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Wie lange wollt Ihr noch das Recht verdrehen und für
die Schuldigen Partei ergreifen?
Verteidigt die Armen und die Waisenkinder, sorgt für
das Recht der Wehrlosen und Unterdrückten, Befreit
die Entrechteten und Schwachen, reißt sie aus den
Klauen der Unterdrücker, aber Ihr seht nichts, und
Ihr versteht nichts! Hilflos tappt Ihr in der
Dunkelheit umher, und die Fundamente der Erde
geraten ins Wanken.
Ich hatte zwar gesagt: Meine Söhne, Kinder der
Götter seid Ihr, Söhne des Höchsten! Doch ihr werdet
wie die Menschen sterben, wie unfähige Minister aus
dem Amt gejagt.
Greif ein, Gott, regiere die Welt.
Psalm 82
Jahresbrief
2011
Reuven Moskovitz
Liebe Freundinnen und Freunde,
Diejenigen, die mein altes Logo
kennen, werden sich über mein neues Logo wundern.
Dieser Psalm ist sehr zutreffend für die
gegenwärtige Situation in der Welt und in Israel.
Leider sind die Machthaber unfähig einzusehen, dass
sie nicht nur leichtfertig Millionen Menschen zum
Sterben verurteilen, sondern dass sie selbst auch
aus dem Amt gejagt werden können. Der einzige Satz
dieses Psalms, der meiner Meinung nach nicht
zutreffend ist, ist der Schluss. Gott greift nicht
ein und versucht nicht, die Welt zu regieren. In
meinem Buch schreibe ich: „Wenn es Gott gibt, ist er
nicht der Gott der jüdischen, christlichen oder
moslemischen Fundamentalisten, sondern der Gott, der
im Psalm 115, 15-16, beschrieben wird: „Ihr seid die
Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht
hat. Der Himmel ist der Himmel des Herrn, aber die
Erde hat er den Menschenkindern gegeben“. Abgesehen
von Naturkatastrophen, entscheiden wir Menschen oder
diejenigen, die sich anmaßen, die Menschen zu
führen, was auf dieser Erde geschieht. In meiner
Vorstellung zeigt sich die Größe Gottes in seiner
Bescheidenheit und Verborgenheit.
In
einer quälenden Hoffnungslosigkeit, jedoch ohne den
Glauben zu verlieren, der mich weitertreibt gegen
die großen Gefahren, die uns und die Gegend
gefährden, aufzuschreien, schreibe ich diese Zeilen
drei Jahre nach der unsäglichen Aktion „gegossenes
Blei“. Diese Aktion war nichts anders als Glied
einer Kette verbrecherischer Aktionen, die ziemlich
lange vor der Errichtung des Staates Israel
angefangen haben. In ihrem Buch „Nation und Tod“
stellt Idith Zertal mit einer genialen Analyse die
manipulierte Entwicklung und Verstärkung des
‚Opfer-Mythos‘ des Zionismus dar. Mit dieser
Manipulation, die nach dem zweiten Weltkrieg anfing,
wurden die Shoah und Auschwitz von einer
schrecklichen Katastrophe zu einem Kult im Dienst
einer Politik, die mehr und mehr neue Katastrophen
verursacht, mutiert. Meiner Meinung nach sind Mythen
kanonisierte Lügen, die sich im Bewusstsein von
Menschen festsetzen und sie dann als historische
Wirklichkeit betrachten. Solche Mythen begleiteten
den Staat Israel vor und insbesondere nach seiner
Gründung. Ein in Israel und Deutschland fast
vergessener Historiker Israels, Simha Flapan,
schreibt in seinem Buch „Die Errichtung Israels“
über acht Mythen,
die eigentlich
hauptsächlich als typisch diplomatischen und
politischen Lug und Trug gelten.
Auch Hannah Arendt, eine überzeugte Zionistin doch
auch kritische Philosophin, verfolgte trotz ihrer
Begeisterung für das entstehende Israel mit großer
Sorge die Gefahren für die Zukunft Israels -
Ergebnis dieser Mythen. Als ich mich entschieden
habe, nach Deutschland zu kommen, habe ich sehr
vorsichtig versucht – auch beschrieben in meinen
zahlreichen Briefen - diese Mythen zu entlarven. Die
tragische Fortsetzung von Kriegen, Zerstörungen und
wachsendem Hass hat nicht nur mit Antisemitismus
oder mit dem Versuch, Israel zu zerstören, zu tun.
Es ist eine Tragödie von zwei Völkern, die
fälschlicherweise überzeugt sind, alleine und einzig
im Recht zu sein.
Die Weichen, die den Nahen Osten
in einen Wirbel von Gewalt, Blutvergießen und
Zerstörung führten, sind schon von Ben Gurion vor
mehr als 60 Jahren (in einer Rede im August 1947)
gestellt worden: "Die Weisheit Israels ist die
Weisheit, wie Krieg zu führen ist und nichts
anderes“.
Ein paar Jahre danach schreibt
der zweite Ministerpräsident: "Ich habe gelernt,
dass der israelische Staat in unserer Generation
ohne Betrug und abenteuerlichen Geist nicht regiert
werden kann. Dies sind historische Fakten, die
nicht zu verändern sind. Es mag sein, dass die
Geschichte die Betrugsstrategien bestätigen wird,
genauso wie die abenteuerlichen Aktionen (er meint
damit, die blutigen Vergeltungsaktionen). Was ich,
Moshe Sharet, weiß, ist, dass ich nicht fähig bin,
so zu handeln, deshalb bin ich auch nicht fähig,
diesen Staat zu regieren." (Moshe Sharets
Tagebücher)
Diese Tatsachen werden in diesen
Tagen durch hauptsächlich drei Themen bestätigt:
1.
Außer Moshe Sharet und Rabbin
haben alle israelischen Regierenden die Entstehung
eines palästinensischen Staates nicht ernst
genommen. Es wurde immer von Frieden geredet, ohne
einen einzigen Schritt gemacht zu haben, diesen zu
erreichen.
2.
Die Politik Ben Gurions hat nie
die Teilung Palästinas zum Ziel gehabt, und durch
Dutzende von Kriegen nur versucht, die Grenzen
Israels auszuweiten, alles unter dem Feigenblatt von
Sicherheitsbedürfnissen.
3.
Dieselbe Politik hat zu der
ethnischen Säuberung geführt und die meisten
Palästinenser zu einem heimatlosen Volk von
Flüchtlingen, Entrechteten und Dämonisierten
gemacht. Dämonisierung deshalb, weil Ben Gurion
alle Palästinenser als hoffende Vollstrecker von
Hitlers‘ Plan, Juden auszurotten, darstellte.
Israel ist nicht nur eine Gefahr
für sich selbst, sondern eine Gefahr für den
regionalen Frieden und vermutlich für den
Weltfrieden. Ein Versuch, in Deutschland zu einer
Aktion aufzurufen „Keine weitere Lieferung von
U-Booten nach Israel, solange Israel nicht die
verschiedene Beschlüsse, die zu einen funktionieren
Frieden im Nahen Osten beitragen, implementiert“,
könnte die Gefahr noch abwenden.
Die gegenwärtigen Ereignisse in
Israel zeigen, dass die israelische Politik nicht
nur zur trostlosen Lage des palästinensischen Volkes
geführt hat, sondern auch die israelische Demokratie
– so das oberste Gericht - und den friedlichen
Zusammenhalt der jüdischen Gesellschaft gefährdet.
Es geht nicht nur um den Angriff
auf die Entscheidungen des obersten Gerichtes,
sondern ebenso gegenüber der israelischen Armee, die
beauftragt ist, ein Verdikt des obersten Gerichtes
zu implementieren und manche illegale Siedlungen,
gebaut auf palästinensischen Privatgrundstücken, zu
räumen. Als Reaktion darauf haben im letzen Monat
hunderte Siedler - neben dem Anzünden etlicher
Moscheen und dem Zerstören palästinensischer
parkender und durchfahrender Autos - militärische
Einrichtungen angegriffen. Letzteres ist eine Folge
der Politik des Wegsehens und Nicht-Handelns der
existierenden Regierung, die eine Koalition von 85
Prozent der Abgeordneten aus faschistisch klerikalen
Gruppen stellt.
Außerdem wird die Pressefreiheit
durch ein neues Gesetz stark reduziert: Für
Journalisten oder Zeitungen, die den Staat oder
Staatsbedienstete durch ihre Artikel ‚angeblich‘
verleumden, werden Strafen drastisch erhöht.
Journalisten werden es in Zukunft vermeiden, noch
kritische Artikel zu schreiben.
Auch humanistische Gruppen sind
Ziel der Ent-Demokratisierung: Die für ihre Arbeit
erhaltenen Spenden von Regierungen sind bis jetzt
steuerfrei. Ein neues Gesetz soll entscheiden, dass
regierungskritische Stiftungen mit 45 Prozent des
Spendenbetrags besteuert werden.
Der steigende Einfluss der
klerikalen Macht äußert sich in dem Versuch, uns
eine strenge Trennung zwischen Männern und Frauen
aufzuzwingen. In vielen Bussen hat man angeordnet,
dass Frauen im hinteren Teil vom Bus auf den
unbequemen Plätzen sitzen müssen.
Ein jüdischer Spruch:"Eine
gelungene Dummheit bleibt eine Dummheit ". Diese
Dummheit, auch wenn sie noch so erfolgreich ist,
treibt uns und den Nahen Osten in den Abgrund. Auch
wenn es in unseren Zeiten pathetisch scheint,
Cassandra oder Prophet zu spielen (was ich
sicherlich nicht bin), kann ich vielleicht nur wie
Luther sagen: "Hier stehe ich, ich kann nicht
anders" - und wenn es uns nicht gelingt, in den
allerletzten Minuten vor 12 Uhr möglichst schnell
die Weichen anders zu stellen, dann: "Gott behüte
uns - Amen!"
Mit dem Wunsch: Euch und der
Welt ein besseres und hoffnungsvolleres Jahr,
verbleibe ich in tiefer Verbundenheit,
Eurer
Reuven
Berlin, Januar 2012
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