Nachricht von
Lama aus Gaza,
Sonntag, 16. Juli 2006
Eben aus dem
Spital zurück, wurde Marwan (4 Jahre
alt) - in dem Moment als er ihr
Zimmer betrat - von Faten in die
Arme genommen. Nour (2 Jahre alt)
begann laut zu weinen. Alle
vermuteten, Nour sei eifersüchtig,
so ging Faten auch zu ihm, um ihn zu
umarmen. Aber er löste sich von ihr
und ging zu seinem Cousin Marwan,
begann ihn zu umarmen und
wiederholte das Wort "Habibi"
(Liebling) - zum ersten Mal in
seinem Leben - immer und immer
wieder.
Marwan und Nour
leben mit ihren Eltern in
Saudiarabien, wo ihr Vater arbeitet.
Diesen Sommer kamen sie mit ihrer
Mutter Ghada hierher,
weil sie ihre Familie in Gaza
besuchen wollten. Wegen der
momentanen Situation entschlossen
sie sich dazu, im Haus ihrer Tante
und ihres Onkels in der Nähe des
Außenministeriums zu wohnen.
In einem anderen
Teil der Welt, in Saudiarabien, sah
ihr Vater die Nachrichten um 1 Uhr
30 morgens. Plötzlich sah er seine
Schwester und ihre Kinder in einer
Ambulanz und dann im Krankenhaus. Er
schaute weiter, ob er seine Familie,
seine Frau und seine Kinder auch
sehen würde, sah sie aber auf dem
Fernsehschirm nicht. Er sah Marwan
mit seiner Mutter und seiner
Schwester im Krankenhausbett, alle
wurden von Spitalspersonal
behandelt, aber er sah keine Spur
von seinen Kindern. Sein erster
Gedanke war, dass sie tot unter den
Trümmern lägen. Nach einigen
Telefonaten, bei denen er alle
Familienmitglieder in Gaza
aufweckte, erfuhr er, dass sie alle
im Haus eines anderen Bruders und in
Sicherheit waren.
Laila, Fatens
Schwester, die in unserer
Organisation*) angestellt ist,
erzählte uns von dieser Geschichte
am nächsten Morgen als wir uns die
Nachrichten im Fernsehen ansahen und
die gleichen Bilder sahen, die der
Vater in der Nacht davor gesehen
hatte ... Wir alle hatten
Tränen in unseren Augen. Danach
kamen die Nachrichten und die Szenen
aus dem Libanon. Die Zerstörung der
Infrastruktur, die Zerstörung der
Häuser voller Familien, überall
dieselben Szenen, in Gaza, in
Ramallah, in Nablus, in den Dörfern
im Süden des Libanons, in Beirut, in
Saida, in Sour, etc.
Überall derselbe
Aggressor: Israel. Dieselben F16,
dieselben Apaches, dieselben
Kanonen, dieselben SoldatInnen und
immer dieselben Ausreden.
Heute ist der 16.
Juli. Vor 3 Tagen habe ich damit
begonnen,
diese Nachricht zu schreiben, aber
wegen der (mangelnden) Elektrizität
und der Flut von verschiedenen
Nachrichten konnte ich nicht
fortsetzen. Wir haben jetzt die
Nachrichten fast 24 Stunden
lang verfolgt,
seltener im Fernsehen, hauptsächlich
im Radio. Die israelische Aggression
geht weiter und gleichzeitig gehen
die Beschwerden, die Israel äußert,
auch weiter.
Israel fängt
damit an,
die Infrastruktur seiner Nachbarn zu
zerschlagen, zielt auf
ZivilistInnen, die sich selbst
verteidigen müssen und
zurückschlagen. Israel, Eigentümer
der viertstärksten Armee der Welt,
Besitzer von Atombomben,
Besatzungsmacht der Länder von
Libanon, Syrien und Palästina, mit
tausenden palästinensischen und
arabischen Gefangenen in ihren
Gefängnissen, Inhaber der
palästinensischen ZivilistInnen als
Geiseln in den besetzten Gebieten,
muss sich selbst verteidigen????
Das ist wirklich
eine seltsame Welt. All diese
Regierungen der angeblich
demokratischen Welt verurteilen, ja
verdammen,
die Entführung eines regulären
Soldaten der Armee, aber keines
dieser demokratischen Staaten steht
aufrecht gegen die Brutalität und
Aggression des israelischen
Staatsterrorismus gegen die
Zivilbevölkerung.
Zahllose
Resolutionen der Vereinten Nationen
haben die Rechte von
PalästinenserInnen, LibanesInnen und
SyrerInnen garantiert, ihr besetztes
Land wiederzubekommen ebenso wie das
Recht der PalästinenserInnen, ihren
Staat auf jenem Land zu errichten,
das 1967 besetzt worden ist,
aber Israel hört nicht. Im
Gegenteil, Israel errichtet eine
Apartheid-Mauer in der West Bank,
die einen zukünftigen
palästinensischen Staat zerstört und
die Grundlage für Israels
endgültige, illegale Grenzen
bildet. Die demokratische Welt klagt
immer noch uns - die Opfer - an,
TerroristInnen zu sein und verlangt
von uns, das Recht Israels, jede und
jeden von uns zu töten,
anzuerkennen, wenn Israel als
Rechtfertigung Selbstverteidigung
nennt.
Weitere
Nachrichten kommen. In Beit Hanoun,
einer Stadt im Norden des
Gaza-Streifens, umzingelt die
israelische Armee vier Familien
(jede der Familien hat mindestens 15
Mitglieder) und verlangt von ihnen,
sie sollten ihre Häuser verlassen,
weil sie sie zerstören wollen. Die
Familien haben sich geweigert, ihre
Häuser zu verlassen, nun wurde ihnen
eine halbe Stunde Zeit gegeben,
danach will die Armee die Häuser
mitsamt den in ihnen befindlichen
Menschen zerstören.
Die
Besatzungsarmee, gemeint ist noch
immer dieselbe Stadt (Beit Hanoun),
ist dabei die Zäune um Schulen der
Regierung niederzureissen. Die
Besatzungsarmee nimmt ein
fünfstöckiges Gebäude in Besitz, in
dem sich ein Kindergarten, eine
Bibliothek, ein Frauenzentrum und
die Verwaltung der Gewerkschaft der
weiblichen Arbeitskräfte des
Kindergartens befindet.
Während ich das
schreibe, kommen noch weitere
Nachrichten. Ein Freund hat mich
aufgefordert über unser Leiden in
Gaza zu schreiben. Eine israelische
und eine libanesische Frau werden
auch schreiben und diese Berichte
werden in Frankreich veröffentlicht
werden. Ich überlege mir, was
geschrieben werden wird? Ich weiß,
dass das Leiden von ZivilistInnen,
die unter solchen Umständen zu leben
gezwungen sind, überall das gleiche
ist. Ich weiß, dass Mütter,
gleichgültig welcher Nationalität,
welcher Religion, Ähnliches für den
Verlust eines Kindes leiden. Ich
weiß, dass der Blick eines Kindes,
das dem Krieg ausgesetzt ist, der
gleiche ist. Bitte gebt uns eine
Chance, als Frauen, als Mütter, als
menschliche Wesen, unsere Kinder in
Frieden und in einer Atmosphäre von
Liebe aufziehen zu können anstatt in
einer voll Angst und Hass.
Die Menschen, die
in der "ersten", demokratischen Welt
leben, können kaum nachempfinden,
was wir in der Region durchmachen,
besonders jetzt, in der Zeit der
Sommerferien. Trotzdem ersuchen wir
um eure Unterstützung, ersuchen wir
euch Druck auf eure Regierungen
auszuüben, den Wahnsinn der
israelischen Regierung und seiner
Armee zu beenden, der die gesamte
Region vernichten will.
Ich glaube an
eine friedliche Lösung des
Konfliktes
in der Region, die auf
internationalem Recht und den
UN-Resolutionen basiert. Aber wo
sind die Vereinten Nationen? Sie
verteidigen den Aggressor, oder?
Ich habe nichts
mehr hinzuzufügen. In mir ist
grosser Zorn, wie bei jeder und
jedem in dieser Region. Ich möchte
schreien, ich möchte allen Menschen
auf dieser Welt zuschreien, jenen
die an Gott glauben oder an
verschiedene Götter oder jene, die
nicht glauben. Wir alle glauben doch
an das Menschenrecht in Würde und
Sicherheit zu leben. Es ist ein
Aufschrei, sich für die Menschen in
Bewegung zu setzen, gegen die
Brutalität Israels zu protestieren,
Israel dazu zu zwingen, seinen
Wahnsinn und seine Verbrechen zu
stoppen.
____________
*)
Gesellschaft für
die Entwicklung der arbeitenden
Frauen Palästinas (Palestinian
Working Women Society for
Development - PWSSD)
siehe auch
"Bericht von Lama Al Hourani aus
Gaza, 4. und 6. Juli 2006"
Übers.: Tina Salhi
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