Wie ein junger
Israeli zum Militärdienst-Verweigerer wird - von Daniel Tsal
01.04.2004
Brief an den Verteidigungsminister Shaul Mofaz von
Daniel Tsal ID 7- .....
Ich bitte, aus Gewissensgründen vom Pflichtdienst in der
israelischen Verteidigungsarmee befreit zu werden aus. Erlauben Sie
mir deshalb, einen alternativen Dienst - einen Ersatzdienst -
außerhalb der Armee abzuleisten. Wenn es nicht möglich ist, mit mir
eine Ausnahme zu machen, bin ich gezwungen, den Dienst zu
verweigern. Ich habe diese Entscheidung im Laufe des letzten Jahres
nach langer Zögerung getroffen mit der wachsenden Erkenntnis, dass
keine Entscheidung perfekt ist und nur so gut wie möglich angesichts
der komplizierten augenblicklichen Situation in unserem Lande.
Eingehende Studien über das, was geschehen ist und noch in unserer
Region geschieht, brachten mich dahin, den Schritt der Verweigerung
als legitim und sogar nötig zu betrachten. Es ist kein Akt von
Subversion gegen die wahren Fundamente der Demokratie. Die
Prinzipien der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ sind
bedeutungslos geworden, nachdem man die Rechte von über drei
Millionen Menschen mit Füßen tritt, indirekt auch durch die
fortdauernde Zerstörung der Grundfesten, auf denen der Staat Israel
angeblich gegründet wurde.
Als ich vor zwei Jahren den 1. Einberufungsbefehl erhielt, war es
ganz klar für mich, dass ich beim IDF dienen würde. Auch wenn ich
deutlich viel Kritik gegenüber dem militärischen System hatte,
dachte ich nicht daran zu verweigern oder mich (vor dem Dienst) zu
drücken. In meinem Elternhaus wurde ich mit Werten der Gleichheit
und Toleranz erzogen. Die Wichtigkeit, den anderen zu akzeptieren,
wurde mir fest eingeprägt. Aber da ich bis vor einem Jahr keine
wirkliche Vorstellung vom Wesen der Besatzung hatte, von ihrer Härte
und ihrem Einfluss auf die beiden betroffenen Völker, konnte ich das
militärische System nicht als etwas sehen, das direkt mit den Werten
kollidiert, die mich meine Eltern lehrten. Als ich noch das
Gymnasium besuchte, sah ich Muhammads Bachris Film „Jenin, Jenin“.
Dieser Film hat mich tief bewegt. Er hat mich erschreckt, weil ich
verstand, was die israelische Besatzung ausmacht, und was sie
bedeutet. Doch immer noch glaubte ich, dass ich dem Einzugsbefehl
nachkommen würde. Seitdem las ich sehr viel über das Problem,
besuchte die besetzten Gebiete viele Male, nahm an freiwilligen
Einsätzen von Chalonot teil – einer Organisation, in der israelische
und palästinensische Jugendliche zusammenarbeiten und humanitäre
Arbeit in den besetzten Gebieten tun. Ich beteiligte mich auch an
einigen Ta’ayusch Aktivitäten und war Zeuge bei der Arbeit meiner
Mutter beim Checkpoint-Watch. Während ich die tägliche Routine der
Besatzung beobachtete, wurde mir klar , dass ich nicht in einem
zivilisierten Lande lebe, das einen legitimen Krieg gegen einen
Feind ausführt, sondern in einem Land, das seine Bevölkerung
ethnisch trennt, so dass die einen sich aller Grundrechte erfreuen,
während die anderen der meisten fundamentalen Rechte beraubt werden.
In gewisser Hinsicht machte mir der Besuch des „gut
funktionierenden“ Checkpoints mehr zu schaffen als der des
„problematischen“, wo IDF-Soldaten sich gewalttätiger als gewöhnlich
benehmen, wo Menschenrechtsaktivisten sich sofort einschalten. Als
ich einen jugendlichen Soldaten, der eben erst sein Abitur hinter
sich gebracht hat, beobachtete, wie er mit herablassender Mimik den
nächsten herbeiwinkt und ihm zu verstehen gibt, seine Tasche zu
öffnen, verstand ich die unhörbare Wahrheit, die Wahrheit der
Besatzung: Neunzehnjährige beherrschen eine ganze Bevölkerung,
Männer, Frauen und Kinder. Die Verbrechen, von denen man zuweilen
hört, dass ein Soldat in dieser oder jener Weise handelt, sind
nichts als die unvermeidliche Konsequenz der Besatzung. Das
schlimmste Verbrechen im Lande ist heute die Beherrschung und
Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch das israelische
Volk. Wenn ein 18 Jahre alter Soldat nach Gutdünken entscheidet, wie
und wann er jemanden kontrolliert, wenn dieser 18 Jährige seine
Waffe gegen eine hilflose Bevölkerung richtet – so ist es dies, was
ein wirkliches Verbrechen ausmacht, ein Verbrechen, das vom Staat
aus begangen wird – und gegen genau dieses protestiere ich. Ein
Erlebnis, das mir einen tieferen Einblick in die Überheblichkeit und
den Rassismus gab, die unser Handeln bestimmen, war ein Gespräch,
das ich mit einem Soldaten am Checkpoint in Kalkilia hatte. Anders
als die anderen schien er menschlich und nicht so aggressiv zu sein.
Ich war neugierig, seine Meinung zu hören. Er sagte, dass er an
diesem Checkpoint sei, damit die „Dinge hier in humanerer Weise
geschehen“. Er sagte, dass ihn die Gründe nicht interessieren,
weshalb der Staat ihn an diesen Checkpoint postiert habe, und dass
er der palästinensischen Bevölkerung mit großem Respekt begegne.
Dann fügte er noch einen Satz hinzu, der mich schockierte: Wenn er
respektvoll mit einem palästinensischen Vater spräche, dann würden
die Kinder lernen, ihn zu achten. In andern Worten: die
palästinensischen Kinder benötigen einen IDF-Soldaten, der ihnen
beibringt, wie man seine Eltern mit Respekt behandelt.
Es gibt aber – unter keinen Umständen und in keinem Fall - eine
Rechtfertigung, dass ein Volk über das andere herrscht, also für
eine Besatzung. In einer Zeit wie der unsrigen wird ein vernünftiger
Mensch sich gegen das System, das eine andauernde Besatzung möglich
macht, erheben. Ich habe eine moralische Verpflichtung – nicht die
Wahl, sondern die Verpflichtung, die Teilnahme an der Besatzung zu
verweigern und gegen die Institutionen zu kämpfen, die solche
Grundrechte der Menschen missachten. Jeder normale Mensch, der noch
nicht ganz von Furcht und Rassismus bestimmt wird, muss sich kraft
seiner Menschlichkeit weigern, ein Teil eines Besatzungs- und
Unterdrückungssystem wie die IDF zu werden. Es ist mir egal, was die
Palästinenser glauben, ich sorge mich nicht darum, wen sie
unterstützen, es ist mir egal, wie weit sie die Menschenrechte
achten – ich habe nicht das Recht, sie zu kontrollieren, und es ist
mir nicht erlaubt, sie zu unterdrücken. Ich denke, es macht uns
nicht viel aus, die Araber leiden zu sehen. Wirklich nichts ist
leichter als das. Ich denke, dass es dieselben Gründe sind, dieselbe
Engstirnigkeit und der Hass, mit dem ich durch die Medien gefüttert
wurde (Gehirnwäsche !), die auch für lange Zeit - für zu lange Zeit
– bewirkte, nicht die Zusammenhänge zwischen Besatzung und Israel zu
sehen. Ich verstand die Schwere der Handlungen nicht, die mein Land
gegenüber dem palästinensischen Volk verübt. Ich verstand nicht,
dass die Mehrheit des palästinensischen Volkes nur ein Leben
zwischen Checkpoints, Bulldozers, dem Zerstören von Bäumen, der
Demütigung und dem Töten kennt. Erst als ich die Checkpoints und die
besetzten Gebiete besuchte, verstand ich, dass sie einfach
menschliche Wesen sind, genau wie ich. Ja, selbst ich, der darin
erzogen wurde, dass alle Menschen gleich sind, und ich von meinen
Eltern erzählt bekam, dass „nicht alle Araber Terroristen seien“,
habe dies nicht wirklich verstanden. Erst als ich in die besetzten
Gebiete ging und sah, was dort geschieht, begriff ich. Ich bin davon
überzeugt, wenn mehr israelische Jungen und Mädchen vor dem
Militärdienst in die palästinensischen Dörfer unter israelischer
Besatzung gingen, dann würde die Zahl der Militärdienstverweigerer
zunehmen. Viel mehr Leute würden erkennen, wie einseitig ihre
Erziehung durch die Schule und die Medien gewesen ist. Viel weniger
Leute würden den Militärdienst als eine selbstverständliche Pflicht
nehmen und würden vielleicht sehen, dass diese Armee keine
„Verteidigungsarmee“ mehr ist, sondern eine Besatzungsmacht. Im
Laufe von 37 Jahren Besatzung sind wir immer gewalttätiger,
hochmütiger und rassistischer gegenüber der arabischen Kultur
geworden. Vor ein paar Monaten hörte ich Irit Linur im Radio zu. Sie
war im Gespräch mit Rogel Alpers TV- Kritik in Haaretz. Alper sagte,
dass ausländische Sender wie CCN oder BBC arabische Namen verkehrt
aussprechen. Er behauptet, dass dies das Ergebnis einer gönnerhaften
Haltung gegenüber der arabischen Kultur sei. Irit fragte: gegenüber
welcher Kultur genau? Nach ihr ist die arabische Kultur nicht nur
minderwertiger im Vergleich zur westlichen Kultur – sie ist einfach
nicht existent. Traurigerweise scheint mir Limurs Meinung das zu
reflektieren, was viele im Stillen denken, aber nicht auszusprechen
wagen. ... Als ich das erste Mal bei einer Fahrt zu zwei Dörfern die
besetzten Gebiete besuchte, wurden wir mit großer Freude empfangen,
wie eine Art Botschafter. Die Atmosphäre war gut und die Bevölkerung
behandelte uns herzlich. Schulkinder machten extra für uns eine
Schau. Eine Familie gab uns ein warmes Mittagessen, sie stellten uns
Wagen zur Verfügung und fuhren uns herum. Der ganze Besuch verlief
ohne Zwischenfälle. Noch immer war ich ängstlich. Ich hatte ein
seltsames Gefühl, als ich die palästinensische Flagge dort flattern
sah. Die arabischen Gesichter flößten mir Angst ein. Ich brauchte
fast zwei Stunden, bis ich mich entspannen und ungehemmt mit der
einheimischen Bevölkerung reden konnte. Ich erinnere mich sehr gut,
wie mich einer der Jungen umarmte, nachdem wir uns kennen gelernt
hatten, und wie er mir etwas zeigen wollte. Ich weigerte mich, mit
ihm zu kommen. Ich weigerte mich höflich, aber ich weigerte mich.
Ich hatte Angst. Ich vermute, dass ein Teil der Angst mit dem Schock
verbunden war, den ich empfand, als ich die Zerstörung und das
Leiden sah, das sie (die Pal.) dort durchmachen. Aber hauptsächlich
war es die Angst vor dem Unterschied. Trotz der (besonderen)
Erziehung durch meine Eltern, trotz der Werte, an denen ich
festhielt und die ich praktizierte, hat mich diese gefährliche
Krankheit gepackt. Ich denke, um diese Krankheit kommt man nicht
herum: sie kommt zu uns durch die Medien, durch die Schulerziehung,
die israelische Umwelt und den schweren Schatten, den Generationen
israelischer Regierungen auf uns geworfen haben und die uns so mit
diesem schrecklichen Rassismus erfüllt haben. Wir sind alle von
dieser Krankheit betroffen, die uns angesichts der Besatzung
erlaubt, teilnahmslos zu bleiben. Viele nehmen Terrorangriffe als
Vorwand für die Besatzung – als ob jeder Palästinenser ein Terrorist
wäre und wir gezwungen wären, mit den kollektiven Strafen um der
Sicherheit Israels willen fortzufahren. Ich glaube nicht, dass es
für meinen Kommentar nötig ist, wie die Sicherheit-, die sozialen
und wirtschaftlichen Bedingungen im Land untergraben werden und wie
die Besatzung eine der zentralen Faktoren in diesem Prozess des
Rückgangs ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen, dass jedes
Land alle Arten von Organisationen hat, einige moderat, andere
radikal. Die palästinensischen Terrororganisationen könnten mit den
israelischen Siedlern verglichen werden oder mit der Kahane oder
Herut-Bewegung. In zivilisierten Ländern haben die moderaten
Organisationen die Unterstützung der Mehrheit. Es ist aber
wahrscheinlich, dass in einem unter Besatzung lebenden Volk die
radikalen Organisationen stärker werden. Es ist wie unter anderen
Völkern, dass es auch unter den Palästinensern radikale
Organisationen gibt. Die Frage ist nicht, warum sie existieren,
sondern wie sie zu solcher Macht kommen. Mir scheint es, dass dies
die Folge einer Situation ist, in der eine Bevölkerung unter einer
Besatzung leidet. Viele der Leute, die die täglichen Demütigungen
durchmachen werden frustriert und dann gewalttätig oder unterstützen
dies wenigstens. Ganz offensichtlich wird bei solch einer Lage der
Dinge die Unterstützung für Frieden und der Widerstand gegen Krieg
schwinden. Wenn ein junger Mensch in meinem Alter – oder jünger -
bereit ist, einen Sprengstoffgürtel umzumachen und Selbstmord zu
begehen und dabei andere, unschuldige Leute zu töten, muss ich mich
fragen: warum? Warum will er mich, einen Israeli, töten - warum ist
er bereit Selbstmord zu begehen; denn dieser junge Mensch hätte noch
ein ganzes Leben vor sich. Ich kann nach vorne schauen, ich werde
reisen, mich verlieben, lernen und studieren können – aber dieser
junge Mann ist ohne Hoffnung. Er weiß, wie sein zukünftiges Leben
aussieht - ein tägliches Leben voller Leiden. Ein Leben unter
Besatzung. Ich will in keiner Weise solche Aktionen gut heißen, ich
möchte sie auch nicht rechtfertigen. Was ich allerdings fordere, ist
ein Nachdenken angesichts gerade dieses Vorkommens, darüber, wie sie
möglich werden, um die Ursprünge des großen Hasses der
palästinensischen Bevölkerung gegen uns zu ergründen. […] Während
des letzten Sommers besuchte ich mit der Chalonot-Organisation zwei
palästinensische Dörfer. Häuser waren zerstört; Kinder spielten mit
den Trümmern ihres von IDF-Bulldozern platt gewalzten Hauses. [...]
Wir brachten nötige Einrichtungsgegenstände mit und wollten unser
Beileid aussprechen; denn im ersten Dorf waren aus
ungerechtfertigten Gründen fünf Leute erschossen worden, unter ihnen
ein 13 jähriger Junge und eine Mutter von 7 Mädchen. Als wir einem
der Häuser empfangen wurden, hörte ich plötzlich Schreie von
draußen. Ich verstand nicht, was vor sich ging. Ich schaute aus dem
Fenster und sah, wie die Kinder schnell in Deckung gingen, über
Zäune und Dächer kletterten. Zunächst konnte ich nicht verstehen,
warum. Doch dann sah ich einen IDF-Jeep um die Ecke kommen. Es gab
keine Schüsse vom Jeep, die Soldaten gaben auch keine Befehle, in
die Häuser zu gehen – für diese Kinder war allein der Jeep der
Feind, der Besatzer, der nach Belieben tun konnte, was er wollte.
Diese nur durch das Erscheinen eines Jeeps verursachte Angst, machte
mir die tägliche Realität deutlich, in der das palästinensische Volk
heute lebt. Ich nehme an, dass palästinensisches Blutvergießen für
den Staat Israel nie dieselbe Bedeutung hatte wie israelisches
Blutvergießen. Im Augenblick jedenfalls hat das Leben der
Palästinenser gar keinen Wert. Nicht für die Regierung, nicht für
die Soldaten, auch nicht für den größten Teil der israelischen
Öffentlichkeit. Das palästinensische Leben hat absolut keinen Wert.
[...] Jahrelang war es für mich keine Frage, in der IDF zu dienen...
Aber nun weiß ich, dass Israels Regierung undemokratisch und
unmoralisch handelt – deshalb ich bin nicht in der Lage, mich an
diesem System zu beteiligen, das der Unterdrückung eines anderen
Volkes dient. Die moralische Verpflichtung, mich an der Teilnahme
solcher Verbrechen zu weigern, ist größer, als die Verpflichtung,
als Bürger in der Armee zu dienen. Als jemand, der sich an die
Gesetze hält, fühle ich mich verpflichtet, den Werten, mit denen ich
erzogen wurde - den Werten der Demokratie - gegenüber den Werten der
augenblicklichen Regierung Priorität einzuräumen. Ich bin sogar
verpflichtet, nachzuprüfen, ob die Werte, die mir mittels der
Schulbücher nahe gebracht wurden, mit der Realität, in der wir
leben, übereinstimmen.
Natürlich habe ich nie daran gezweifelt, dass ich durch meine
Weigerung, dem militärischen System zu dienen, keine Verantwortung
für das habe, was hier geschieht und dass ich schuldlos bin. Aber
die IDF ist der Apparat der Regierung, um die oben genannten
Verbrechen zu begehen und diese unerträgliche Besatzung
fortzusetzen. Und nun werde ich aufgerufen, mich an diesem System zu
beteiligen. Für mich trägt jede militärische Rolle - ob beim Dienst
an den Checkpoints oder in einem Militärbüro in Tel Aviv – Mitschuld
an dem Verbrechen, das hier begangen wird.
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