"Our lives begin to
end the day we become silent about things
that matter."
Martin
Luther King
26. August 2007
Liebe LeserInnen der Israel+Palästina-Info,
am vergangenen Mittwoch bin ich von meinem
3-wöchigen „Urlaub“ in Bethlehem mit
Besuchen in Jenin und Nablus zurückgekehrt.
Vieles von dem, was Sie wöchentlich in
dieser Info lesen, hat wieder einmal seine
Bestätigung gefunden. In der Realität aber
ist es oft noch schlimmer, weil sich das
Gesehene nicht mit Worten beschreiben lässt.
Augenzeuge zu sein ist etwas anderes als
Berichte zu lesen oder Videofilme zum selben
Ereignis anzuschauen. So möchte ich an
dieser Stelle „nur“ ein paar persönliche
Erfahrungen weitergeben, die mir wichtig
sind.
An den letzten drei Freitagen habe ich an
den Freitagsdemonstrationen gegen den
israelischen Landraub und Mauerbau in Artas,
Um Salomona und vor allem in Al Waljeh
teilgenommen. Dies sind Dörfer in der
südlichen Umgebung von Bethlehem, wo derzeit
hunderte von ha palästinensischen Landes von
Israel annektiert, auf den Hügeln oben mit
Siedlungen bebaut und zum Teil mit der
monströsen Mauer von Palästina abgetrennt
werden. Es ist unglaublich, nicht
vorstellbar, was da passiert unter den Augen
der Weltpresse von Reuters und anderen
Nachrichtenagenturen.
Es ist zum Weinen, was gerade in Waljeh
passiert, einem Dorf, das nur einen km von
Beit Jala/Bethlehem entfernt liegt, oberhalb
des durch seinen Wein bekannten Klosters
Cremisan. Um seinen Landbesitz für die
Zukunft zu sichern, hat man sich für die
israelische Seite entschieden und nicht
dafür, bei der zum grossen Teil christlichen
Bevölkerung Beit Jalas zu bleiben. Ich frage
mich: Ist das nicht Verrat an den Christen?
Wäre es nicht für die Verantwortlichen das
Gebot der Stunde, sich mit dem Verbleib des
Landes für Beit Jala zu entscheiden und
damit an der Seite der Christen zu stehen –
auch wenn die Zukunft ungewiss ist? Wäre
dies nicht ein unübersehbares Zeichen der
Solidarität gewesen?!! Die Menschen in der
Region, vor allem auch die Christen in
Bethlehem/Beit Jala sehen sich jedenfalls
von ihren Kirchenoberen im Stich gelassen.
Ein langestrecktes, sehr fruchtbares Tal mit
vielen Weinstöcken, Oliven- und Obstbäumen
wird von Beit Jala durch die Mauer
abgetrennt und der Jerusalemer Seite
zugeschlagen, geraubt von Israel, verbunden
mit allen Konsequenzen wie Verlust des
Landes, Arbeitsplätzen usw. Land und Besitz
stehen im Vordergrund gegenüber einer
unsicheren Zukunft des Landerhaltes für die
in diesem Fall das Land besitzende
kirchliche Einrichtung. Man geht den
einfacheren Weg: anstatt Israel in aller
Deutlichkeit auch mit Hilfe kirchlicher
Einflussmöglichkeiten Einhalt zu gebieten.
Stattdessen: absolutes Schweigen! Keine
Proteste des Patriarchates oder anderer
kirchlicher Stellen sind hörbar geworden,
geschweige denn sind Vertreter bei den
Demonstrationen zu sehen als sichtbares
Zeichen der Solidarität.
Aber zuvor gab es immer wieder die
Aufforderung kirchlicher Obrigkeiten an die
Christen, in Bethlehem zu bleiben,
auszuhalten, nicht auszuwandern, das Erbe
des Geburtsortes Jesu zu erhalten. Und jetzt
fühlen sich die Christen mit das Faktum
dieser Entscheidung des „Seitenwechsels“ im
Stich gelassen, um den eigenen Besitz zu
retten. Klare Antworten sind nirgends zu
bekommen. Die Frustration, Resignation und
Enttäuschung darüber ist in Bethlehem gross
und kaum zu beschreiben. War die christliche
Auswanderungswelle in den letzten Monaten
ein wenig zur Ruhe gekommen, so werden jetzt
wieder die Auswanderungsgedanken zahlreicher
christlicher Familien laut, nun doch zu
gehen, weil die Entscheidung der
christlichen Einrichtung für die israelische
Seite im Tal von Cremisan ein zu deutliches
Signal gesetzt hat.
Ich war am Samstag der vorigen Woche,
dem Tag nach der Demonstration mit der
Sprecherin von Walajeh im CremisanKloster,
weil die Vertreter des Dorfes, - das
vollkommen in eine Mauer gesteckt und nur
einen mit einem durch ein Tor
verschliessbaren Tunnel mit Beit Jala
verbunden wird - bisher dort kein Gehör und
keine Antwort bekommen hatten auf ihre
berechtigte Frage: Warum lasst ihr uns
hinter der Mauer und geht nach Israel? - Die
Antwort war "No Politics! Prohibition!" Ein
Gespräch mit dem Pater, der zu uns kam, war
kaum möglich, geschweige denn gab es eine
Antwort auf unsere Fragen!
Diese Erlebnisse und das Schweigen der
Verantwortlichen der Kirchen waren in diesen
Wochen für mich die größte Enttäuschung,
stattdessen das nicht zu steigernde Gefühl,
ohnmächtig zuschauen zu müssen und Wut.
Verstehen aber kann das letztlich nur
jemand, der dabei ist und Augenzeuge wird
oder selber betroffen ist. Warum? Warum?
Warum schauen alle zu? Ich habe keine
Antwort bekommen.
Am Freitag der vergangenen Woche hat sich
die Situation bei der Demo weiter
verschärft. Zum einen war Walajeh vom
Militär auf der Zufahrtsstraße weiträumig
abgesperrt für alle einheimischen,
israelischen und internationalen
Friedensleute, die den Dorfbewohnern durch
die Teilnahme an der Demo ihre Solidarität
zeigen wollten wie in den Wochen zuvor - nur
durch das freie Gelände war ein erschwertes
Durchkommen für einige möglich - zum anderen
wurden erstmals Soundbombs mit ihrem
ohrenbetäubenden Lärm eingesetzt. Eine
Steigerung mit Tränengas und Schiessen für
die nächsten Wochen ist zu erwarten. Und all
dem steht die betroffene Seite machtlos und
ohnmächtig gegenüber.
Unter diesen Links finden sich die weiteren
Infos zu den Vorgängen in Walajeh, so dass
ich nicht alles im Detail beschreiben muss.
Walajeh aktuell:
http://www.stopthewall.org/german/cgi-bin/german/latesnews/article_226.shtml
Video von den Demos am 10. und 17.8.,
bei denen ich dabei war:
http://samiawad.wordpress.com/
und
http://www.holylandtrust.org/
und die aktuelle Karte:
http://www.poica.org/editor/case_studies/view.php?recordID=1124
Ein anderes Erlebnis: Ein Beispiel dafür,
welchen Wert Palästinenser für junge
israelische Soldaten haben: Ich stehe im
Checkpoint von Bethlehem an der Box mit der
Passkontrolle in der Reihe mit ca. 20
Bethlehemer Männern, die eine Erlaubnis zur
Arbeit in Jerusalem haben und dorthin
wollen. Der junge israelische Soldat räkelt
sich in seinem Sessel hinter dem
Panzerglas und rülpst vor sich hin. Dann
nimmt er das zusammengefaltete Permit
(Dokument mit der Arbeitserlaubnis in
Jerusalem - von 5.00 - 19.00 Uhr)
und reinigt mit der einer Ecke des Papiers
seine Fingernägel. Die damit zum Ausdruck
gebrachte Menschenverachtung läßt sich wohl
kaum noch steigern: Du bist Dreck für mich!
-Ich rufe ihm zu: "Schäm dich!"
Vom Beginn meines Aufenthaltes in Bethlehem
folgendes Ereignis: Jihad Sha'ar, 20 Jahre
alt aus Tekoa, einem kleinen Dorf in der
Nähe von Bethlehem beim Herodion hat sein
Abitur gemacht und ist auf dem Weg zur Uni
Bethlehem, um sich zu imatrikulieren. An der
Bushaltestelle wird er von israelischen
Soldaten des naheliegenden Militärlagers
totgeschlagen. Der israelische Journalist
Gideon Levy hat das nicht zu fassende
Geschehen dieses Tages aufgeschrieben. –
siehe Anlage.
Für drei Tage bin ich nach Jenin und Nablus
gefahren. Auf der Strecke - normal
maximal 1.15 Stunden – die dieses Mal
durch mindestens 4 Checkpoints und
zahlreichen Strassensperrungen und damit
verbundenen Umleitungen (weil israelische
Siedlungen auf der Strecke an den
Hauptstrassen liegen) „nur“ Dauer ca. 2,5
Stunden bei 110 km dauert, muss unser Taxi
an einer israelischen Polizeikontrolle
halten (wohlgemerkt in Palästina von
Israelis kontrolliert!). Der Fahrer hat sich
nichts zu Schulden kommen lassen, erhält
aber ohne einen angegebenen Grund einen
Strafzettel über 250 Schekel (Ca. 50 €). Von
seinen 7 Fahrgästen hat er 245 Schekel
bekommen. Für nichts und wieder nichts muss
er also noch 5 Schekel (sozusagen der
i-Punkt) draufzahlen und dazu das
Benzingeld. Meine Nachfragen bei den
Taxifahrern auf der Rückfahrt ergeben, dass
es anderen Taxifahrern in diesen Tagen
ebenso erging. Fazit:
Auf diese Weise erreicht die israelische
Besatzung auf Dauer die drastische
Reduzierung der Fahrten, weil es sich nicht
mehr lohnt und damit eine weitere Form
massiver Einschränkung der Bewegungsfreiheit
in Palästina. (Mit privatem PKW sind weitere
Fahrten fast unmöglich, da auf Grund der
Strassensperren und täglichen Umleitungen
auf andere Strecken einschl. Feldwege sich
kein Mensch ausser den Ortsbewohnern und
Taxisfahrern auskennt).
Am 7.8. wurden die Noten des diesjährigen
Abiturs bekannt gegeben. Gefeiert wird es
mindestestens so wie eine Hochzeit – dieser
Abschluss ist das höchste, was Eltern ihren
Kindern mitgeben können. Doch wozu? Viele
können sich das Studium nicht mehr leisten.
Studentenjobs wie bei uns bei 70 % realer
Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Wofür
studieren, wenn es doch keine Zukunft gibt?
Studenten, die bewusst bleiben wollen (nicht
die, die wegen fehlender Möglichkeiten
bleiben müssen), sind die Ausnahme. Wer eine
Möglichkeit sieht, ins Ausland zu kommen,
versucht dies. Viele Jugendliche haben mir
das haben mir dies bestätigt. Was bleibt,
sind Frust und Hoffnungslosigkeit.
Vieles könnte ich noch berichten, doch es
sind alles die Geschichten, die Sie
wöchentlich hier so oder ähnlich lesen
können.
Doch eines möchte ich nicht unerwähnt
lassen: Alle Unterdrückung, Erniedrigung,
Resignation, Hoffnungslosigkeit usw. der
Menschen in Palästina haben ihnen eines
nicht nehmen können: ihre unerschütterliche
und umwerfende Gastfreundschaft!!! – D a s
Extrem zur anderen Realität!
Herzliche Grüsse
P. Rainer