
Machsom Watch
Matria[1]
– Weihnachten 2007
Machsom Watch – eine Organisation israelischer Frauen gegen die
Besatzung und für Menschenrechte, die sich mit einem der
härtesten Aspekte der Besatzung befasst – der Einschränkung der
Bewegungsfreiheit der Palästinenser in den besetzten Gebieten.
Ihr Tore, hebt euch nach oben, / hebt euch, ihr uralten
Pforten; / denn es kommt der König der Herrlichkeit (Ps
24,7)
Auf diesem Psalmvers basiert das bekannte Adventslied „Macht
hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der
Herrlichkeit“. Der Bibelvers, der an jüdischen Feiertagen beim
Einheben der Thora-Rolle in ihren Schrein gesungen wird, bezieht
sich ursprünglich auf das Offenbarwerden Gottes und wird in
christlicher Interpretation auf Jesus bezogen, der zur Welt
kommt, um das Königreich Gottes zu errichten. Am Checkpoint von
Betlehem haben wir natürlich weder eine Offenbarung erlebt noch
das Gottesreich gesehen, aber die Öffnung des Tores, das die
frühere Haupteinfahrtsstraße nach Betlehem sperrt, aus Anlass
der Weihnachtsfeierlichkeiten ist ein so seltenes Ereignis, dass
sie wie ein durch ein Wunder ermöglichter Einblick in eine
verschlossene Welt wirkte. Der Durchgang war dem Mann
vorbehalten, der in den Augen der Gläubigen als Statthalter
Gottes auf Erden gilt – dem lateinischen Patriarchen samt
Gefolge. Normale Sterbliche mussten, wie jeden Tag, den Weg
durch den Checkpoint auf sich nehmen.
Die Straße nach Betlehem und ihr Checkpoint hatten ein
Festgewand angelegt. Die Hebron-Straße wurde, wie jedes Jahr,
von den Ausläufern des Jerusalemer Stadtviertels Arnona an in
Richtung Betlehem mit weihnachtlicher Straßenbeleuchtung
geschmückt. Eine Reihe von Sternen, mit großformatigen
israelischen Fahnen darunter, um keinen Zweifel daran zu lassen,
wer hier – im Gebiet des „vereinigten Jerusalem“ jenseits der
grünen Grenze – der Souverän ist. Am Checkpoint selber hatte man
den an der Durchfahrt für Fahrzeuge bereits vorhandenen
Schildern „Jerusalem-Betlehem. Liebe und Frieden“ zwei Schilder
in englischer Sprache hinzugefügt, die im Namen des israelischen
Tourismusministeriums frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr
wünschen. Am Durchgang für die Fußgänger war ein Schild mit
einem Bild der Jerusalemer Davids-Zitadelle und
Feiertagswünschen auf hebräisch, arabisch, englisch, französisch,
deutsch, italienisch und russisch postiert worden. Auf hebräisch
klingt das so: „Herzliche Segenswünsche zur Festsaison
Weihnachten-Chanukka-Adcha. Möge diese Festzeit ein Zeichen für
die Fortdauer [d.h. also, dass sie schon da ist??] einer Zeit
des Gedeihens und des Friedens sein“. In den europäischen
Sprachen hat man sich die Erwähnung des jüdischen und des
muslimischen Festes gespart und sich (unter Hinzufügung einiger
Schreibfehler) auf gute Wünsche zum Neuen Jahr beschränkt. Auf
deutsch heisst es: „Herzlichste Güsse [sic!] an Sie und gute
Wünsche. Möge das kommende Jahr für Sie und alle Menschen guten
Willens Frieden und Wohlstand bringen“.
Früh am Morgen herrschte noch in jeder Hinsicht Alltag mit der
Routine des Checkpoints und seiner Warteschlangen. Gegen 8:00
riefen die Ökumenischen Begleiter, Friedensaktivisten des
Weltrates der Kirchen, an und berichteten, dass der Checkpoint
geschlossen worden sei und noch einige hundert Menschen darauf
warteten, nach Jerusalem durchgelassen zu werden. Einige Minuten
später wurde der Checkpoint wieder geöffnet, und gegen Mittag
verlief der Durchgang in beiden Richtungen ohne Verzögerungen.
An der Durchfahrt für die Fahrzeuge herrschte reger Verkehr in
Richtung Betlehem, denn zu Ehren des Festes wurde christlichen
Israelis das Betreten der verbotenen Stadt in dem der
Palästinensischen Autonomie unterstellten A-Gebiet gestattet. Um
zu verhindern, dass sich vielleicht auch Juden in die Stadt
hineinschmuggeln, wurde ein großes Schild aufgestellt, auf dem
es heißt: „Zufahrt in das Gebiet der Palästinensischen Autonomie,
kein Zugang für Israelis“, und die Personalausweise der Insassen
der Privatwagen wurden kontrolliert. Mit den Fahrgästen der
Busse und Transits nahm man es weniger genau.
Aber all das lief nebenbei ab. Die Operation, die die Offiziere
der Armee und der Polizei hierher gerufen und für die Verteilung
von Polizisten entlang der Hebron-Straße und massive
Polizeipräsenz am Mar Elias-Kloster gesorgt hat, ist der Einzug
Michel Sabbahs, des lateinischen Patriarchen und Oberhauptes der
römisch-katholischen Christen im Heiligen Land, nach Betlehem.
Laut dem offiziellen Informationsblatt über die
Weihnachtsfeierlichkeiten werden der Priester der katholischen
Gemeinde von Betlehem und Vertreter der Städte Betlehem, Bet
Jala und Bet Sahur den Patriarchen um 13.00 am Rachelsgrab
begrüßen, und eine halbe Stunde später wird der feierliche
Einzug in die Geburtskirche stattfinden. Diese Formulierung
erinnert an jene Tage, an denen das Rachelsgrab den Eingang nach
Betlehem symbolisierte und es angemessen war, dass dort die
örtlichen Würdenträger den Ehrengast empfingen und in ihre Stadt
begleiteten. Heute steht ein Checkpoint im Weg, israelische
Offiziere regeln den Einzug des Patriarchen nach Betlehem, und
das Rachelsgrab ist hinter Mauern verborgen, von seiner Stadt
getrennt, um als Gebetsort nur für Juden zu dienen, mit
separatem Eingang. All das wird in der Beschreibung der
Zeremonie nicht erwähnt. Es liegt in der Natur kirchlicher
Diplomatie wie der Politik der „humanen“ Besatzung, die Dinge
unter Ignorieren der hässlichen Wirklichkeit darzustellen.
Um 12:15 tut sich das graue Metalltor auf, schwebt zur Seite als
habe eine unsichtbare Zauberhand es berührt und gibt für einen
Moment den Blick auf das Leben hinter der Mauer frei. Fünf
Minuten später fährt eine Autokolonne mit Würdenträgern heraus,
die den Patriarchen dort begrüßen werden, wo kein Checkpoint und
keine Mauer die Szene verdunkeln – beim Mar Elias-Kloster auf
halbem Weg zwischen Jerusalem und Betlehem, auf der einzigen
noch unbebauten Fläche zwischen den beiden Städten, die mit
ihrem felsigen Boden und den alten Olivenbäumen die Erinnerung
an die Zeit Jesu wachrufen kann. An der Spitze der Kolonne fährt
das Auto der Zivilverwaltung der besetzten Gebiete, auf dem -
besonders groß und besonders hoch gehisst – die blau-weiße Fahne
Israels weht.
Die Fahrt zum Mar Elias-Kloster dauert nur zwei-drei Minuten,
aber bis dort jeder jeden begrüßt hat und die Kolonne sich in
langsamer Fahrt auf den Rückweg nach Betlehem macht, vergeht
viel Zeit. Inzwischen lässt man die Autos weiter durch den
Checkpoint hindurch fahren, aber es darf schon nicht mehr am
Straßenrand geparkt werden, und schließlich wird die Ausfahrt in
Richtung Jerusalem gesperrt, mindestens eine halbe Stunde lang.
Vermutlich hat sich dort eine lange Schlange gebildet. Eine
Gruppe von Offizieren der Armee und der Polizei steht mitten auf
der Straße. Um 12:50 wird das Tor wieder geöffnet und eine
Viertelstunde später ist die Straße von allen Fahrzeugen, die
keine Rolle bei der Zeremonie spielen, geräumt – „steriles
Gebiet“ in der Sprache der Armee. Eine Kolonne von etwa fünfzig
Fahrzeugen nähert sich. An der Spitze ein Jeep der Grenzpolizei,
ein Polizeiwagen und wieder das Auto der Zivilverwaltung mit
seiner riesigen Fahne. Sofort hinter ihm ein Wagen mit der
grünen Fahne des Patriarchen, etwas größer als ihr blau-weißes
Gegenstück, aber nur an zweiter Stelle. Dahinter Würdenträger
aus Betlehem und Jerusalem und auch gewöhnliche Christen, die in
Betlehem feiern wollen und in die Kolonne hineingeraten sind.
Ursprünglich war Anweisung gegeben worden, nur die VIP's durch
das Tor fahren zu lassen und alle übrigen durch den Checkpoint
zu leiten. Aber die Offiziere sehen schnell ein, dass diese
Differenzierung das Vorwärtskommen der Kolonne behindern würde
und lassen alle auf dem Prominenten-Weg passieren. Auch ein oder
zwei Busse der Linie Jerusalem-Betlehem haben sich in die
Kolonne geschmuggelt, aber die Fahrer werden sofort angewiesen,
ihre Passagiere an der Seite aussteigen zu lassen. Das sind die
ersten Arbeiter, die von einem anstrengenden Tag zurückkehren.
Für sie bleibt das Tor, obwohl es offensteht, versperrt. Sie
werden, wie jeden Tag, ihren Weg auf die andere Seite der Mauer
durch die Kontrollen, Drehkreuze und Türen des Checkpoints
nehmen.
Das war noch nicht die Hauptkolonne mit dem Patriarchen. Sie
kommt um 13:20 an. Fünf Reiter der Grenzpolizei umgeben den
Wagen des Patriarchen, die Fahnen Israels und der Grenzpolizei
hocherhoben in ihren Händen. Im Wagen sitzt mit verschlossener
Miene Michel Sabbah, blickt nicht zur Seite. Die Reiter halten
vor dem Tor an, als wollten sie ein Zeichen setzen, dass hier
der Herrschaftsbereich Israels endet und ein anderer
Herrschaftsbereich beginnt. Aber das Auto der Zivilverwaltung
mit seiner riesigen Fahne überschreitet die Grenze nach Betlehem
hinein.
Um 15:00 kehrten wir zum Checkpoint zurück. Jetzt findet keine
Zeremonie mehr statt, sondern die Arbeiter wollen nach Hause
zurückkehren, und die Touristen wollen die Geburtskirche
erreichen. Einzelne Gruppen, die zu Fuß von Jerusalem nach
Betlehem gehen, sahen wir bereits auf der Hebron-Straße. Am
Checkpoint herrschte immer noch reger Autoverkehr in Richtung
Betlehem. Am Kontrollpunkt standen riesige Säcke mit Süßigkeiten
– ein Geschenk des Tourismusministeriums für die Festgäste.
Viele Offiziere waren anwesend, um dafür zu sorgen, dass alles
reibungslos ablief. Ab und zu hörten wir über Funk Soldaten, die
nicht genau wussten, ob sie diese oder jene Gruppe mit blauen (israelischen)
Personalausweisen durchlassen sollten oder nicht. In gewissen
Abständen wurde durchgegeben, wieviele Personen passiert sind –
getrennt nach Israelis und Ausländern.
Während die Offiziere ihr Interesse auf die Durchfahrt für die
Fahrzeuge lenkten, bildete sich an der Fußgängerpassage der „Normalzustand“
der Rückkehrstunden der Arbeiter heraus. Eine ordentliche und
disziplinierte Reihe Wartender, die in einer Viertelstunde von
fünfzehn auf 45 anwuchs, stand vor dem Eingang in die
Kontrollhalle, und der Wächter der Wachgesellschaft „Ari“ [Löwe]
ließ in Abständen jeweils etwa fünf Leute hinein, damit der
Andrang draußen und nicht drinnen stattfindet. Wenn Touristen in
der Reihe standen – nicht so schön ordentlich wie die Arbeiter,
denn sie kennen nicht die Spielregel des Checkpoints „Wenn man
sich nicht gut benimmt, wird man nicht durchgelassen“ – ließ er
größere Gruppen hinein. Drinnen war nur ein Kontrollschalter in
Richtung Betlehem geöffnet und einer in Richtung Jerusalem. Die
Zahl der wartenden Arbeiter war noch relativ gering, in einer
halben Stunde bis Stunde werden wesentlich mehr kommen, und die
Schlangen werden noch länger werden. Die Offiziere der
Zivilverwaltung befanden sich an der Fahrzeugpassage. Das war
die Gelegenheit, die Beschwerde direkt bei ihnen anzubringen.
„Dort sind nur zwei-drei Leute“, behaupteten sie, und auf unsere
Einladung hinzugehen und selbst zu zählen, antworteten sie, es
sei ihnen verboten, den Checkpoint zu betreten. Dennoch geschah
plötzlich ein Weihnachtswunder und aus einem Kontrollschalter in
Richtung Betlehem wurden fünf und schließlich sogar sechs. Die
Schlange draußen verschwand, als habe es sie nie gegeben, und
auch vor den Kontrollschaltern bildeten sich nur kurze Reihen
von maximal 5-10 Personen, die sich schnell auflösten, selbst in
der Hauptstoßzeit zwischen 16:00 und 17:00 Uhr, als Wellen von
dutzenden von Arbeitern eintrafen. Nur gelegentlich wurde ein
Soldat wütend und bellte „Magnet“ [magnetische Karte] durch den
Raum, wenn die müden Arbeiter nicht schnell genug das richtige
Papier vorwiesen, dass sie zum Durchgang berechtigt.
Bei ihrer Ankunft am Checkpoint, wenn die Arbeiter aus den
Bussen und Transits stiegen, wussten sie natürlich noch nicht,
dass es keine Warteschlange gibt und sie nicht um einen guten
Platz in ihr kämpfen müssen. Und so kam es wieder und wieder zum
Rennen auf den Checkpoint zu, in der Hoffnung, einige Kollegen
zu überholen und einige Minuten Wartezeit zu sparen. So bringt
die Besatzung Menschen dazu, sich nur auf sich selbst und ihren
persönlichen tagtäglichen Überlebenskampf zu konzentrieren. Als
sie sahen, dass es keine Schlange gibt, erschien ein Lächeln auf
vielen Gesichtern, vielleicht Freude, vielleicht Lachen über
sich selbst.
Um 17:30 wurden zwei Kontrollschalter geschlossen. Die
Kontrollhalle war fast leer. Wir kehrten unter dem vollen Mond
nach Jerusalem zurück. Die Hebron-Straße war in ein goldenes
Sternenmeer getaucht, das die Fahnen unter ihnen im Dunkeln
ließ. Einen Moment lang konnten wir uns der Illusion einer
friedlichen Festatmosphäre wie in der christlichen Welt hingeben
und denken, dass die Segenswünsche der Engel, die das in
Betlehem geborene Kind mit den Worten
Verherrlicht ist Gott in der Höhe, / und auf Erden ist Friede
/ bei den Menschen seiner Gnade (Lk 2,14) begrüßten, wahr
geworden seien.
[1]
"Matria" ist
abgeleitet von dem hebräischen Verb "lehatria", das
"(als Alarmzeichen) in die Posaune/ins Horn blasen" und
"Protestgeschrei erheben" bedeutet.