Der Mythos von der
Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern
Im Zusammenhang mit der
Nakba-Ausstellung werden historische Legenden verbreitet
Arn Strohmeyer
Bei
Diskussionen über die in verschiedenen deutschen Städten
gezeigte Nakba-Ausstellung führen Israel-Sympathisanten
führen regelmäßig das Argument an: Gut, Israel hat
Hunderttausende von Palästinensern vertrieben (wenn
nicht gar behauptet wird, sie seien „freiwillig“
gegangen), aber dafür hätten die Araber im Gegenzug
Hunderttausende von Juden aus ihren Ländern vertrieben
und diese Menschen hätte Israel aufnehmen müssen, was
dem jungen Staat nicht leicht gefallen sei. Mit anderen
Worten: Beide Seiten haben vertrieben und damit gleicht
sich die Sache aus.
Hier handelt es sich
eindeutig um einen Mythos. Einmal davon abgesehen, dass
man ein Unrecht nicht mit einem anderen aufrechnen kann,
die historische Wahrheit sieht ganz anders aus. Zwei
Historiker - der Israeli Tom Segev und sein
österreichisch-jüdischer Kollege John Bunzl - haben
intensiv über dieses Thema gearbeitet und kommen zu ganz
anderen Ergebnissen. Die Zionisten hatten im Krieg von
1948/49 große Gebiete erobert und die meisten der bis
dahin dort lebenden palästinensischen Einwohner
vertrieben. Dadurch waren große „entarabisierte“ Gebiete
in den Machtbereich Israels geraten. Israel fehlte es
daher an Menschen, denn durch den Völkermord an den
Juden durch die Nazis blieben Millionen Menschen aus -
vor allem osteuropäische Juden - , die für die
Besiedlung eigentlich vorgesehen waren. Juden aus
anderen Teilen der Welt zeigten aber wenig Interesse, in
den neuen Staat überzusiedeln.
Einwanderer aus den
islamischen Staaten zu gewinnen, war also ein
vorrangiges Projekt des jungen Staates Israel.
Ministerpräsident Ben Gurion formulierte das 1949 so:
„Wir haben Gebiete erobert, aber ohne Besiedlung haben
sie keinen entscheidenden Wert, weder im Negev noch in
Galilea noch in Jerusalem. Besiedlung ist erst die
wirkliche Eroberung. Tausende Jahre waren wir eine
Nation ohne Staat. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir
ein Staat ohne Nation werden.“
Der Historiker Halevi
schreibt dazu: „Vor diesem Hintergrund beschließen die
Führer der Arbeiterzionisten des Jischuw, mit allen
Mitteln die Juden der mohammedanischen Länder
Nordafrikas und des Mittleren Ostens kommen zu lassen.
(...) Aus Marokko, Algerien, Tunesien, Lybien, Ägypten,
dem Jemen, Irak Syrien und dem Libanon (...) trafen
zwischen 1948 und 1967 eine Million ‚arabischer’ Juden
in Palästina ein, wo sie (...) den leeren arabischen
Raum bevölkerten. Als Minderheit unter dem Juden der
ganzen Welt wurden die Juden ‚Afrikas und Asiens‘, wie
sie der offizielle israelische Sprachgebrauch
bezeichnet, zur Mehrheit im Staat Israel.“
Es gab aber auch direkte
politische Gründe, die Einwanderung orientalischer Juden
zu befördern: Ben Gurion wollte sie im Lande haben, um
die Armee zu stärken. Und Menachem Begin wünschte ihre
Einwanderung, weil er glaubte, dass „diese unwissenden
und primitiven“ Massen ihn und seine rechte Herut-Partei
schneller an die Macht bringen würden.
Um Juden in den islamischen
Staaten zur Einwanderung nach Israel zu überreden,
sandte Israel Agenten aus, die bei den jeweiligen
Regierungen Ausreisegenehmigungen für die Juden
erreichen sollten. Die Methoden, mit denen diese Agenten
arbeiteten, waren nicht immer legal. So wurden an Beamte
und Mitglieder der Regierungen hohe Summen gezahlt -
Nuri Said, der Schah des Iran und die Sultane des Jemen
kamen auf die Gehaltsliste des Mossad. Wenn Geld nicht
die gewünschte Wirkung erzielte, entwickelten
zionistische Stellen das Interesse, die
Lebensbedingungen der jüdischen Minderheiten in diesen
Staaten zu verschlechtern.
Jitzak Ben-Menahem, eine
Agent, der in arabischen Ländern viele Operationen
ausgeführt hatte, schrieb: „Massenauswanderung wird nur
als Folge von Bedrängnis eintreten. Das ist die bittere
Wahrheit, ob es uns passt oder nicht. Wir müssen daran
denken, die Bedrängnis zu initiieren, sie in der
Diaspora herbeizuführen.“ Und Ben Gurion bemerkte:
„Selbst Juden, die [ihre Wohnorte] nicht verlassen
wollen, müssen gezwungen werden zu kommen.“
Dabei war man sich in Israel
sehr wohl bewusst, dass die Einwanderung der Juden aus
den islamischen Ländern viele Probleme schaffen würde,
denn der Bildungsstandard dieser Menschen war sehr
niedrig. In einem israelischen Zeitungsartikel hieß es
1949: „Die Primitivität dieser Leute ist unübertreffbar.
Sie haben fast überhaupt keine Erziehung, schlimmer noch
ist ihre Unfähigkeit, irgendetwas Intellektuelles zu
verstehen. In der Regel sind sie nur etwas weiter als
Araber, Neger und Berber. Das Niveau liegt bestimmt
unter jenem der vormaligen palästinensischen Araber.“
Aber man brauchte diese Menschen als Landarbeiter, die
die palästinensischen Araber ersetzen sollten. Diese
Einwanderer wurden wegen ihrer Fremdartigkeit in Israel
auch mit Bestürzung und Feindseligkeit empfangen.[i]
Ben Gurion verteidigte die Notwendigkeit ihres Kommens
aber, er verglich sie mit den Schwarzen, die als Sklaven
nach Amerika geholt wurden.
Der israelische Historiker
Tom Segev spricht in seinem Buch „Die ersten Israelis“
nur von „Einwanderung“ der orientalischen Juden. Das
Wort „Vertreibung“ benutzt er nur ein einziges Mal - im
Zusammenhang mit dem Irak. Aber dort war die Situation
sehr kompliziert und Segev belegt, dass die
zionistischen Agenten bei der „Vertreibung“ der
irakischen Juden kräftig nachgeholfen haben. Auf jeden
Fall ist die These der zionistischen
Geschichtsschreibung, dass die Sehnsucht dieser Menschen
nach dem Heiligen Land und die grausame Verfolgung dort
sie zum Verlassen des Landes bewogen hätten, nicht
haltbar. Segev beschreibt eine sehr aktive Tätigkeit von
Mossad-Agenten im Irak, ja spricht sogar von einem
„zionistischen Untergrund“. Es seien nur Juden im Irak
verfolgt worden, die mit diesen Untergrundtätigkeiten zu
tun gehabt hätten.
1950 beschloss das irakische
Parlament ein Gesetz, alle Juden auswandern zu lassen.
Segev bringt diesen Beschluss mit „Vertreibung“ in
Verbindung, fügt aber hinzu, dass das Gesetz, das die
Juden zwang, das Land zu verlassen, eine Folge der
subversiven Arbeit des Mossad war. Bei einem
Bombenanschlag in Bagdad kamen im Januar 1951 vier Juden
ums Leben. Die Täter wurden nie ermittelt, aber Gerüchte
gaben dem Mossad die Schuld. Der Anschlag sollte die
Juden in Panik versetzen und zur Auswanderung bewegen.
Mit dem Jemen schloss Israel
ein Abkommen über die Auswanderung der Juden. Sie wurden
zum Exodus überredet, indem man in diesen sehr
ungebildeten Menschen messianische Hoffnungen weckte. So
glaubten viele, dass es sich bei Israel um ein neues
Königreich Davids handele, weil der Regierungschef David
Ben Gurion heiße. Die jemenitischen Juden wurden mit
einer Luftbrücke nach Israel gebracht, wobei sie die
weißen Flugzeuge für die „fliegenden weißen Esel des
Messias“ hielten.
In Ägypten herrschte eine
ganz andere Situation. Hier hatten islamistische und
nationalistische Strömungen seit den vierziger Jahren
das Leben von nicht-ägyptischen Minderheiten erschwert -
nicht nur von Juden, sondern auch von Europäern,
koptischen Christen und Griechen. Ab Juli 1954 belastete
ein von einem israelischen Spionagering begangener
Anschlag in Kairo die Beziehungen zwischen der
ägyptischen Regierung und den Juden schwer. Die
israelischen Agenten hatten Bomben in britischen und
amerikanischen Informationszentren, britischen Kinos und
ägyptischen öffentlichen Einrichtungen hochgehen lassen.
Ziel des Anschlages war es, „das Vertrauen des Westens
in das derzeitige ägyptische Regime zu untergraben.“
Die Briten verhandelten
damals mit Ägypten über die Evakuierung der Kanalzone.
Die Amerikaner wollten Ägypten Waffen liefern. Es war
sogar ein amerikanisch-ägyptisches Bündnis im Gespräch.
Israel führte zunächst eine Kampagne, um den Ägyptern
die Anschläge „als ein anti-jüdisches abgekartetes
Spiel“ in die Schuhe zu schieben. Schließlich kam aber
auch in Israel die Wahrheit heraus, dass eine Gruppe im
Sicherheitsestablishment die Anschläge ausgeheckt hatte.
Als Israel dann im Oktober
1956 im Suezkrieg zusammen mit Großbritannien und
Frankreich Ägypten angriff, verfügte die ägyptische
Regierung Massenausweisungen. Rund 100 000 Juden
verließen das Land. Aber auch Angehörige anderer Staaten
- Griechen, Italiener, Franzosen und Briten - mussten
Ägypten verlassen. Die Juden hatten aber auch unter den
Folgen der panarabisch-islamischen Ägyptisierung von
Wirtschaft und Verwaltung und den Auswirkungen des
Palästina-Konfliktes zu leiden. Bunzl betont
ausdrücklich: „Die antijüdischen Maßnahmen lagen weder
in einer ‚ewigen‘ muslimischen Feindschaft
antisemitischen Typs noch in der Haltung der Mehrheit
der ägyptischen Bevölkerung begründet - diese war bis in
die Mitte das 20. Jahrhunderts durchaus ‚tolerant‘.
Segev notiert denn auch,
dass es für die orientalischen Einwanderer in Israel
viele Motive gab, ihre alte Heimat zu verlassen. Es gab
persönliche, politische und religiöse Gründe. Er
schreibt: „Einige Juden wanderten spontan aus. Sie weil
sie schikaniert und verfolgt wurden, sei es wegen ihrer
zionistischen oder religiösen Überzeugungen. Andere
kamen wegen der Propaganda nach Israel, die von
Vertretern des Zionismus in ihren Ländern verbreitet
wurde. Einige schlossen sich einfach den emigrierenden
Massen an, und manche verschlug es tatsächlich gegen
ihren Willen nach Israel.“ Aber eins kann man mit
Sicherheit sagen: Eine der ethnischen Säuberung, also
der Nakba der Palästinenser 1948/49 entsprechende
Vertreibung der Juden aus den islamischen Ländern hat es
nicht gegeben.