Das jüdische Volk, der Zionismus und die Frage nach der
Gerechtigkeit
Marc Braverman, Ph.D., USA
Als ich in den 50ern eine
jüdische Schule in Philadelphia besuchte,
erhielten wir vom jüdischen Nationalfond
Faltprospekte: Kästchen mit einem Schlitz
für kleine Münzen. Auf der Vorderseite war
eine Photo mit einem Baum, der von hübschen,
braungebrannten Leuten in Shorts gepflanzt
wird. Wenn das Kästchen voll war, sandte man
es zurück und man erhielt ein Zertifikat mit
dem eigenen Namen und ein größeres Foto von
einem Baum, den man in Israel gepflanzt hat.
Das machte Spaß und es begeisterte uns – ich
half mit, die Heimat zu kultivieren. Ich sah
Bilder von Kibbuzim und Orangenhainen, die
die Täler füllten und träumte davon, eines
Tages auch dorthin zu gehen.
Vier Jahrzehnte später,
nun ein Mann mittleren Alters, sah ich
Bilder von israelischen Bulldozern, die 300
Jahre alte Olivenbäume ausrissen, und
jüdische Soldaten, die arabische
Dorfbewohner fest hielten, die hysterisch
wegen der Zerstörung ihrer Olivehaine
schrieen und weinten. Ich reiste in die
Westbank – in das von Israel besetzte
Palästina - und sah, wie die Hänge von ihren
Bäume entblößt worden waren, um jüdische
Siedlerstädte aus Beton zu bauen. Ich sah,
wie arabische Häuser eingeebnet und Gärten
zerstört wurden, damit Platz für eine acht
Meter hohe Betonmauer geschaffen wird, die
mitten durch palästinensische Städte und
Felder läuft. Ich sah, dass dies nicht in
Ordnung ist. Ich konnte die Geschichte nicht
glauben, dass dies nur zu
Verteidigungszwecken sein soll. Mir wurde
deutlich, dass dies eine Lüge war.
Als ich in die USA
zurückkehrte, begann ich von meinem
Schreckerlebnis, meiner Traurigkeit und
meiner großen Sorge über das, was ich
gesehen habe, zu erzählen. Mir wurde dann
von meinen Glaubensgenossen gesagt, so dürfe
ich nicht reden. Man sagte mir auch, dass
mich dieses zu einem Feind der Juden machen
würde und dass ich so den Weg zum nächsten
Holocaust ebnen würde. Viele Juden sagten
mir, dass ich so meinem Volk gegenüber
unloyal sei, dass ich auf die
palästinensische Seite übergewechselt sei.
Ein jüdischer (rabbinical) Student sagte
zu seinen Kollegen, ich sei offensichtlich
zum Christentum übergetreten und würde nur
so tun, als wäre ich ein Jude, um die
Zerstörung des jüdischen Volkes zu
verursachen. Ich habe in vielen Gruppen über
meine Erfahrungen (in den besetzten
Gebieten) gesprochen – fast nur in Kirchen.
Ich sollte noch in einer Synagoge reden. Ich
versuche sehr, all diesem einen Sinn zu
geben und einen Weg zu finden, um das Ganze
zu begreifen.
Jüdische Geschichte: Das Überleben und sein Schatten
Der Zionismus war die
Antwort auf den Antisemitismus des
christlichen Europa. Trotz der Aufklärung
war es nicht gelungen, die Juden als
emanzipierte, im Europa des 18. und 19.
Jahrhundert anerkannte Gruppe zu etablieren.
Und die Zunahme des politischen
Antisemitismus im späten 19. und zu Beginn
des 20. Jahrhundert ließ den politischen
Zionismus unter der Führung von Theodor
Herzl entstehen. Der Zionismus drückte den
unbändigen Wunsch des jüdischen Volkes aus,
einen eigenen Staat zu errichten - als eine
Nation unter anderen Nationen mit eigenem
Land und der Möglichkeit, über sich selbst
zu bestimmen. Deshalb hört man bei Predigten
in den Synagogen, bei Vorträgen über die
jüdische Geschichte, im Schulunterricht vor
kleinen Kindern und bei lebhaften
Diskussionen über das
israelisch-palästinensische Problem immer
zunächst das Wort „Jahrhunderte lang“ – und
dann folgt die Beschreibung des Leidens der
Juden durch ihre Unterdrücker. Tatsächlich
auch in unserer Liturgie, besonders in der
vom Pessachabend. Die Geschichte des
jüdischen Überlebens ist trotz all der
Verfolgungen auf verschiedene Weise unser
Lied. … es ist in unserm kulturellen DNA. Es
ist das Mantra unseres Volkes. Es sitzt sehr
tief.
Diese einzigartige
jüdische Qualität ist nicht das Produkt
irgend welcher kultureller Verirrung oder
ein kollektiver Charakterfehler. Die
Entwicklung dieses besonderen Merkmals des
Selbstschutzes ist während langer
Verfolgungszeiten, der Marginalisierung und
Dämonisierung zu einem Teil unseres
Überlebenskampfes geworden. Wir überlebten
zum Teil, weil wir Rituale, Gewohnheiten
und eine Haltung der Abgeschlossenheit
entwickelten, auch des Stolzes und der
Ausdauer, die uns nie erlaubten zu
vergessen. Wir blieben wachsam und waren
stolz auf unsere eigensinnige Vitalität
angesichts derjenigen, die uns zu
zerstören versuchten. Wenn wir in unserer
modernen liturgischen Ausdrucksweise vom
Staat Israel als „ der ersten Blüte unserer
Erlösung“ reden, denken wir an die Realität
unseres Überlebens, über die Bedeutung, dass
wir politisch Selbstbestimmung erreicht
haben – im Kontext der jüdischen Geschichte:
es ist gut, überlebt zu haben.
Aber
wir müssen auch deutlich die Schatten
sehen, die diese Geschichte heute auf uns
wirft.
Wir haben darum gekämpft,
Herren unseres Schicksals zu werden – aber,
nachdem wir dies erreicht haben, muss uns
klar sein, dass wir für unsere Aktion und
für die Folgen dieser Aktionen
verantwortlich sind. Frei sein, heißt auch,
frei entscheiden. Die Tragödie der
jüdischen Diasporageschichte in unserm
eigenen kulturellen Narrativ als auch in der
Realität wurzelt in unserer Geschichte der
Machtlosigkeit und Passivität. Der
Zionismus hat dies korrigiert, und es ist
ihm zweifellos gelungen – weit über die
Erwartungen von Juden und Nicht-Juden
hinaus. Aber wenn wir nun Sklaven der Folgen
unserer Ermächtigung werden, sind wir nicht
frei und in Wahrheit auch nicht mächtig.
Der Nazi-Holocaust wirft im besonderen seine
Schatten über unsere jüngste Geschichte und
die Geschichte des Staates Israel. Die
Nazi-Kampagne, das Weltjudentum
auszulöschen, ist zu einem Teil unserer
einzigartigen jüdischen „Liturgie der
Zerstörung“ geworden, die Art und Weise, in
der Juden während aller Jahrhunderte im
Kontext der jüdischen Geschichte dem Leiden
einen Sinn gegeben haben .
Aus dieser Matrix der
Verwundbarkeit und des Opferstatus …kommt
der zionistische Schrei: „Nie wieder!“ Aber
der moderne Staat instrumentalisiert mit
seiner Politik – angeblich um unser Volk zu
bewahren – den Holocaust als Rechtfertigung
für unrechte Taten und betrügt so den Sinn
der jüdischen Geschichte. Man erreicht die
eigene Erlösung/ Befreiung nicht - auch
nicht vom abscheulichsten Bösen – indem man
ein anderes Volk unterdrückt. In dieser
augenblicklichen Ära der Macht und
Selbstbestimmung für Juden in Israel stehen
wir einer großen Gefahr gegenüber, die die
physischen Gefahren von Tausenden von
Jahren der Verfolgung weit übersteigt.
Israel und Palästina: die Wirklichkeit steht Kopf
Die stürmische
Kontroverse über die
israelisch-palästinensische Frage heute –
eine Kontroverse, die die jüdische
Gemeinschaft hier in den USA, als auch in
der israelischen Gesellschaft teilt, steht
offensichtlich für diese Gefahr. Die
Geschichte des Konfliktes und des
Blutvergießens zwischen dem Staat Israel,
seinen arabischen Nachbarn und der
einheimischen Bevölkerung des historischen
Palästinas ist die unvermeidliche und
vorhersehbare Folge der kolonialistischen
Natur des zionistischen Unternehmens. Obwohl
der Zionismus – nicht wie die anderen
europäischen kolonialen Projekte
ursprünglich auf Besatzung und Ausbeutung
eines unterworfenen Volkes aus war – und die
Zionisten zunächst nur ein Refugium für
sich selbst suchten, so war es doch ein
koloniales Siedlerunternehmen. Was
unheimlich und tragisch im augenblicklichen
Diskurs ist, ist die Rolle der Kämpfer, die
auf den Kopf gestellt wird: die Juden werden
als die Opfer dargestellt und die
Palästinenser als die Aggressoren. In
Wahrheit sind die Palästinenser die Opfer:
enteignet, machtlos und gepeinigt. In jeder
Weise sind die Juden die Sieger und
Mächtigen. Die Juden in Israel werden durch
Akte des Volkswiderstands von Seiten der
Palästinenser wie von Stichen geplagt.
Aber im Vergleich zur augenblicklichen
Machtbalance, sind dies nichts anderes als
Nadelstiche. Gleichzeitig wird dieser
Widerstand von Verzweiflung und Demütigung
eines vertriebenen und besetzten Volkes
angeheizt und von politischen Kräften
innerhalb und außerhalb Palästinas erweitert
und ausgenützt. So schrecklich
Widerstandsakte wie Selbstmordattentate und
der Raketenbeschuss über die Grenze ist, ist
Israels Vormacht, seine Macht und sicherlich
auch seine Sicherheit durch solche Akte
nicht bedroht. Selbstmordattentate sind
schrecklich und terrorisieren. Doch ist es
zu einfach und bequem, ein ganzes Volk dafür
zu strafen. Das Image der Palästinenser als
gewalttätiges Volk, als „Terroristen“, denen
es um die Zerstörung Israels geht, ist nicht
das wahre Bild. Die Wahrheit ist, dass die
Palästinenser ein friedliches und geduldiges
Volk sind – und zur Zeit ein zorniges,
gedemütigtes und gepeinigtes Volk . Ihre
Schuld während der letzten 60 Jahre war ihr
relativer Mangel an Organisation, die
wirksam von den Briten während ihrer fast
30jährigen Herrschaft aufgebaut worden war
(?? R)– im Vergleich zu dem hoch
organisierten und effektiven zionistischen
Kolonialprojekt. Sie müssen jetzt dafür
zahlen, indem sie einer unaufhörlichen
Auflösung ihrer Wirtschaft und
Infrastruktur gegenüberstehen und der
Unfähigkeit ihrer Führung, sich selbst zu
regieren. Israel hat übernommen, was die
Briten hinterließen – mit weit größerer
Effizienz und Gründlichkeit.
Die jüdische
Diskussion
Auch wenn es schmerzlich
und sehr beunruhigend ist, sehe ich die
Grausamkeit und Tiefe der augenblicklichen
Trennung innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft in der Diaspora als eine
Gelegenheit des Dialogs. Dies ist ein
Problem mit Krisisproportionen für Juden –
wir müssen dies ernst nehmen. Wir müssen zu
diesem Gespräch ermutigen. Wir würgen diese
Diskussion aber auf eigene Gefahr hin ab.
Wir sind als Juden dafür verantwortlich,
unsere Beziehungen zu Israel zu überprüfen,
und nicht die Geschichten anzunehmen, mit
denen wir vom jüdischen Establishment
versorgt werden: von Synagogen, jüdischen
Gesellschaften, Lobby-Organisationen und dem
Rest des Apparates, dem daran liegt, den
mächtigen Strom finanzieller und politischer
Unterstützung für Israel aus
Regierungskreisen und privaten Quellen zu
erhalten . Wir müssen unsere Überzeugungen
und Gefühle überprüfen, die die Bedeutung
des Staates (Israel), besonders auch in
der Beziehung zum Antisemitismus für uns
persönlich betrifft . Bin ich , der ich als
Jude in Amerika lebe, davon überzeugt, dass
der Staat Israel für mich als Zufluchtort
so wichtig ist, wenn ich mich in meinem Land
(in den USA) unsicher oder benachteiligt
fühle. Habe ich persönlich das Gefühl, dass
die Existenz eines jüdischen Staates für
mich, mein Jüdischsein oder für die von mir
gewählten religiösen Werte und meinen
Glauben wesentlich ist? Glaube ich, dass die
Welt auf Grund der Jahrhunderte langen
Gewalt, der Verfolgung, die im
Nazi-Holocaust gipfelte, den Juden einen
Staat schuldet? Dies sind alles wichtige
Fragen, die gestellt werden müssen, mit
denen man sich aus einander setzen muss und
die an der Realität des augenblicklichen
Lebens gemessen werden müssen. Außerdem
sollten wir uns als Diasporajuden fragen,
woher bekommen wir unsere Informationen über
die Geschichte des Staates Israel und über
die augenblickliche politische Situation.
Auf welche Nachrichtendienste kann ich mich
verlassen, welche Internetseiten suche ich
auf? Was wissen wir über die Diskussion, die
heute innerhalb Israels stattfindet z.B.
beim aktiven Dialog, der auf den
Haaretz-Seiten gefunden wird, oder über die
Organisationen, die als Opposition zur
israelischen Regierungspolitik sich outen
und über die schneller werdende, revidierte
zionistische Geschichte, die von den „neuen“
jüdisch-israelischen Historikern geliefert
wird ?
Wir müssen bereit werden,
unsere strikte Leugnung/ Ablehnung der
augenblicklichen Realität und die begangenen
Ungerechtigkeiten ( gegenüber den
Palästinensern) durch den Zionismus
überwinden. Walter Brüggemann, der
protestantische Theologe, schreibt in seinem
Buch über die prophetische Imagination, auch
über den prophetischen Aufruf zur Klage und
Trauer, dass wir nur auf diese Weise hoffen
können, uns auf eine neue und bessere
Realität hin zu bewegen. Nur wenn wir nach
Jeremia in der Lage sind, über unsere
eigene Gebrochenheit zu weinen (
Trauerarbeit) und uns den Auswirkungen
des von uns verursachten Leidens stellen,
können wir Empfänger von Gottes Gnade
werden. In andern Worten, wir müssen die
Ableugnung dessen, was wir getan haben,
durchbrechen. Die Machtstruktur empfiehlt
natürlich das Gegenteil. Der Staat stellt
die Geschichte auf den Kopf, um die
Wahrheit zu übertünchen: „Dies wurde im
Namen der nationalen Sicherheit getan.“ „Die
anderen sind die Terroristen, sie sind das
Hindernis zum Frieden.“
Eine besonders heikle
Form der Ableugnung, der Unterlassung der
Klage ist, wie einige Juden sich mit
Aktionen der israelischen Regierung
auseinandersetzen, aber vermeiden, sich mit
den grundlegenden Fragen der Gerechtigkeit
zu befassen. Dies kann auf verschiedene
Weise geschehen: zunächst durch einen
„pragmatischen“ Schritt, den man auch eine
Aufforderung zu „fortschrittlichem
Eigennutz“ nennen könnte: „Die Besatzung war
ein Fehler! Sie ist nicht gut für Israel.
Den Palästinensern die Selbstbestimmung zu
verweigern und sie einer demütigenden
Militärverwaltung zu unterwerfen führt zu
Hass und Verzweiflung, die sich dann
gegenüber Israelis in Gewalt äußert.“
Einige
amerikanisch-jüdische Organisationen, die
hoffen von der Mainstream-Gemeinschaft nicht
an den Rand gedrängt zu werden oder als
„pro-palästinensisch“ bezeichnet zu werden,
nehmen diese Position ein. Auch sie
ignorieren die Frage der Gerechtigkeit
…“Israel sollte aufwachen und seine Politik
ändern, falls es in Frieden leben will, und
es solle den wirtschaftlichen Aderlass eines
unendlichen Konfliktes begrenzen.“ In
inoffiziellen Gesprächen mit einigen
jüdischen Amerikanern, die diese Meinung
vertreten, habe ich Bekenntnisse gehört,
ihre Stellungnahme sei viel extremer
hinsichtlich ihrer Gefühle über israelische
Politik, aber sie halten es, aus
strategischen Gründen für wichtig, an dieser
Linie festzuhalten, um die Glaubwürdigkeit
mit dem jüdischen Establishment genau so wie
mit den Regierungsgesetzgebern aufrecht zu
erhalten.
Eine zweite Art der
Ableugnung, die für mich ernster und noch
beunruhigender ist, findet man in den Reihen
derer, die man jüdische Progressive Bewegung
nennt. In seiner Kritik dieses Teiles des
amerikanischen Judentums bemerkt der
jüdische Befreiungstheologe Marc Ellis,
dass während dieses Element der Judenheit
(nur) Aspekte der jüdischen Vorherrschaft
durch Anerkennung der Gültigkeit der
palästinensischen Bestrebungen anerkennt,
so begrenzt es doch das Ziel der Kritik,
indem es die dieselbe jüdische Vorherrschaft
für notwendig hält als eine Lösung der
jüdischen Geschichte. Diese Ansicht erkennt
das Problem der Gerechtigkeit an, versucht
dies aber innerhalb des Kontextes der
jüdischen Mainstream-Anmaßung auf Ansprüche
hinsichtlich der Rechte der Juden auf das
historische Palästina. (??)
„Könnten wir doch nur
diese schmutzige Sache mit der Besatzung in
Ordnung bringen!“ sagen diese Leute,“ dann
könnten wir uns über das Land freuen – ohne
ein schlechtes Gewissen zu haben.“ Dieser
Gesichtspunkt grenzt den Diskurs über die
Aktionen von nach 1967 ein: er leugnet die
Geschichte der vorausgegangenen
Vertreibung der Palästinenser. Tatsächlich
vermeiden progressive jüdische
Organisationen die Diskussion über die
Nakbah, ein arabisches Wort für
„Katastrophe“, das die ethnische Säuberung
von drei Viertel einer Million
Palästinenser aus dem historischen Palästina
durch israelisches Militär zwischen 1948 und
1949 beschreibt . Progressive Juden sind
tatsächlich dafür bekannt, irritiert zu
sein, wenn andere Juden dieses Thema
anschneiden. Schließlich vermeidet man die
grundsätzliche Frage, wie ist es möglich,
dass ein jüdischer Staat, der als
Zufluchtsort und Heimstätte für Juden
gegründet wurde, eine wirkliche Demokratie
sein soll, in der Gerechtigkeit herrscht und
Nicht-Juden fair behandelt werden. Man
meidet die verwandte und genauso
grundsätzliche Frage der Demographie – das
Thema, das vor allem die israelische
Außenpolitik bestimmt und den
augenblicklichen politischen und
militärischen Konflikt anheizt. Alles in
allem wollen Juden außerhalb Israels …
diese Fragen vermeiden – ja, sie sind tabu.
Dies ist Ableugnung – es
ist ein grundsätzliches Versäumnis, die
Folgen der jüdischen Aktionen vor und nach
1948 zu akzeptieren (??) und darum auch ein
Versäumnis über die besondere jüdische
Tragödie zu klagen, an der wir Juden heute
leiden. Auch wenn wir zu den Grenzen von
1967 zurückkehren – als ob das geschehen
würde – wird nichts besser werden. Dies wird
Israel nicht zu einer gerechten Gesellschaft
machen mit Achtung vor seinen
palästinensischen Bürgern. Dies wird nichts
von dem tilgen, was den Palästinensern
geschehen ist, die 1948 aus ihren Städten
und Dörfern vertrieben wurden. Die Sache
mit der Gerechtigkeit wird nicht oben an
gesetzt. Vielmehr werden die Interessen
Israels oben an nicht-jüdischen Bewohnern
des historischen Palästina – egal auf
welcher Seite der Grenze sie bei den
Endstatusverhandlungen dann sein werden…
Schlussfolgerungen: Christen, Juden,
Antisemitismus und unsere Verantwortlichkeit
Das Problem des
Antisemitismus ist komplex und tief in 2000
Jahre westlicher Geschichte eingebettet.
Unter liberalen christlichen Theologen und
religiösen Führern wurde der
Supercessionismus ( Überspitzung der Idee
des völligen Zurückdrängens? ) – der
Auffassung, dass das in den Evangelien
dargestellte Christentum, kam, um nach
Gottes Plan für die Menschheit das Judentum
zu ersetzen – das DAS Böse schlechthin
wurde. Das von der Geschichte gut fundierte
Argument ist, dass die in den ersten
Jahrhunderten nach Christus entwickelte und
im christlichen Glauben und in christlicher
Lehre zentrale Idee die Grundlage für den
Antisemitismus legte. In ihrem Eifer, die
Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu
korrigieren, ja zu sühnen, sind die
christlichen Führer und Denker jetzt in
Gefahr, einen wichtigen Aspekt des frühen
christlichen Denkens aus den Augen zu
verlieren. Das Christentum hat bei seinen
neuen Überlegungen der Beziehungen Gottes
zur Menschheit, eine Revolution ausgelöst.
Aus Israel, einem Volksstamm, wurde nun ein
Volk. In der christlichen Neu-Überlegung war
Gottes Bindung gegenüber der Menschheit
durch die Wahl der mit einer besonderen
Rolle in der Geschichte beauftragten
Nachkommen Abrahams in Gottes Liebe zur
Menschheit umgewandelt worden und die
Einladung an alle, Teil einer universalen
geistlichen Gemeinschaft zu werden. Dies war
ein großer Beitrag, ein großer Schritt
vorwärts und dies hat heute seine besondere
Bedeutung, da alle Religionen darum kämpfen,
von den „konstantinischen“ , sich auf Macht
gründende Religionen wegzukommen zu
Gemeinschaften, die auf Vielfältigkeit,
Menschenrechten und Gerechtigkeit beruhen.
Die Wahl zwischen einer
auf Macht beruhenden Religion und die mit
politischer Macht und Unterdrückung
übereinstimmt und einer Religion, die sich
auf eine Vorstellung von Gemeinschaft
gründet, sollte von allen
Glaubensgemeinschaften ins Auge gefasst
werden. Juden und Christen sollten darüber
reden, ja, auch mit ihren muslimischen
Freunden und Kollegen, um gemeinsam den
zentralen Herausforderungen unserer Zeit
begegnen zu können. Diese Diskussion würgen
wir aber auf eigene Gefahr ab.
Unsern christlichen
Brüdern und Schwestern sage ich – gebt nicht
aus Schuldgefühlen für Antisemitismus dem
jüdischen Volk eine Freikarte, verwechselt
nicht Antisemitismus mit Kritik an Israel
und versäumt so, die Juden für ihre Aktionen
verantwortlich zu machen – als Mitglieder
der menschlichen Gemeinschaft, als
Individuen und als Staat --- besonders als
Staat einer Nation. Lasst euch nicht von der
Drohung einschüchtern, als Antisemiten
abgestempelt zu werden. Das ist eine
bösartige Täuschung. Als Juden suchten wir
politische Selbstbestimmung und erhielten
sie. Nun müssen wir uns nach den Prinzipien
der Gerechtigkeit und entsprechend dem
Völkerrecht verhalten - als Ausdruck
universal überein gekommener Prinzipien der
Gerechtigkeit. Als Juden sind wir täglich
damit konfrontiert, da wir Zeugen der
illegalen und unterdrückerischen Aktionen
des jüdischen Staates gegenüber dem
palästinensischen Volkes sind und verdrängen
dies schnell. Politische Ermächtigung
stellt gegenüber den sittlichen
Wertvorstellungen eine große Herausforderung
dar.
Die Propheten wussten
dies nur zu gut und sprachen diese Wahrheit
ständig gegenüber den Machtstrukturen ihrer
Zeit aus. Gegenüber dem unterdrückten
jüdischen Volk im Exil erklärte der
Deuteero- Jesaja, dass Befreiung, Trost und
Erquickung kommen werden, aber nur wenn
das Volk die göttliche Deutung ihres Leidens
anerkennt. Meinen jüdischen Glaubensbrüdern
in Israel und Amerika sage ich, dass wir
letzten Endes als Volk nur in dem Maße
überleben, wie wir verstehen können, wie
unser eigenes Leiden uns zu einem Teil der
Menschheit und verantwortlich für das
Leiden anderer macht, wo und wann immer es
geschieht. Es war Roberta Feuerlicht, die
jüdische Ethikerin, die sehr richtig
schrieb: „Das Judentum überlebte
Jahrhunderte der Verfolgung ohne Staat – nun
muss es lernen, trotz eines Staates zu
überleben“.
Mark Braverman lebt in
Bethesda, MD. Er ist ein Mitglied der „Jewish
Voices for Peace“ und ist im Vorstand der
„Partner für den Frieden“ und der „Interfaith
Alliance for Middle East Peace“ in
Washington. M_braverman@yahoo.com
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