Gaza-Ägyptische Grenze nach
wochenlanger Schliessung einen Tag
lang geöffnet
Haaretz
Service und Associated Press -
Letztes Update - 20:06 25/08/2006 -
Zu Mittag haben bereits etwa 1.400
UrlauberInnen die Grenze überquert,
sagte Maria Telleria, eine
Sprecherin der BeobachterInnen. Sie
berichtete, dass ungefähr 15.000
Menschen in Gaza darauf warten, nach
Ägypten auszureisen, unter ihnen
StudentInnen, Geschäftsleute und
solche, die in Kairo medizinische
Behandlung aufsuchen. Einige hundert
Menschen warten darauf, nach Gaza
einzureisen.
Quelle
Lama Hourani:
Sollen wir uns wirklich selbst die
Schuld geben?
Gaza City, 24. August 2006
Mittwoch Nacht
vor zwei Wochen hörten wir die
Neuigkeit: dass es sein könnte, dass
die Grenze Rafah für GazanerInnen
geöffnet wird, um am darauf
folgenden Tag ausreisen zu können.
In dieser Nacht gingen tausende
Menschen nach Rafah und verbrachten
die Nacht am Grenzübergang mit der
Garantie, sie könnten ausreisen,
sobald der Übergang geöffnet
wird. (Das ist schon oftmals
passiert, hat sich aber oft als
blinder Alarm herausgestellt.)
Am
Donnerstagmorgen wurde der
Grenzübergang geöffnet und einige
konnten ausreisen.
Eitimad, eine
meiner Freundinnen, ist Witwe mit
zwei Kindern: ihrer Tochter Nida,
die 19 Jahre alt ist und an einer
Universität in Großbritannien
studiert und ihrem Sohn, Majd, der
sechzehn ist und in diesem Jahr die
höhere Schule abschliesst. Auch
Eitimad beendet ihr Doktoratsstudium
in Großbritannien, aber im Moment
ist sie aus Forschungsgründen in
Gaza. Khaled, ihr Mann, der 2004
verstorben ist, verbrachte 18 Jahre
seines kurzen Lebens in israelischen
Gefängnissen. Die erste Verurteilung
brachte ihn für 13 Jahre hinter
Gitter und nach seiner Freilassung
heiratete er. Als seine Tochter ein
Jahr alt war, erhielt er neuerlich
eine Gefängnisstrafe von einem Jahr.
Als sein Sohn zwei Monate alt war,
mußte er zum dritten Mal ins
Gefängnis und diesmal für vier
Jahre. Eitimad ist
Entwicklungsexpertin, die für
verschiedene
Nichtregierungsorganisationen in
Gaza gearbeitet hat und jetzt die
Direktorin des Instituts für
Entwicklungsstudien (Institute for
Developmental Studies) ist.
Wie die meisten
Menschen in Gaza hatte Eitimad Pläne
für diesen Sommer. Sie hoffte, dass
sie Majd mit der Familie seiner
Tante nach Ägypten gehen lassen
könnte, Nida aus Großbritannien
kommen und sich ihm dort anschließen
würde, damit könnten beide einen
Teil der Sommerferien in Ägypten
verbringen und danach in Gaza mit
ihrer Mutter zusammentreffen. Es war
ihnen möglich, in den Genuß des
ersten Teils der Ferien zu kommen,
aber es war ihnen unmöglich, nach
Gaza zu kommen. Wie hätten sie das
können? Der Grenzübergang war seit
25. Juni geschlossen. Eitimad litt,
weil es ihr weder erlaubt wurde
auszureisen, noch ihren Kindern die
Einreise gestattet wurde. Sie alle
hatten nur eine begrenzte Zeit zur
Verfügung, weil Nida rechtzeitig an
der Universität sein und Majd
pünktlich zum Schulanfang nach Gaza
zurückkehren mußte. Nach zahlreichen
Telefonaten mit den Kindern in
Ägypten und Diskussionen mit
Freunden, entschloss sich Eitimad zu
einer sehr schwierigen Entscheidung.
Sie würde den Kindern erlauben,
allein nach Großbritannien zu gehen.
Nida ist daran gewöhnt, aber Majd
ist immer noch sehr jung und an
einem kritischen Punkt in seinem
Leben. Er muß dieses Jahr den
Abschluß am Gymnasium machen. Er ist
in Großbritannien nicht glücklich.
Nach dem Tod seines Vaters versuchte
er dort ein Jahr mit seiner Mutter
und seiner Schwester zu verbringen,
die beide studierten und konnte die
andersartige Kultur und dass er Gaza
vermisste nicht verkraften. Dennoch
entschieden sie, dass dies die beste
Lösung ist und sie ihre Gefühle
unter Kontrolle bringen könnten.
Eitimad würde sich bemühen, sie so
oft als möglich zu besuchen, sobald
der Grenzübergang offen sei.
Deshalb ist es
verständlich, dass Eitimad unter den
ersten war, die nach Rafah gingen,
als sie hörte, dass Israel damit
einverstanden war, den Grenzübergang
zu öffnen. Weil sie allein ist,
schlief sie nicht dort, als sie aber
dort ankam, fand sie bereits
tausende Menschen vor: Alte, Junge,
Frauen, Männer, Kinder, aus allen
gesellschaftlichen Schichten,
Gebildete, Arbeiter, Soldaten, Arme.
Alle Gruppen der Gesellschaft waren
da. Aber in Rafah waren sie alle
gleich. Jede und jeder wartete
darauf, dass die Grenzen sich
öffnen. Hier war überhaupt keine
Grenze, hier war nur Chaos. Niemand
wusste wohin, wen sie fragen
sollten, welche Prozeduren nötig
waren, wie sie zu den Bussen
gelangen sollten.
Eitimad bemühte
sich, mir zu beschreiben, wie sie
sich gefühlt hatte, aber ich kann
nicht einmal passende Worte dafür
finden. Die schwierigste Sache für
sie waren die Erinnerungen, die mit
Rafah verbunden waren. Es war fast
zur selben Zeit, im August 2004, als
Khaled starb. Zu dieser Zeit waren
sie und Nida in Großbritannien
gewesen. Es war das erste Jahr ihres
Doktoratsstudiums gewesen. Die
Grenze war damals - nach einer
langen Sperre - für ein paar Tage
offen gewesen. Eitimad und ihre
Tochter mußten für zwei Nächte auf
der ägyptischen Seite schlafen, ehe
ihnen die Einreise nach Gaza erlaubt
wurde. So verpasste sie sowohl
seinen toten Körper zu sehen, als
auch die Teilnahme am Begräbnis. Sie
kann dieses Erlebnis und ihre
Gefühle niemals vergessen. "Für Nida
war es sogar noch schwieriger und
das bestimmt ihre Beziehung zu den
Grenzen," sagte sie mir.
Diesmal ist es
auf unserer Seite der Grenze
schlimmer. Niemand kann
irgendjemandem helfen. Es hängt von
deiner physischen Kraft ab, für
einen Platz zu stossen und zu
kämpfen, der so nahe als möglich am
Grenzschranken liegt, der vom
palästinensischen Sicherheitsdienst
geschlossen gehalten wird. Es ist
ein sehr schmaler Bereich, in dem
sich mindestens 3.000 Menschen
versammelten - die Glücklichen, die
den Schranken erreichen konnten.
"Männer, Frauen und Kinder waren
sehr dicht aneinander gedrängt,
manche so sehr, dass die Eltern
gezwungen waren, ihre Kinder hoch in
die Luft zu halten, damit sie atmen
konnten."
Der
palästinensische Sicherheitsdienst
versuchte die Menschen in einer
Warteschlange zu organisieren, aber
viele waren aufgebracht und viele
konnten auch nicht mehr länger
stehen. "Ich werde eine Kalaschnikow
holen. Ich werde nicht nur auf die
Mauern schiessen, sondern auch auf
die Leute," schrie ein zorniger
junger Mann plötzlich. Er hatte
bereits stundenlang gewartet und dem
palästinensischen Sicherheitsdienst
vertraut, aber die sagten, "Wir
können nichts machen, wir können
nicht helfen, das ist nicht unsere
Entscheidung." So begannen die
Menschen alles über Ordnung und
Zivilisation zu vergessen und tobten
und rasten. "Jede und jeder von uns
hat einen guten Grund für die
Ausreise: Schulen, Universitäten,
Arbeit, einen Wohnsitz ausserhalb,
Krankheit etc."
Eitimad ging spät
an diesem Tag, sie erreichte die
Grenze um 13 Uhr, sie hatte gehofft,
dass sich die Menschenmenge
verringert haben könnte und sie
bessere Bedingungen haben würde. Sie
stand da bis 16 Uhr 30, als jemand
über Mikrofon ankündigte, dass die
Grenze geschlossen worden sei. An
diesem Tag stellten viele Leute
fest, dass ihre Familien getrennt
worden waren, einigen war es
möglich, die Grenze zu überqueren,
anderen nicht. "Einige Menschen
entschlossen sich zu bleiben und auf
dem Boden zu schlafen, weil sie ihre
wertvollen Plätze nicht verlieren
wollten. Ich konnte das nicht. Ich
wußte, dass ich nicht stark genug
für so eine Situation war, so
entschied ich mich - anstatt nach
Gaza zurückzukehren - zu Marwa, ins
Haus von Freunden meiner Eltern in
Abasan Village zu gehen, das in der
Nähe der Grenze liegt." Als Eitimad
wußte, dass die Grenze am nächsten
Tag offen sein würde, wollte sie es
noch einmal versuchen und versprach
sich selbst, sie diesmal zu
überqueren.
Am nächsten Tag
ging sie früher, traf um 8 Uhr 30
ein, aber der Platz war schon voller
Menschen. Dieses Mal brachte sie
Marwa mit ihrem Auto hin und
versuchte zu helfen. Sie aber
vergass Marwa und folgte einem
17jährigen jungen Mann. "Ich fühlte,
dass er mir helfen könnte. Es schien
so, als ob er alle Wege kennt, die
es mir ermöglichen könnten
auszureisen. Ich bezahlte ihn sogar,
damit er mir hilft." Er trug ihre
Reisetasche und brachte sie in die
Halle. Es war an diesem Tag
organisierter. Frauen sassen auf der
rechten Seite und Männer auf der
linken. Es war sehr heiß und schwül.
"Nachdem mir der junge Mann meine
Tasche gegeben hatte, verließ er
mich und dann, nach zwei Stunden,
fanden wir heraus, dass dies der
falsche Ort war. Die Menschen
begannen die Halle zu verlassen. Ich
fragte einige wohin wir gehen
sollten, niemand antwortete, deshalb
folgte ich ihnen einfach, ich
schleppte meine Tasche und stieß
jede Person. Plötzlich befand ich
mich ganz in der Nähe des Schranken.
Das ist ein Erfolg, sagte ich zu mir
selber. Es bedeutete, dass ich heute
- mit ein bisschen Stosserei und
Geduld - durchpassieren konnte. Ich
war so froh und dachte, dass ich
hier sogar für sieben Stunden stehen
könnte."
"Alle soziale
Zurückhaltung verschwand. Es war in
Ordnung, wenn die Kopftücher der
Frauen zufällig herunterrutschten
und ihr Haar enthüllten, weil es
hier keine Möglichkeit gab, sie
wieder aufzusetzen und kein Raum
sich zu rühren. Jede Person stieß
und drängte. Es war in Ordnung
zufällig eine Person anderen
Geschlechts zu berühren, ohne jeden
Vorbehalt, weil es keinen Platz gab.
Wir vergassen in diesem Moment alle
unsere Sitten und Traditionen. Der
einzige zentrale Punkt war, den
Schranken zu erreichen und
auszureisen. Es konnte passieren,
dass deine Bluse offen war, aber
niemand würde dich anschauen. Du
könntest einen Mann an einer
sensiblen Stelle berühren, aber
niemand würde das spüren. Niemand
schaute mich - wie sonst üblich -
komisch an." (Eitimad bedeckt ihre
Haare nicht und in der Menge dort
waren sehr wenige Frauen wie sie.)
Sie setzte fort, "Es war sehr heiß.
Gut, es ist immerhin August. Alle
stießen. Plötzlich, zum ersten Mal
in meinem Leben, war ich durstig und
das erschreckte mich. Ich suchte
nach Wasser, aber ich konnte keines
finden. In dieser Minute sah ich
einen alten Mann, der das Bewußtsein
verlor und niederfiel, einen anderen
Mann, einen Vater, der seine kleine
Tochter hielt und sie über den Zaun
auf die andere Seite warf, obwohl
sie dort allein und ohne ihre
Familie verloren sein könnte."
Nach einer Weile
ging der palästinensische
Sicherheitsdienst brutal dazwischen.
Zuerst schossen sie einige Kugeln in
die Luft, um die Menge
auseinanderzutreiben, aber niemand
bewegte sich. "Wie hätten wir uns
bewegen können? Wir waren ganz nah
am Übergang und wir hätten Erfolg
haben und auf die andere Seite
überwechseln können," sagte
Eitimad, deshalb begann der
Sicherheitsdienst die Menge zu
stossen, dabei verwendeten sie
Bambusstecken. Noch immer weigerten
sich die Menschen sich zu bewegen.
"Offen gesagt, ich hatte Angst. Ich
fand einen Platz an der Mauer und es
war relativ ruhig. Ich stand dort
und wartete weitere eineinhalb
Stunden. Wir machten uns alle
Gedanken, ob die Grenze jetzt
geöffnet war oder nicht. Wir hofften
alle auf irgendeine Bestätigung auf
die eine oder andere Art."
Diese
unmenschliche Situation hielt an.
"Ich weiß es nicht. Es gibt etwas
jenseits von Würde und normalem
Denken. Eine Mutter nahm ein
Handtuch aus ihrer Tasche und
bildete ein kleines Zelt, um ihre
Kinder vor der Sonne zu schützen.
Aber genau diesselbe Mutter war es,
die ihre kleine Tochter, die Sand
aß, anschrie: 'Du Idiot, du Tier, du
dummes Kind'. Eine andere Mutter
schrie ihre Tochter vor allen
anderen Leuten an. Die Tochter
begann zu weinen. Es schien so, als
wäre sie dieses Benehmen von ihrer
Mutter nicht gewohnt."
Während der
ganzen, demütigenden Zeit fragte
sich Eitimad: "Soll ich bleiben oder
sollte ich gehen? Kann ich diese
Erniedrigung ertragen? Werde ich
meine Kinder verlieren, wenn ich
jetzt umkehre? Ist es möglich, dass
ich nicht die Absicht habe, nicht
einmal meinen Kindern zuliebe, noch
mehr von diesem Leid zu ertragen?
Ich entschied mich zu bleiben und
ich rauchte, kannst du dir das
vorstellen? Ich zündete mit - vor
aller Augen - eine Zigarette an.
Niemand sah mich, aber selbst wenn,
ich wollte niemanden sehen." (Es ist
in Gaza für Frauen nicht üblich, in
der Öffentlichkeit zu rauchen. Wir
rauchen weder in öffentlichen
Gebäuden noch auf der Strasse.)
"Ich rauchte
meine Zigarette zu Ende und wartete
eine weitere halbe Stunde. Danach
fällte ich eine Entscheidung und
entschloss mich um l3:00 Uhr
umzukehren. Alle waren über meinen
Entschluss überrascht als sie mich
mit meinem Gepäck meinen wertvollen
Platz verlassen sahen. Ich ging,
aber ich wollte nicht nach Hause
gehen. Ich fühlte mich so allein und
beschloss zum Haus der Eltern von
Marwa zu gehen. In dem Augenblick
als Marwa die Tür öffnete, begann
ich zu weinen und weinte weiter,
sogar als ich ihre alten Eltern sah.
Ich konnte nichts dagegen machen.
Ich fühlte mich schuldig. Warum war
ich physisch nicht stark genug um
über den Zaun zu springen wie die
jungen Männer? Aber was sollte ich
tun? Ich dachte, ich würde sterben.
Das war mein Limit!”
Eitimads Kinder
riefen sie an. Sie warteten auf der
anderen Seite der Grenze. Sie waren
sehr zornig und beschuldigten sie,
unfähig zu sein, auch nur
irgendetwas zu tun. "Wir haben die
Leute herauskommen gesehen. Warum
konntest es nicht auch versuchen und
härter stossen, um hinüber zu
kommen? Wir vermissen Dich. Wir
brauchen dich hier. Konntest du
nicht deine Schwäche überwinden und
durch die Menge kommen?" Natürlich
brachte sie das dazu sich noch
schuldiger zu fühlen und sie konnte
darauf nicht antworten, deshalb
legte sie auf und weinte weiter. Sie
war auch nicht fähig etwas zu essen
und das blieb so bis 9 Uhr abends.
Während der ganzen Zeit dachte sie,
"Es wäre möglich, dass ich meine
Kinder lange Zeit nicht sehen kann,
mag sein, dass das sogar ein Jahr
ist. Oder vielleicht habe ich Glück
und ich sehe sie in ein paar Monaten
wieder." Ich rief sie später an,
erklärte ihnen die Situation und
sagte ihnen, dass ich nichts tun
konnte.
Ich sah Eitimad
einige Tage nachdem diese Ereignisse
stattgefunden haben. Es schien so,
als könnte sie die Tatsache
verkraften, dass sie eine Zeitlang
ohne ihre Kinder leben mußte. Einige
ihrer Freunde bewerkstelligten es,
dass sie sie mit Hilfe einer
Videoconferenz-Anlage sehen konnte,
die sehr teuer ist (etwa 60 Dollar
pro Stunde), und sie war sehr
glücklich über so eine Gelegenheit.
Sie empfand, dass ihre Kinder,
besonders Majd, schon sehr früh
unabhängig geworden waren, aber dass
sie sich auf sie verlassen konnte.
Majd versprach seiner Mutter, dass
er in der Schule gut sein und dass
er mit ihr in Verbindung bleiben
werde.
Nun, Dank der
Technologie kann sie ihre Kinder via
Internet sehen. Freilich, wenn ihr
von Israel etwas Elektrizität
gestattet wird.
Ich frage mich,
ob es Eitimads Schuld ist, dass sie
ihre Kinder nicht sehen konnte. Ist
es der Fehler der Palästinensischen
Autonomiebehörde? Oder ist es die
Schuld der Besatzung?
Ist es nicht
offensichtlich, wer für das Chaos an
der Grenze verantwortlich ist? Ist
es nicht die Kontrollmacht Israel,
die die Grenzen öffnen und
schliessen kann, die das Leben von
jeder und jedem PalästinenserIn
kontrolliert, die und der unter
Besatzung zu leben gezwungen ist?
l_hourani@yahoo.com
Übersetzt von
Tina Salhi |