jude Kapitalist sei. Nur: Wolffsohn
identifiziert den Kapitalismus mit den Juden, um den
Kapitalismus zu verteidigen. Marr schiebt den Kapitalismus
vor, um die Juden anzugreifen. Beide Positionen sind
ideologisch und demagogisch und fördern auf unterschiedliche
Weise antisemitische Ressentiments.
Der dritte Taschenspielertrick besteht aus
Übertreibung und Verallgemeinerung. Er hat wie alle
Ideologien die Verstellung und Verzerrung der Realität zum
Ziel. Das funktioniert so, dass man Ausnahmen und marginale
Erscheinungen von tatsächlich vorhandenem Antisemitismus in
einem Kollektiv oder in einer politischen Bewegung als die
Regel darstellt und so tut, als sei das in diesem Kollektiv
oder der Bewegung vorherrschend. So schreibt etwa der „Welt“-Autor
Richard Herzinger: „Judenfeindlichkeit ist strukturell in
der sozialistischen Ideologiegeschichte angelegt.“
Herzingers hetzerische Botschaft lautet: Der Sozialismus ist
schon antisemitisch auf die Welt gekommen.
Die Referentin betonte, dass es in jeder
emanzipativen Bewegung immer dünne reaktionäre Ränder gibt,
die von Anhängern gebildet werden, die keine progressiven
Absichten haben oder sogar Rechte sind. Aber die Tatsache,
dass sich Öko-Nazis gegen Atomstrom aussprechen, heißt
nicht, dass die AKW-Bewegung der verlängerte Arm der NPD
ist. Oder wenn bei einer Montagsdemonstration gegen Hartz IV
das eine oder andere Mitglied einer Freien Kameradschaft
mitgelaufen ist, dann ist die Forderung „Hartz IV muss weg!“
noch lange keine Nazi-Parole.
Witt-Stahl forderte, ideologische
Verallgemeinerungen entschieden zurückzuweisen. Das sei in
den vergangenen Jahren kaum geschehen. Scharfe Kritik übte
sie an der Linken, die diese Aufgabe vernachlässigt,
mittlerweile in Teilen ihr Rückgrat eingebüßt und die
Orientierung verloren hat. Sie schloss ihre Ausführungen mit
den Worten: Wir dürfen niemals die Antisemitismus-Kritik,
die nach wie vor notwendig ist, rechten Demagogen und
Islam-Hassern überlassen. Die Linken haben vergessen, dass
die Frontlinie zwischen oben und unten, zwischen Ausbeutern
und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten verlaufe.
Weder „der Jude“ ist der Feind noch „der
Muslim“, der Kapitalismus ist der Feind.
Witt-Stahl warnte vor der Gefahr der
fortschreitenden Faschisierung der westlichen Gesellschaften
und schloss ihren Vortrag mit einem Zitat von dem Kritischen
Theoretiker Max Horkheimer, der kurz vor Anbruch der „Nacht
der Menschheit“, des deutschen Faschismus, in seiner
Aphorismensammlung „Dämmerung“ schrieb: „Die Rangordnung der
Güter ist bei den bürgerlichen Juden weder jüdisch noch
christlich, sondern bürgerlich. Der jüdische Kapitalist
opfert vor der Gewalt, ebenso wie sein ,arischer‘
Klassenkollege, zuerst den eigenen Aberglauben, dann das
Leben anderer und ganz zuletzt sein Kapital. Der jüdische
Revolutionär setzt in Deutschland wie der ,arische‘ für die
Befreiung der Menschen das eigene Leben ein.“
Die anschließende Diskussion drehte sich
hauptsächlich um die Frage, warum junge Leute heute in einer
so großen Zahl einer so irrationalen Bewegung wie der
antideutschen anhängen könnten. Susann Witt-Stahl machte vor
allem die Orientierungslosigkeit nach dem Zusammenbruch des
real existierenden Sozialismus, die vom Neoliberalismus
bewirkten extremen Erosionen im Bildungssystem und die
Verdummung der kapitalistischen Kulturindustrie für das
Phänomen verantwortlich. Die Psychoanalytikerin Gertrud
Schinagl berichtete von Gesprächen mit Antideutschen, aus
denen sie erfahren habe, dass diese jungen Leute vor allem
von der militärischen Macht Israels fasziniert seien und
sich deshalb mit diesem Staat identifizierten. In Israel
herrschten klare Koordinaten: Das Militär geben den Ton an
und übe rücksichtslose Gewalt aus. Sich einer solchen
starken Macht zu unterwerfen, habe offenbar für viele junge
Leute einen großen Reiz.
Die Veranstaltung hatte ihr „antideutsches“
Nachspiel, das die Analyse von Susann Witt-Stahl
eindrucksvoll belegte. Die TAZ-Autorin (TAZ Bremen) Simone
Schnase hatte in einem Bremer Ortsverein der Linkspartei
einen Genossen ausgemacht, der offenbar Kontakte zu Neonazis
und anderen rechten Gruppierungen unterhält. Eigentlich eine
Sache, die diese Partei intern klären müsste. Da dieser
Ortsverein aber die Veranstaltung mit Susann Witt-Stahl
unterstützt hatte, war für die TAZ-Autorin die Sache klar:
Dieser Vortrag kommt aus der Nazi-Ecke! Wie hatte die
Referentin doch gesagt: Die Leute, die mit dem
Antisemitismus-Vorwurf arbeiten, bedienen sich dabei
verschiedener Taschenspielertricks – in diesem Fall
arbeitete die TAZ-Autorin mit dem Trick der Übertreibung und
Verallgemeinerung: Ein offenbar rechter Genosse am Rande der
Linkspartei und schon geraten die ganze Partei und ihr
Umfeld und NS-Verdacht.
Auch die Bremer Ausgabe der BILD-Zeitung
lieferte ihren Beitrag. Der „antideutsche“ Schreiber Jan
Philipp Hein machte daraus gleich in gewohnter
Denunzianten-Manier eine üble Antisemiten-Story: „Juden bei
Linken-Veranstaltung beschimpft“. Der Schreiber behauptet
dann in seinem Artikel, dass ein israelische Paar, dass sich
auch als solches zu erkennen gegeben habe, mit den Worten
abgefertigt worden sei: „Euch gehört doch sowieso schon
alles, auch die Medien!“ )Was, wenn es so gesagt worden
wäre, in der Tat ein übles antisemitisches Stereotyp gewesen
wäre!) Man habe den beiden dann den Zugang zum Vortrag
verweigert, weil sie „Juden“ seien.
Was war wirklich passiert. Der Wachtposten an
der Tür erinnert sich: „Dieses Paar trat besonders aggressiv
auf. Sie wollten sich mit aller Gewalt Zutritt verschaffen.
Als wir sie darauf hingewiesen haben, dass der Saal völlig
überfüllt ist und die Leute schon auf der Treppe ständen, um
den Vortrag zu hören, und wir deshalb niemanden mehr
reinließen, versuchten sie sich durch den Keller Einlass zu
verschaffen, was aber scheiterte. Als sie es dann erneut am
Haupteingang versuchten, habe einer der Türwächter zu ihnen
gesagt: ‚Das Haus ist völlig überfüllt. Geht doch woanders
hin, die Welt ist so groß. Warum wollt Ihr heute abend
gerade hier rein?‘ Worauf der Mann erbost geantwortet habe:
‚Willst Du damit sagen, den Juden gehört die ganze Welt?‘“
Das Ganze sieht sehr nach einer inszenierten Provokation
aus. Eine kleine Belehrung: Das deutsche Versammlungsgesetz
ermächtigen den Versammlungsleiter oder seinen Beauftragten,
dass sie das Recht haben bei Drohungen (und die lagen vor)
oder Gefahren (wegen Überfüllung, die lag auch vor) weitere
Besucher nicht zu einer Veranstaltung zuzulassen.
Eines hat die Berichterstattung über dieses
Ereignis klargestellt: Wie nahe BILD und TAZ journalistisch
schon zusammengerückt sind. Denn auch bei BILD fehlte die
Zeile nicht: „Wie judenfeindlich ist die Bremer Linke?“
|