Fragen.
Von Lama Hourani, Gaza City, 03-12-2006
"Mami,
warum bist du nach Beit Hanoun gegangen? Weißt Du denn nicht, dass die Hälfte der Menschen
dort ermordet worden sind?" Ich erwiderte,
"Nein, dort sind nicht die Hälfte der
Menschen gestorben." "Glaubst du, dass dort
alle Menschen gestorben sind? Weißt du denn
nicht, dass du umgebracht werden könntest,
wenn du dort hingehst?"
Das war mein Gespräch mit
Luai, als er erfuhr, dass ich in Beit Hanoun
gewesen bin.
Ich weiß nicht warum,
aber seit der letzten Invasion in Beit
Hanoun bin ich zutiefst niedergeschlagen
gewesen oder es könnte sogar als verloren
bezeichnet werden. Ich weiß nicht warum es
so lange gedauert hat, bis ich mich so
fühlte, warum meine Verzweiflung verschoben,
aufgeschoben wurde. Es hätte schon vor
langer Zeit passieren müssen.
Ich wollte nicht
schreiben, aber ich war Zeugin so vieler
Geschehnisse, so dass ich glaube, dass ich
darüber schreiben muss.
Die Invasion auf Beit
Hanoun war ebenso schrecklich und grausam
wie es israelische Invasionen üblicherweise
sind, aber diesmal war sie grösser, länger
und mit viel mehr Opfern, einschließlich
Frauen und Kinder. Nach Beit Hanoun zu gehen
ist mir so schwer gefallen, Familien zu
treffen, die ihre Lieben verloren haben, die
in ihren Armen gestorben sind. Eine Mutter
hat mir beschrieben, wie eine Bombe ihr Kind
von ihrer Hand getrennt hat, als sie
versuchte dem Bombardement zu entkommen. Ihr
Sohn war an die Mauer gedrückt worden und
als sie ihn erreicht hatte, war sein Bauch
offen gewesen - sie versuchte noch, alles
wieder an seinen Platz zu bringen. Er starb
und dann musste sie zu den anderen gehen, zu
seinen Cousins, seinen Onkeln, zur
Großmutter, die alle in der schmalen Gasse
lagen, verwundet oder tot. Sein 11jähriger
Cousin starb als er seine Brille suchte.
Während er rannte, fiel er nieder, verlor
seine Brille und eine Bombe tötete ihn.
Sein anderer Cousin
erwachte zeitlich am Morgen durch den Lärm
der Bomben, die in das Haus einschlugen. Als
er jemanden mit seinem Handy zu Hilfe rufen
wollte, wurde er von einer Bombe getroffen,
die jene Hand abtrennte, in der er das
Mobile hielt. Er hatte sein Handy bei sich
und als er einen Rettungswagen holen wollte,
traf ihn die Bombe, seine amputierte Hand
konnte nie mehr sein Ohr erreichen.
Die Frage hämmert in
meinem Kopf: "Wie lange noch?"
Ein paar Tage später
erfuhren wir, dass Maha, eine Bürokollegin,
die in Beit Lahia lebt, mit ihrem Mann,
ihren vier Kindern und ihrer Schwiegermutter
im eigenen Haus als Geisel gehalten worden
war. Die israelische Armee besetzte ihr Haus
mitten in der Nacht und sie waren für
niemanden erreichbar. Einige Tage lang
machten wir uns große Sorgen um sie, bis
dann die Armee abzog und wir Maha
wiedersahen und die ganze Geschichte
erfuhren.
Wieder stellten wir uns
dieselbe Frage: "Wie lange noch?"
An jedem Tag wachen wir
auf und hören die Anzahl der Getöteten und
die Zahlen der Verwundeten. Andauernd hören
wir die Beschiessungen, die Bombardements,
die Schüsse, die F16, die Apaches und die
Überwachungsflugzeuge. Das geht Tag und
Nacht so weiter. Es ist quälend, es geht an
meine Nerven. Ich halte es nicht mehr aus.
Wieder und wieder dieselbe Frage: "Wie lange
noch?"
Dann, plötzlich, eine
Grossmutter verübt einen Selbstmordanschlag
gegen Soldaten. Ich las die Kommentare im
Internet und fühlte grosses Mitleid mit ihr.
Sie muss so verzweifelt gewesen sein und
soviel gelitten haben, ehe sie so eine
Entscheidung getroffen hat - aber es ist
nach wie vor äußerst erschreckend zu sehen,
wie gewalttätig unsere Gesellschaft geworden
ist. Eine Kultur des Mordens, von Blut und
Gewalt bringt uns dazu, zu akzeptieren, dass
eine Grossmutter, die - unter normalen
Umständen - ihren Enkelkindern Geschichten
erzählen würde, nicht nur die klassischen
Märchen, sondern auch die Geschichte
Palästinas, es vorzieht, sich selbst zu
töten, bei dem Versuch Soldaten zu töten,
die im Alter ihrer Enkel sind.
Eine andere Frage taucht
auf: "Wohin führt uns das? Was passiert mit
uns? Wen trifft die Schuld?"
Ja, das sind grosse
Fragen, die beantwortet werden müssen. Viele
von uns denken, dass sie die Antwort haben.
Es ist die selbstverständliche Entwicklung
aus dem Zyklus von Gewalt, in dem wir leben.
Freilich, die überragende Gewalt ist die der
israelischen Besatzung, daraus folgt der
islamische Fundamentalismus, der jetzt
unsere Gesellschaft kontrolliert; diese
Faktoren sind für die Richtung in unserer
Gesellschaft verantwortlich. Ist eine
Analyse und die Antwort tatsächlich so
einfach, hämmert eine andere Frage in meinem
Kopf.
Dann, eine Hochzeit einer
lieben Freundin, die das Fest ganz einfach
gestalten mußte und die Gäste auf ihre
Familie und die engsten Freunde eingrenzte -
was in unserer Gesellschaft sehr
ungewöhnlich ist - weil zwei Verwandte des
Bräutigams ermordet worden waren und ein
dritter auf der Intesivstation lag. Die
Hochzeit fand am selben Tag statt, an dem
sieben Menschen getötet wurden. Trotzdem
strahlte die Braut, wir freuten uns und
genossen es, wir tanzten und sangen. Wir
hatten es nötig uns daran zu erinnern, dass
wir noch immer am Leben waren und das Leben
weiterging, egal was geschieht.
Noch eine Frage: Bin ich
tatsächlich froh? Ist in mir nicht etwas
zerbrochen?
Der letzte Strohhalm.
Enge Freunde gehen endgültig. Die besten
Freunde die - wie wir auch - die Wahl
getroffen hatten, in Gaza zu leben, die
dafür viel gegeben und auch bekommen hatten,
Freunde, deren Zuhause eine der Oasen in
Gaza gewesen ist, wo wir alle Arten von
Menschen treffen konnten, Künstler,
Journalisten, Ärzte, Ingenieure, Fachleute
von Nichtregierungsorganisationen,
Palästinenser und Fremde aus aller Welt. Ihr
Haus war ein Ort, an dem ich mich zu Hause
fühlen und ich selbst sein konnte, tanzen,
spielen, fröhlich sein konnte, aber ebenso
konnte ich traurig sein und weinen. Maria
und Rasheed wählten unter all den Plätzen,
wo sie leben hätten können, Gaza aus und
jetzt müssen sie, werden sie gezwungen, die
Stadt zu verlassen. Die Fragen: Stösst uns
Gaza weg? Will Gaza Menschen wie uns nicht
mehr? Werden wir auch gehen müssen?
Habe ich Antworten auf
all diese Fragen? Nein, und das ist der
Grund, warum ich mich verlassen und
desorientiert fühle. Ich weiß nicht mehr,
was ich tun kann und bin verzweifelt und
depressiv. Vielleicht ist eines der Dinge,
die mich manchmal aufmuntern und mich
Hoffnung schöpfen läßt, wenn ich von
Solidaritätsaktivitäten höre, die in
verschiedenen Orten auf der Welt
stattfinden.
(Übers.: Tina Salhi) |