
Machsom Watch
Matria[1]
– November 2007
Machsom Watch – eine Organisation
israelischer Frauen gegen die Besatzung und für Menschenrechte,
die sich mit einem der härtesten Aspekte der Besatzung befasst –
der Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser in den
besetzten Gebieten.
„Lebensgefüge“ - „Alles
fließt“
Diese beiden
Ausdrücke benutzen die staatlichen Institutionen um die „humane
Besatzung“ zu beschreiben, die nicht human ist und unter der es
kein Lebensgefüge gibt und sicher nicht alles fließt.
Der Tag begann eigentlich mit dem Eindruck,
es laufe alles gut. Die Angehörigen, die die Gefangenen im
Gefängnis Ofer in der Nähe des Checkpoints besuchen möchten,
passierten die Kontrollen rasch und ohne Zwischenfälle. Der
zuständige Offizier begann, Leute zum Kontrollschalter, der zum
DCO (District Coordinating Office – Regionales
Koordinierungsbüro) führt, durchzulassen, noch während die
Angehörigen der Gefangenen kontrolliert wurden. Meistens lässt
man die Leute Stunden warten, bis der letzte Bus mit den
Angehörigen angekommen ist und diese die Kontrollen passiert
haben. Heute läuft alles in Ruhe und Ordnung ab,
und ab und zu gab es sogar ein Lächeln.
Vor dem Kontrollschalter standen zwei Wächter
und ein Polizist. Einer der Wächter stützte sein Gewehr auf
seine überkreuzten Hände, so dass der Gewehrlauf direkt nach
hinten wies, auf die Wartenden hin. „Bitte, halte die Waffe in
einem anderen Winkel, hier stehen Bürger und Kinder, die sich
vor ihr fürchten. Es gibt keinen Grund, die Waffe auf sie zu
richten“, versuchten wir, an sein Gewissen zu appellieren. „Auch
wenn du denkst, dass das Gewehr gesichert ist, kann sich ein
Schuss lösen, Unfälle kommen vor“, versuchten wir die Logik des
Wächters anzusprechen, „im Moment richtest du das Gewehr genau
auf den Bauch des Polizisten hinter dir“. „Mischt euch nicht ein.
was geht euch das an. Ich kenne meine Waffe und ich halte sie,
wie ich will“, antwortete der Wächter zornig. Um zu zeigen, wer
hier das Sagen hat, ging der „Mann“ mit der Waffe auf und ab,
zur einen Seite und zur anderen Seite, den Lauf auf jeden
gerichtet, der vorbeiging.
Wir betraten den Warteraum des DCO. Der
Soldat am Eingang zum Warteraum ließ die Leute zügig durch, ohne
zu schreien. Alle kennen die Regeln. Wir stellten fest, dass
diejenigen, die als erste hineingelassen wurden, vor anderthalb
Stunden, immer noch warten. Nichts bewegt sich. „Der Computer,
der für die Herausgabe der magnetischen Karten
zuständig ist, ist kaputt“, erklärt uns der Kommandant, „wir
versuchen, ihn per Telefon zu reparieren, es wird jemand zum
Reparieren kommen“.
Nach einer Stunde hieß es, dass der Techniker
„schon unterwegs“ sei. Die Menschen in der Schlange waren
frühmorgens um fünf zu den Toren des Checkpoints gekommen, um
die ersten zu sein und so wenig Arbeitszeit wie möglich zu
verlieren. Nun stehen alle da und warten auf den Techniker, der
„jeden Moment kommt“. Da erschien ein junger Mann, einen kleinen
Rucksack auf dem Rücken, auf dem Arm seine zweijährige Tochter
und in der freien Hand sein Telefon, das während der nächsten
beiden Stunden nicht von seinem Ohr wich. Er sah äußerst
angespannt aus. Seine Frau wurde gestern in das
Mukassed-Krankenhaus in Ostjerusalem eingeliefert, sie ist
schwach wegen Blutarmut und soll in etwa zwei Stunden per
Kaiserschnitt ihren Sohn zur Welt bringen.
Der Mann hat eine magnetische Karte und einen
gültigen Erlaubnisschein zum Betreten Israels, er arbeitet seit
vielen Jahren an einem festen Arbeitsplatz in Modi'in. Aber vor
lauter Anspannung und Verwirrung hat er gestern den
Erlaubnisschein in der Tasche seiner Frau, zwischen den
ärztlichen Papieren, vergessen. Er muss so schnell wie möglich
zum Krankenhaus kommen, um Blut zu spenden und bei seiner Frau
zu sein. Der Kommandant des DCO beeilt sich, im Computer
nachzusehen und bekommt eine negative Antwort – der Computer
stellt fest, dass der Mann keinen Erlaubnisschein zum Betreten
Israels hat! Der Mann beharrt darauf, dass er einen
Erlaubnisschein hat, der bis zum 22. November gültig ist. „Du
hast keinen Erlaubnisschein“, sagt der Kommandant, „der Computer
sagt, dass du keinen hast“. Der Cousin des Mannes bezeugt, dass
beide einen Erlaubnisschein haben und beide auf der selben
Arbeitsstelle arbeiten, schon seit Jahren. Aber für den
Kommandanten gibt es nur ein Wesen, das entscheidet, wer einen
Erlaubnisschein hat und wer nicht – der Computer! „Du hast
keinen Erlaubnisschein“, wiederholt der Kommandant seine Worte,
ohne Zorn, geduldig, so wie man mit einem kleinen Kind spricht,
das sich schwer tut zu begreifen. Wir riefen eine unserer
Mitstreiterinnen an, und sie beeilte sich, bei ihren
Kontaktpersonen nachzufragen und kam mit derselben Antwort
zurück: „Der Mann hat keinen Erlaubnisschein zum Betreten
Israels, hat der Armee-Computer gesagt, nicht alles, was der
Mann sagt, stimmt“. Wir waren sicher, dass der Mann nicht lügt,
manchmal weiß man so etwas, auch ohne den Armee-Computer zu Rate
zu ziehen.
Das zweijährige Mädchen war erkältet, hatte
Ohrenschmerzen. Ein gepflegtes, reizendes Kind, flink wie eine
Gazelle. Sie trug nicht ganz aufeinander abgestimmte
Kleidungsstücke, war nicht ganz ordentlich gekämmt, ihre Nase
lief die ganze Zeit, und sie war pausenlos in Bewegung, wie eben
ein zweijähriges Kind. Sie weinte nicht und quengelte nicht,
aber lief dauernd in alle Richtungen. Sie versuchte, sich
zwischen den Armen der Drehkreuze hindurchzuzwängen, kletterte
auf die Sitzbänke, sprang auf eine Tüte Erdnussflips zu, die ihr
Vater aus dem Rucksack hervorholte in der Hoffnung, eine Minute
Ruhe zu haben, rieb die Sitzbänke und den Boden mit ihrem weißen
Pullover ab, verschwand in den Toiletten ...
Der Vater lief mit unendlicher Geduld die
ganze Zeit hinter ihr her, nahm sie auf den Arm, setzte sie auf
die Schultern, wischte ihr die Nase ab, gab ihr zu essen und zu
trinken und musste dabei immer wieder den Rucksack auf seinem
Rücken öffnen und schließen. All das, während er weiter mit den
Kommandanten sprach und Dinge per Telefon arrangierte.
Von seinem Arbeitsplatz wollten sie seinen
Erlaubnisschein per Fax an den DCO schicken, aber die Faxnummer
des DCO ist geheim. Man muss das Fax zur Zivilverwaltung der
Besetzten Gebiete in Bet-El schicken und hoffen, dass es von
dort hierher geschickt wird. Gleichzeitig versuchte auch seine
Frau im Krankenhaus, den Erlaubnisschein per Fax zu schicken.
Zwei Stunden vor dem Kaiserschnitt, unter
starker Blutarmut leidend, eilte sie ins Krankenhausbüro, denn
der Kommandant am Qalandiya-Checkpoint sagte, dass man den
Erlaubnisschein auch vom Krankenhaus aus schicken kann: „Sag
deiner Frau, dass sie das mit den Ärzten regelt. Kein Problem,
die kennen unsere Fax-Nummer“. Gleichzeitig rief der Mann einen
Freund an, Besitzer eines Taxis und eines blauen [israelischen]
Personalausweises, der sich beeilte zum Krankenhaus zu fahren
und den ersehnten Erlaubnisschein bei der Gebärenden abzuholen
und zum Checkpoint zu bringen.
Es war bereits 11.00. Zwei Stunden schon lief
der Mann hinter seiner unternehmungslustigen Tochter her, um sie
vor Gefahren zu bewahren, bat die Kommandanten um Einsehen,
führte ununterbrochen Telefongespräche und blieb immer noch
optimistisch. „Das Taxi ist unterwegs, der Erlaubnisschein wird
gleich da sein“.
Gegen 12.30 kam die erlösende Nachricht, dass
das Taxi mit dem Erlaubnisschein am Checkpoint angekommen sei.
Der Mann lief, sein Kind auf den Armen, nach draußen und wir
hinter ihm her. Wir liefen in Richtung des Parkplatzes und
standen hinter dem Gitterzaun, der den Durchgang für Fußgänger
von der Passage für Fahrzeuge trennt. Der Taxifahrer kam mit dem
Erlaubnisschein in der Hand auf uns zu. So standen wir zu viert
auf der einen Seite des Zaunes und der Fahrer mit dem
Erlaubnisschein auf der anderen Seite, zehn Meter von uns
entfernt.
Der Wächter rief einen Offizier des DCO
herbei, dessen Aufgabe es ist, die Gültigkeit solcher Scheine
festzustellen. Der Offizier überprüfte den Schein und sagte: „Der
Erlaubnisschein ist nicht mehr gültig ...“. Wir baten sie darum,
näher zu kommen, damit wir mit ihnen reden können. Sie
ignorierten uns. So machten wir uns auf den Weg zur anderen
Seite des Zauns in Richtung des Wächters, des Offiziers und des
Fahrers, durch die für die Fahrzeuge vorgesehene Spur.
Dabei kamen wir an dem Schild vorbei, das
warnt „kein Durchgang für Fußgänger“, und gingen weiter.
Augenblicklich begannen alle zu schreien: „Zurück, schnell,
sofort ...“. Wir erklärten, dass wir zurückgehen werden, wenn
sie bereit sind, auf uns zuzukommen und mit uns zu sprechen. Der
Wächter ist aufgebracht: „Ihr seid an einer verbotenen Stelle
durchgegangen, wisst ihr, dass ich in einer solchen Situation
das Recht habe, auf euch zu schießen?“ Im selben Moment erschien
der zuständige Offizier, warf einen Blick auf den
Erlaubnisschein und sagte, dass er gültig sei, aber es müsse
überprüft werden, warum er nicht im Computer verzeichnet sei.
Er nahm den Schein zum DCO mit und sagte dem
Mann, dass auch er schnell zum DCO zurückkehren müsse, um dort
den Schein in Empfang zu nehmen. Wir rannten zu der äußeren
Reihe der Drehkreuze zurück. Dort warteten einige dutzend
Menschen, aber die Lampen über den Drehkreuzen waren alle auf
Rot geschaltet - „kein Durchgang“. Dafür sind die Drehkreuze da
– dass sich vor ihnen eine Schlange bildet, die darauf wartet,
dass die Soldatin in ihrem Bunker sie öffnet. Die Soldatin, wie
es bei den hier stationierten Soldatinnen üblich ist, sieht die
Menschen nicht, telefoniert. In unser Verzweiflung stellten wir
uns vor das Panzerglas und winkten, damit die Soldatin auf uns
aufmerksam werde. ... Nein, sie wird das Tor nicht öffnen. Durch
die Sprechanlage teilten wir ihr mit, dass der Offizier im DCO
dringend auf den Mann warte. Nach einigen Minuten öffnete sie
für einen Augenblick das Drehkreuz und der Mann, mit seinem Kind
auf dem Arm, ging hindurch. Das Drehkreuz wurde wieder gesperrt,
und wir blieben draußen ...
(Qalandiya-Checkpoint im Norden Jerusalems, 5.11.2007)
Kafka am Sansana-Checkpoint?
Wir hören, wie ein Soldat einem Arbeiter
einen Verweis erteilt und ihm androht, dass er, wenn er das
nächste Mal zum Checkpoint komme, nicht durchgelassen werde. Der
Arbeiter erklärt uns, dass es ein Problem mit seinen
Fingerabdrücken gebe. Am Checkpoint sagt man ihm, er solle seine
Fingerabdrücke beim DCO korrigieren lassen, denn sie seien nicht
mehr gültig! Der Computer sagt, er sei „biometrisch gesperrt“
und beim DCO versteht man nicht, wo das Problem liegt. Der
Kommandant des Checkpoints weigert sich, den DCO anzurufen, um
nachzuprüfen, warum der Arbeiter als „biometrisch gesperrt“
registriert ist. Und warum auch kann man die Fingerabdrücke
nicht erneuern, wenn „ihre Gültigkeit abgelaufen“ ist?
(Sansana-Checkpoint, Hebron-Berge, 8.11.2007)
Kleinigkeiten aus
dem Alltagsleben der Palästinenser unter der Besatzung.
[1]
"Matria"
ist abgeleitet von dem hebräischen Verb "lehatria", das
"(als Alarmzeichen) in die Posaune/ins Horn blasen" und
"Protestgeschrei erheben" bedeutet.