Brief von Lama
aus Gaza: "Haben die israelischen
Soldaten in ihren Panzern
verschlafen?" -
8. August 2006
"Ich möchte nicht mit dem Flugzeug
fliegen. Flugzeuge zerstören die
Häuser über den Köpfen von Kindern."
Das war die Antwort meines
vierjährigen Sohnes Luai auf die
Überlegung, er könnte während der
Ferien zu seinem Vater nach
Jordanien.
Gewöhnlich sieht
Luai keine Nachrichten, aber an
diesem Tag war er zufällig
unbeaufsichtigt und hat die Szenen
des Massakers in Kana gesehen, die
live in allen arabischen
Fernsehkanälen gesendet wurden. Er
hat den Ansager gehört, der über die
Flugzeuge in Kana berichtete. Adi,
sein Vater, versuchte ihm den
Unterschied zwischen einem
Kriegsflugzeug und einem normalen
Flugzeug zu erklären, in dem er ihre
Geräusche imitierte und die Form der
Flugzeuge darstellte. Es brauchte
eine Menge von Nachahmungen
unterschiedlicher Flugzeuggeräusche,
um ihn zu überzeugen. Er hatte
monatelang mit dem Lärm der Apaches
und F16 in seinen Ohren geschlafen.
Wir wollten dieses Jahr die
Sommerferien mit Reisen zwischen
Nablus, Amman und Damaskus
verbringen, um sowohl Adis als auch
meine Familie zu besuchen. Wir haben
sie seit zwei Jahren nicht gesehen.
Meine Familie ist in Palästina nicht
zugelassen, weil sie
palästinensische Flüchtlinge sind,
die in Syrien leben. Adis Familie
sind Palästinenser, die in der West
Bank leben, einige von ihnen haben
(Personal)Ausweise (identification
cards), aber keine Zulassungen
(permits), um nach Gaza zu kommen,
und einige sind nicht im Besitz von
Ausweisen und ihnen ist verboten,
Nablus zu verlassen. Die Mitglieder
von Adis Familie in Jordanien sind
auch Flüchtlinge und ihnen ist es
nicht erlaubt, nach Palästina zu
kommen. Wegen der Sperre aller
Grenzen haben wir aber unsere Pläne
vom Familientreffen nicht
verwirklichen können.
In der letzten Woche gab es
Gerüchte, dass die Grenze bei Rafah
für Menschen geöffnet wird, die aus
dem Gaza-Streifen ausreisen wollen.
(Der Übergang war länger als einen
Monat geschlossen gewesen; er wurde
nur für einige wenige Tage für jene
Menschen geöffnet, die an der Grenze
festgesessen hatten und um sie nach
Gaza hereinzulassen.) Rafah sollte
für Menschen geöffnet werden, die
ihre Arbeitsplätze außerhalb des
Landes haben oder die StudentInnen
sind, die im Ausland studieren. Mein
Mann und ich haben Personalausweise,
auf denen angegeben ist, dass unser
Wohnsitz in Nablus (im nördlichen
Teil der West Bank) ist, wir aber in
Gaza leben. Wir dachten, dass uns
vielleicht erlaubt wäre auszureisen,
falls wir einen Wohnsitz ausserhalb
des Landes hätten.
Wir begannen damit Flugtickets zu
kaufen und unseren Sohn darauf
vorzubereiten mit seinem Vater
abzureisen. Ich konnte nicht fahren,
weil ich in meiner Arbeit sehr viel
zu tun habe und weil wir keine
Ahnung haben, wann Israel die
Grenzen wieder öffnet und ich es
nicht riskieren kann, meinen Job zu
verlieren. Besonders deshalb, weil
mein Mann keine Anstellung hat, und
zwar deshalb, weil - nach den
demokratischen Wahlen - über das
palästinensische Volk ein Embargo
verhängt wurde. Adi ist Bauingenieur
(civil engineer), der in der
Privatwirtschaft arbeitet. Er ist
seit letztem November arbeitslos und
sollte im Februar mit einem neuen
Projekt beginnen. Allerdings sollte
dieses von USAID [= United States
International Agency for
International Development - eine
US-Regierungsorganisation für
nicht-militärische
Entwicklungszusammenarbeit; Anm. d.
Übers.] finanziert werden, USAID
aber annullierte wegen der
Wahlergebnisse alle seine Projekte
im Gaza-Streifen.
Luai schlief, nachdem er seine
Reisetasche gepackt hatte. Seit ein
paar Nächten hatte er wegen seiner
Albträume nicht mehr geschlafen. Er
hat darauf bestanden, seinen eigenen
Koffer zu haben, weil er ihn selber
schleppen wollte. Wir mussten seinen
Wunsch erfüllen, weil es uns nicht
möglich war, ihn davon zu
überzeugen, dass am Grenzübergang
Rafah eine riesige Menschenmenge
sein würde, die ausreisen wolle und
dass es für seinen Vater schwer sein
würde, zwei Koffer zu tragen.
Mitten in der Nacht erfuhren wir,
dass die Treffen zwischen der
Palästinensischen Autonomiebehörde,
Ägypten, der Europäischen Union und
den Israelis nicht zur Öffnung der
Grenzen geführt hatten. Deshalb
haben wir Luai nicht - wie wir es
ihm versprochen hatten - zeitlich in
der Früh aufgeweckt. Zu der Zeit,
als er dann aufwachte, war ich schon
bei der Arbeit. Er ging seinen Vater
aufwecken und sagte: "Papa, du hast
verschlafen und wir müssen gehen.
Wir müssen nach Rafah gehen." Adi
sagte ihm, dass Rafah noch immer
abgeriegelt sei. "Was glaubst du?
Haben die israelischen Soldaten in
ihren Panzern verschlafen?"
Sowohl Adi als auch Luai weigerten
sich, ihr Gepäck auszupacken, weil
sie hofften, dass Rafah bald wieder
geöffnet würde.
Wir entschieden
uns dafür Erez (Grenze zu Israel),
die andere Grenze zu erkunden, die
die letzten paar Jahre auch fast
durchgehend abgeriegelt gewesen war.
Trotzdem, manchmal, wegen
humanitärer Gründe oder für
internationale Organisationen, ist
es möglich, von der israelischen
Armee eine Genehmigung (Permit) zu
bekommen. Uns, als "West-Banker",
könnte es möglich sein, über Erez
auszureisen. Daher erwirkte Adi mit
Hilfe einer israelischen
Menschenrechtsorganisation und aus
Schulungsgründen ein
vier-Tage-Permit über den
Erez-Übergang in die West Bank
auszureisen. Das erfuhren wir am
Sonntag-Morgen, dem Tag des
Permit-Starts. Ich ging von der
Arbeit nach Hause und begann das
Gepäck für beide - Adi and Luai -,
das wir noch nicht ausgepackt
hatten, umzuordnen. An diesem Tag
hatten wir in der Früh Strom gehabt,
so konnten wir Wäsche waschen.
Nachdem wir wußten, dass Luai und
Adi die Erlaubnis auszureisen
bekommen hatten, mussten wir die
nassen Kleider in die Koffer packen.
Wir überprüften
gemeinsam mit der
Erez-Übergangsstelle, ob es
besondere
Koordinations-Anforderungen für Luai
gäbe, damit er mit seinem Vater
ausreisen könne. Die schockierende
Ablehnung kam telefonisch. "Warum
nimmt ein Mann, der auf Schulung
geht, sein Kind mit?" "Wo, glauben
sie, könnte er das Kind in Gaza
lassen?" "Der andere Elternteil ist
in Gaza. Er soll das Kind bei ihr
lassen." Wir wußten nicht, was wir
Luai sagen sollten. Dass seinem
Vater erlaubt sei auszureisen und
ihm nicht? So hätten wir ihn,
vielleicht zum ersten Mal anlügen
und ihm sagen müssen, dass Erez
wieder abgeriegelt ist. Wir
entscheiden uns dafür, Luai nicht
noch einmal durch das
traumatisierende Erlebnis gehen zu
lassen, dass sein Vater wieder ohne
ihn abreiste. Luai war schon
angekleidet und bereit zu gehen, er
sagte: "Warum verspätet sich Papa?
Ich möchte nach Nablus, damit ich
meine Grossmutter und meine Tante
sehen kann."
Nach ein paar Telefonaten mit der
Palästinensischen Autonomiebehörde
und "versierten" Leuten wurde uns
geraten, nach Erez zu gehen und es
dort bei den Soldaten zu probieren.
Nun gut, es klappte sehr gut. Nach
einer Stunde in Erez, rief Luai an
und sagte zu mir, "Mami, es war
leicht, nicht wie das letzte Mal mit
dir." Damals mussten wir vier
Stunden warten. "Ich bin jetzt im
Auto, auf dem Weg nach Nablus." Ganz
plötzlich hörte ich meinen vier
Jahre alten Sohn wie einen
Erwachsenen reden. Zwei Stunden
später war er im Haus seiner
Grossmutter.
Ich bin sehr froh
darüber, dass sie beide abreisen
konnten. Adi hatte Gaza für etwa
zwei Jahre nicht verlassen und er
brauchte es, seine Familie in Nablus
und Amman wiederzusehen. Für Luai
war es nötig, seine Cousins, Onkel
und Tanten kennenzulernen und dem
anstrengenden Leben zu entkommen,
dass wir in Gaza führen. Nablus ist
nicht viel besser, aber wenigstens
gibt es dort keine ständigen
Bombardements oder Apaches und F16.
Alle fragen mich, wann sie
zurückkommen werden. Wir wissen es
nicht. Es hängt davon ab, wann der
Rafah-Übergang geöffnet wird. Es
könnte Wochen oder Monate dauern ...
niemand weiß das. Ich weiß, dass
Luai und Adi nach Amman gehen und
dort eine Zeit lang bleiben werden
und das gibt mir das Gefühl, dass
sie für den Moment in Sicherheit
sind.
Ich bin froh,
dass sie Glück hatten, ausreisen zu
können, weil es sehr schwierig ist,
Gaza - das grosse Gefängnis - zu
verlassen. Aber gleichzeitig fürchte
ich, dass ich sie vielleicht nie
mehr wiedersehe. Ich bin nicht
sicher. Ich habe es wegen ihrer
Sicherheit und für ihr Glück
dringend gewollt, dass sie abreisen
können. Tatsächlich habe ich
gemischte Gefühle. Ich vermisse sie
und fühl mich alleine. Was ist, wenn
Rafah nicht geöffnet wird?
Lama Hourani
Gaza-Stadt
8. August 2006
l_hourani@yahoo.com
Übersetzt von
Tina Salhi |