An den
Bundesinnenminister der BRD
Herrn Dr. Otto Schily
Berlin
26789 Leer, den 8. Juli 2005
Waldkur41
Sehr geehrter Herr Dr. Schily!
Anlässlich des Jahrestages am 9.Juli
2005, als der Internationale Gerichtshof in Den Haag das
„Rechtsgutachten zu den rechtlichen Konsequenzen des Mauerbaues“ in den
von Israel besetzten Gebieten gab und dieses bald danach durch die
UN-Resolution (ES-10/15) ratifiziert wurde, möchte ich Ihnen schreiben
und mein Entsetzen darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie
vor kurzem gegenüber dem israelischen Präsidenten Moshe Katzav von den
uns verbindenden „gleichen Werten“ gesprochen haben, die das Handeln der
deutschen und der israelischen Regierung bestimmen.
Ich frage mich, welche Werte meinen
Sie? Der aus der Thora stammende Dekalog, der auch Grundlage für die
„Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ist?
Genau diese Werte sind die Grundlage
des Handelns israelischer Friedens- und Menschenrechtsgruppen, mit
denen ich eng zusammenarbeite. (Ich bin Mitglied von Gush Shalom.)
Aber beim besten Willen kann ich
diese Werte nicht beim Handeln und Reden der israelischen
Regierung finden. Sie tritt die Menschenrechte der Palästinenser täglich
zigfach mit Füßen, die Gebote „Du sollst nicht töten, nicht stehlen,
nicht lügen!“ sind anscheinend total vergessen worden.
Ich möchte diese meine Behauptung
und Befürchtung vor allem an 2 Beispielen deutlich machen:
-
Die Mauer, die, wenn sie - wie geplant – fertig gebaut ist, ca 700 km
nicht auf der Grünen Linie, der Grenze von 1948, sondern mehr
oder weniger mitten durch palästinensisches Land geht und die zu
Recht von Menschenrechtlern „Apartheid- bzw. Annexionsmauer“ genannt
wird. Sie trennt nicht nur die jüdisch-israelische Bevölkerung
von den Palästinensern, sondern trennt die Palästinenser von großen
Teilen ihres Landes und ihrer Lebensgrundlage, viele auch von
ihren Familien, Schulen, Krankenhäusern, Arbeitsplätzen, Friedhöfen,
Einkaufszentren. etc. und nimmt ihnen jede Bewegungsfreiheit.
Eine Reihe Dörfer und Städte (z.B. Qalqilia, Bethlehem) sind
fast rund herum von dieser Mauer/ bzw. dem Zaun umgeben, so dass sie
von der Bevölkerung zusammen mit den Kontrollpunkten,
Straßensperren, sog. Umgehungsstraßen ( nur für Siedler !!) nur noch
als Gefängnis empfunden wird und das Leben der Menschen immer
unerträglicher macht. Immer mehr Menschen verlassen das Land – genau
das ist die Absicht der Regierung. Sie nennt es „human transfer“ .
„Ethnische Säuberung“ oder „Politizid“ aber nennen es u.a.
Prof. T. Reinhart und Prof. Kimmerling (Tel Aviv)
Bis vor kurzem
hieß es, die Mauer sei nur aus Sicherheitsgründen und für
„vorübergehend“ gebaut worden – am 4.u.5.7.05 konnte man in der isr.
Zeitung Haaretz lesen, dass sie dort bleibt, wo sie steht und dass es
auch „politische Gründe“ für sie gibt. Auf dem durch die Mauer
abgeschnittenen gestohlenen Land werden bereits neue Siedlungen
gebaut oder ausgebaut. Für einen nach der Road Map geplanten
palästinensischen Staat bleibt dann kaum noch die Hälfte der 22%
Restpalästinas der 1967 von Israel eroberten Gebieten (Westbank und
Gaza) übrig.
-
Vor kurzem wurde
den palästinensischen Bewohnern eines Stadtteils von Ost-Jerusalem,
von Silvan/Al Bustan, mitgeteilt, dass 88 dieser Häuser
nächstens abgerissen werden sollen. Damit würden über 1000 Menschen
obdachlos und sie erhalten keine Kompensation ( wie die bald
evakuierten Siedler im Gazastreifen). Die Häuser in Silwan
seien illegal gebaut worden (Inzwischen wurden nach B’tselem
seit 2000 über 6000 (!!) Häuser in den besetzten Gebieten
zerstört). In Silwan solle ein archäologischer Park entstehen; denn
hier sei das ursprüngliche Jerusalem von König David gewesen.
Israelische Menschenrechtler sagen aber klar, dass es auch
hier um eine „ethnische Säuberung“ und um die Judaisierung
Jerusalems geht. Sie sprechen sich aktiv dagegen aus und
protestieren dagegen. ( Ta’ajush und ICAHD.)
-
Und nur in
Stichworten: ungerechte Wasserverteilung ( 7 :1), die seit September
2000 ca. 4050 getöteten Palästinenser, fast alles Zivilisten, 44 800
Verletzte, die über 8000 Gefangenen in Israels Gefängnissen, in
denen gefoltert wird, die über 1 Million zerstörter Ölbäume, die 700
Straßensperren und über 200 Kontrollpunkte, wo täglich schikaniert
und gedemütigt wird, die Gewalt des Militärs gegen gewaltfreie
Demonstrationen , die Gewalt der Siedler ( s. letzte Woche – aber im
Grunde seit Jahren) ...
Die (ca 1000) „israelischen Opfer
sind eine Folge der Politik meiner Regierung“ – sagte Nurit
Elhanan, israelische Mutter eines Terroropfers. Die israelische Politik
zerstört durch die Besatzung ihre eigene Gesellschaft, sagen inzwischen
immer mehr Israelis mit großer Sorge.
Auch wenn Israel ein Recht auf Sicherheit hat – so hat
es doch kein Raubrecht.
Als
Deutsche ist mir unsere obszöne Geschichte gegenüber dem jüdischen
Volk sehr bewusst. Und es stimmt, dass wir deshalb eine besondere
Beziehung und Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk haben - doch
nicht nur gegenüber diesem. Denn eines ist mir auch klar, diese
Geschichte hat ihre Fortsetzung im Nahostkonflikt: das sekundäre Opfer
dieser Geschichte ist das palästinensische Volk – und wir, bes.
die deutschen Politiker, entlasten unsere Geschichte auf dem Rücken
dieses Volkes, das nichts mit dem Holocaust in Europa zu tun hat. Das
ist nicht in Ordnung.
Es ist auch nicht in Ordnung, dass Leute - Wissenschaftler,
Journalisten, Politiker u.a.- die sich in dieser Richtung und kritisch
gegenüber der israelischen Regierungspolitik auf Grund vieler juristisch
belegter, z.T. selbst vor Ort erfahrener Fakten aussprechen, als
Antisemiten abgestempelt werden. Es ist nicht in Ordnung, dass z.B. Dr.
Ludwig Watzal (Bundeszentrale für politische Bildung) oder Dr.
Jäger von fragwürdigen, an Antisemitismus-Obsession
leidenden Gruppierungen („Honestly concerned“ und Ähnliche) angegriffen
und diffamiert werden und womöglich beruflich kalt gestellt werden
sollen. Dr. Watzal ist ein seriöser, integrer Wissenschaftler, dessen
Verlautbarungen über den Nahostkonflikt in den Medien, in Aufsätzen, bei
Vorträgen und in Büchern fast 100%ig stimmen, weil sie auf ernsthaften
Recherchen beruhen. Und sollte Herrn Dr. Watzal einmal ein Fauxpas
oder Irrtum passiert sein, so sollte man ihm dies nicht gleich groß
ankreiden; denn „Nobody is perfect“.. Seit wann werden bei uns
Leute, die versuchen, möglichst realitätsnah und wahrheitsgetreu
zu berichten, zu dokumentieren und zu kommentieren, verfolgt und
bestraft? Wir leben doch in einer Demokratie und nicht
in einer Bananenrepublik.
Ich kann
mir dieses Urteil erlauben, weil ich mich seit 40 Jahren mit
diesem Thema in Israel und Palästina vor Ort und mit aller
einschlägigen, seriösen Fachliteratur befasst habe, täglich die Mails
von Friedensgruppen und Menschenrechtlern erhalte und oft mit der Bitte,
ihre Berichte zu übersetzen; ja, ich bin mit vielen Israelis aus dem
Friedenslager freundschaftlich verbunden. Außerdem habe ich selbst zwei
Bücher über den Nahostkonflikt geschrieben. ( s. auch
www.uri-avnery.de)
Sehr
geehrter Herr Dr. Schily, ich bitte Sie, nicht dem Druck
fragwürdiger, ideologisierter, fanatischer Leute ( zum Teil aus
fundamentalistisch-christlichen Kreisen) nachzugeben, sondern zu
beweisen, dass unsere Regierung tatsächlich noch ihr Handeln und Reden
nach den alten jüdisch-christlichen Werten richtet – und sich nicht den
„Werten“ israelischer ( und leider auch amerikanischer)
Regierungspolitik von heute angleicht oder beugt.
Es wäre
nicht nur lobenswert, sondern entspräche verantwortungsvollem
Handeln , wenn Sie bei der israelischen Regierung ein Wort gegen
die Zerstörung der 88 Häuser in Silwan einlegen und an das
Rechtsgutachten des ICJ, die Mauer betreffend, erinnern würden: sie ist
illegal und widerspricht allen Menschenrechten. Helfen Sie
mit zu einer möglichst gerechten Lösung des Nahostkonfliktes
- dann würde dem Antisemitismus und dem Terrorismus der größte
Teil des Bodens entzogen werden und weder Sie noch andere müssten
Anti-Antisemitismus- und Anti-Terrorismuskampagnen starten.
Mit
freundlichen Grüßen!
Ellen
Rohlfs
Trägerin
des Bundesverdienstkreuzes ( 13.9. 1993) |