Ein Brief von
Lama in Gaza
Sonntagabend, 9. Juli 2006
Wir waren vom Restaurant
heimgekommen, wo wir das Endspiel
der Fußball-Weltmeisterschaften
Italien: Frankreich anschauten. Mein
Sohn Luai fragte mich: "Mammy, wo
sind Marwan und Isam (seine
Freunde)? Ich vermisse sie." Ich
sagte: "Marwan ist in Frankreich und
Isam ist in Amman." "Wie sind sie
denn dahin gekommen, wenn doch die
Grenzen zu sind?" "Also, sie sind
weggegangen, bevor sie zu waren, und
jetzt sitzen sie fest außerhalb von
Gaza." Luai antwortete: "Du weißt es
eh! Ich werde eine richtige Kanone
und ich geh' nach Rafah und
erschieße und töte die israelische
Armee dort, damit Isam und Marwan
und Jiddo (Opa) Fayssal hierher
kommen können. Dann geh ich nach
Damaskus zur Teta (Oma) Rawda und
feiere dort meinen Geburtstag. Sei
nicht traurig, die bringen mich
nicht um. Ich werde sie umbringen!"
Ich wusste nicht, was ich zu ihm
sagen sollte. Er ist noch nicht
einmal vier und redet so! Ich lasse
ihn nicht die Nachrichten anschauen,
aber trotzdem fühlt er die
Besetzung.
Diesen Morgen sind wir aufgewacht,
und es gab Strom. Luai ging zum
Kühlschrank und öffnete ihn weit,
und sagte sehr glücklich: "Mummy, es
gibt Elektrizität. Ich kann den
Kühlschrank so weit und so lang
offen halten, wie ich möchte". Er
machte ihn auf und stand minutenlang
davor, ohne etwas heraus zu nehmen.
Dann ging er zum Fernseher und
stellte ihn an, um Tom & Jerry sehen
zu können. Er war so glücklich. Er
konnte schon seit einer
ziemlich langen Zeit nicht schauen.
Aber es dauerte nur 10 Minuten und
dann wurde der Strom wieder
abgeschaltet.
Ich bin sehr froh, dass Luai nicht
mitten in der Nacht während des
Bombardements und der
Granateneinschläge aufwacht. Er
schläft tief. Er erfährt nun eine
Menge neuer Dinge: die sehr niedrig
fliegenden Hubschrauber und der
laute Krach, den man vom Hof unseres
Hauses aus vernimmt. Er beobachtet
sie sogar, wenn sie schießen und
Bomben herunterlassen. Er bleibt mit
anderen Kindern im Lift hängen, weil
der Strom plötzlich ausfällt. Sein
ganzer Tagesablauf verändert sich:
Schlafenszeit, Besuchszeit, kein
Schwimmen im Meer, Dinner bei
Kerzenbeleuchtung, kein tägliches
Bad, kein Lesen einer
Einschlafgeschichte, sondern die
Geschichte am Nachmittag. Er lernt
ein neues Spiel: "Juden und Araber"
mit den Kindern im Haus. Und er
lernt neue Wörter wie Tod, Bombe,
töten usw.
Der Unterschied zwischen Juden,
Israelis und der israelischen Armee
ist das, was ihn zurzeit am meisten
beschäftigt.
Das neue Problem mit ihm ist, dass
er sich fürchtet, allein in seinem
Zimmer schlafen zu müssen, wenn der
Strom ausfällt. Jetzt schläft er in
unserem Schlafzimmer. Seit dem Alter
von vier Monaten habe ich ihn in ein
separates Zimmer gelegt.
Obwohl ich immer diese persönlichen
Probleme in meinem Kopf habe, teile
ich noch die Sorgen aller Menschen
hier: Wie lange wird die Situation
hier so bleiben, genauer, wie lange
werden wir, die Menschen in Gaza und
der Westbank als Geiseln einer
terroristischen, rassistischen
Regierung von Israel leben müssen ?
Wir gehen noch zur Arbeit, wir
besuchen so gut als möglich unsere
Programme und Aktivitäten mit den
verschiedenen Frauengruppen.
Wir sind auch bekümmert um Hanan und
ihre Familie. Sie sind physisch in
Ordnung. Die israelischen Soldaten
haben ihr Haus am Samstagmorgen
verlassen. Amira Hass hat im Detail
in der Ha'aretz die Leiden der
Familie während der Besetzung ihres
Hauses beschrieben. Man kann genau
sehen, dass Hanan nicht mehr so ist
wie früher. Sie ist viel
angespannter, macht keine Witze mehr
über die Situation und macht sich
immer Sorgen um ihren Mann und die
Kinder. Die Kinder selbst sind
traumatisiert und stehen noch unter
Schock.
Ich ging sie mit
anderen Kollegen von der Arbeit in
ihrem Haus besuchen. Als wir dem
Haus näherkamen und den Garten
sahen, kamen mir die Tränen. Ich war
glücklich, sie alle am Leben und
gesund zu sehen. Aber die
Zerstörungen, die wir im Garten
sahen, sind unglaublich. Ich kann
nicht einmal Worte finden, um das zu
beschreiben.
Das Leben geht weiter mit den
gleichen Problemen. Wir erhalten von
Tag zu Tag weniger elektrischen
Strom. Jetzt haben wir nur welchen
für einige Stunden am Tag, und
ungefähr vier bis sechs Stunden
während der Nacht, während wir
schlafen und zu Hause nichts tun
können.
Immerhin hat dies auch seine
Vorteile: Wir schlafen früher, haben
mehr Zeit, um die Nachbarn zu
treffen und wir haben das Privileg,
die Brutalität der Angriffe der
Israeli nicht direkt am Fernseher
anschauen zu brauchen.
Noch können wir die Nachrichten am
Radio hören. Wir leben noch unter
dem gleichbleibenden Geräusch der
ferngesteuerten Flugzeuge, die 24
Stunden täglich über unseren Köpfen
sind. Sie haben einen sehr lauten
und störenden Ton wie ein ständiges
Surren. Dazu kommen noch die
Geräusche der F16 und der
Apache-Raketen. Auch die ständigen
Einschläge der Granaten in
verschiedenen Vierteln rund um uns.
Seit die Israeli im Norden
eingedrungen sind, haben die
Knallbomben (sonic bombs) aufgehört.
Es hat den Anschein, dass sie ihre
Leute nicht damit stören wollen. Ich
möchte gern glauben, dass es
internationalen Druck auf die
Israelis gegeben hat, um mit diesen
Bomben aufzuhören, aber irgendwie
kann ich daran nicht glauben
Lama Hourani
Gaza, am 12. Juli 2006
(Übers.: Gerhilde
Merz)
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