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Boykott als legitimes
Mittel des Widerstandes - Erwiderung an Uri Avnery
AUTOR: Kim PETERSEN
Das Vorurteil kommt nicht immer mit
hässlichem Gesicht einher. Das gilt auch für den
Zionismus und Rassismus. Es ist durchaus möglich,
daß Leute mit guten Absichten ein Vorurteil haben
und – was schlimmer ist – entsprechend handeln.
Uri Avnery ist ein Gegner
der Brutalität, mit der Palästinenser behandelt werden.
Er tritt für Frieden mit den Palästinensern ein. Aber er
hat auch eine zionistische Vergangenheit. Er ist in
Europa geboren und hat für die terrroristische Irgun
gekämpft zur Durchsetzung eines Holocaust (Nakba) gegen
die Palästinenser. Später hat er sich von der Taktik der
Irgun distanziert. Er ist gegen den Krieg, aber er ist
nicht gegen die Früchte des Krieges. Er befürwortet eine
zwei-Staaten-Lösung. Mit anderen Worten: die
israelischen Juden wollen die Früchte ihrer Enteignung
anderer Menschen behalten – während sie gleichzeitig
Druck ausüben zur Rückerstattung dessen, was ihnen
geraubt worden ist.1
Avnery tritt für selektive
Taktiken gegen den Zionismus ein. Das wird offenbar,
wenn es sich um den internationalen Boykott Israels
dreht. Avnery behauptet, daß niemand besser zur
Beantwortung dieser Frage geeignet sei als der
südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu.2
Was sagt Tutu? Er hat die
internationale Gemeinschaft aufgerufen, Israel ebenso zu
behandeln wie sie das Apartheid-Südafrika behandelte.
Tutu unterstützt auch die Divestment-Kampagne gegen
Israel.3
Avnerys israelischer
Landsmann Neve Gordon ist auch der Meinung, daß es für
einen Boykott an der Zeit sei.
4
Avnery klagt, ”es tut mir leid, daß ich diesmal mit ihm
nicht einer Meinung sein kann – weder über die
Ähnlichkeit mit Südafrika noch über die Effizienz eines
Israel-Boykotts.”
In der Tat sind die beiden
Apartheids in vieler Hinsicht zwar ähnlich, aber doch
verschieden. Gary Zatzman wies auf einen entscheidenden
Unterschied hin:
”Trotz all der schweren und
zweifelsfreien Übel und zahlreicher in ihrem Namen
begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit, war die
südafrikanische, weiße, rassistische Apartheid nicht
darauf aus, einen Genozid zu verüben. Der Zionismus
hingegen hat sich der Zerschlagung der sozialen,
kulturellen, politischen und ökonomischen Integrität des
palästinensischen Volkes, i.e. Genozid verpflichtet, von
Anfang an, zumindest seit Theodor Herzls Anmerkung in
seinen Tagebüchern, daß ”der Transport” der
palästinensischen ”geldlosen Bevölkerung” woandershin
”diskret und umsichtig” erfolgen muss”.5
Boykott als eine Taktik gegen Rassismus
Avnery sagt, daß Tutu ihm
gegenüber geäußert habe: ”Der Boykott war ungeheuer
wichtig, viel wichtiger als der bewaffnete Kampf.”
Aber es war der
revolutionäre Nelson Mandela, der sich weigerte, das
Recht auf den bewaffneten Kampf aufzugeben, und der die
Auflösung der südafrikanischen Apartheid aushandelte.6
Tutu sagte Avnery auch:
”Die Bedeutung des Boykotts war nicht nur ökonomischer
sondern auch moralischer Art.”
Avnery schreibt: ”Es
scheint mir, daß Tutus Antwort den gewaltigen
Unterschied zwischen der südafrikanischen Realität
damals und unserer heutigen hervorhebe.”
Was sagt also Avnery?
Zuerst sagt er, daß Tutu am besten geeignet sei, über
die Effektivität des Boykotts als eines Mittels zur
Bekämpfung des Rassismus zu sprechen, und dann sagt er,
daß Tutu Unrecht habe. Meint Avnery also, daß er am
besten geeignet sei, über die Effektivität eines Boykott
gegen Rassismus zu sprechen?
Avnery fürchtet, daß die
israelischen Juden das Gefühl bekommen, ”die ganze Welt
sei gegen uns”.
Aber ist es nicht gerade
das, was beabsichtigt ist? Zu zeigen, daß die ganze Welt
gegen den jüdischen Rassismus gegen die Palästinenser
ist? Es muß betont werden, daß die Welt nicht gegen die
Juden ist, wie die israelische Propaganda es so gerne
darstellt. Obwohl Avnery es nicht ausdrücklich sagt, so
benutzt er doch eine Version des anti-semitischen
Geschmieres: Wenn man gegen irgendetwas ist, was Israel
tut, dann ist man gegen die Israelis. Folglich ist man
anti-semitisch. Diese groteske Perversion der Moral und
Logik behauptet, daß gegen Rassismus gegen Palästinenser
zu sein einen zum Antisemiten mache.
Avnery gibt zu, daß ”der
weltweite Boykott dazu beitrug, die Majorität zu stärken
und für den Kampf zu stählen. Die Auswirkung eines
Boykotts gegen Israel würde das genaue Gegenteil sein:
sie würde die große Mehrheit in die Arme der extremen
Rechten treiben und eine Festungsmentalität gegen die
”antisemitische Welt” erzeugen. (Der Boykott würde
natürlich eine andere Auswirkung auf die Palästinenser
haben, aber das ist nicht das Ziel jener, die ihn
befürworten.)”
Avnery sagt bloß, was der
heutige status quo ist. Israel ist bereits in einer
extrem rechten Festungsmentalität in Deckung gegangen.
Der Boykott ist nicht die Ursache. Avnery ist auf die
Bevölkerungs-Dynamik fixiert. Welche Relevanz hat die
Majorität und Minorität in Avnerys Argumentation? Es
könnte scheinen, daß die Palästinenser, die in der
Minorität sind und den Boykott unterstützen ein weiterer
Grund für die internationale Unterstützung des Boykotts
ist. Wen und was unterstützt Avnery: die Palästinenser
vor dem Rassismus oder die israelischen Juden vor dem
ökonomischen Effekt und dem moralischen Stigma eines
internationalen Boykotts?
Das Ziel der
Boykott-Kampagne ist im übrigen: ”Israel die
finanziellen Mittel zu versagen, um mit der Tötung der
Palästinenser und der Besetzung ihres Landes fortfahren
zu können”.7
Avnery führt den
”Holocaust” an und argumentiert, daß sich das jüdische
Leid tief in die jüdische Seele eingegraben habe. Daß
die Nazis die Juden in Konzentrationslager
zusammengetrieben haben, war eine moralische Greueltat.
Aber was ist die Lehre aus dem 2. Weltkrieg? Daß das
irgendeiner Volksgruppe auferlegte Leid von Übel und
unrecht ist oder daß eine Gruppe den Holocaust in Besitz
nehmen kann, ihn zu ihrem macht und das vergangene Leid
als Schild benutzt, um einem anderen Volk einen
Holocaust zuzufügen? Avnery argumentiert, daß die Juden
zu boykottieren diese an den Nazismus erinnern wird,
aber wenn Juden nazi-ähnliche Techniken benutzen, woran
sollten sie dann erinnert werden?
Avnery sagt, es sei in
Ordnung, die Produkte der ”Siedlungen” zu boykottieren.
Er macht einen Unterschied zwischen den ”Siedlern” (d.h.
den Kolonisatoren) und anderen israelischen Juden. Wie
rationalisiert er dann die Tatsache, daß die ”Siedler”
sich in Westjordanland befinden?
Avnery versichert, ”daß
jene, die zum Boykott aufrufen, aus Verzweiflung
handeln. Und das sei die Wurzel der Angelegenheit”. In
der Tat, Verzweiflung ist für viele Palästinenser das
Leben unter der Besatzung oder in den Flüchtlingslagern.
Avnery meint, ein
internationaler Boykott würde schwer durchzuführen sein
und die USA würden nicht mitmachen. Es war auch nicht
leicht, ihn gegen das Apartheid-Regime in Südafrika
durchzuführen. Ist das ein Grund, es nicht zu versuchen?
Hat die USA nicht versucht, einen Boykott gegen
Südafrika zu verhindern? Ja, es kann lange dauern. Aber
die Zeiten ändern sich. Die Widerspenstigkeit der USA
(und ihrer westlichen Alliierten) war der Dampf, der
Venezuela, Kuba, Bolivien und andere antrieb. Imperien
sind in der Geschichte aufgestiegen und gefallen.
Avnery findet, daß die
Taktik eines Boykotts ”ein Beispiel [sei] für eine
falsche Diagnose, die zu einer falschen Behandlung
führe. Um genau zu sein: die falsche Annahme, daß der
israelisch-palästinensische Konflikt der
südafrikanischen Erfahrung ähnele, führt zur falschen
Wahl der Strategie”.
Avnery fährt fort: ”In
Südafrika gab es eine völlige Übereinstimmung zwischen
beiden Seiten über die Einheit des Landes. Der Kampf
ging um das Regime. Sowohl die Weißen als auch die
Schwarzen betrachteten sich selbst als Südafrikaner und
waren entschlossen, das Land intakt zu erhalten. Die
Weißen wollten keine Trennung und konnten sie auch nicht
wollen, weil ihre Ökonomie auf der Arbeit der Schwarzen
beruhte.”
Es sieht so aus, als wäre
da eine falsche Analyse am Laufen. ”Die Weißen wollten
keine Trennung?” Wie kann Avnery etwas faktisch so
Ungenaues behaupten? Was waren Venda, Lebowa, die
Bantustans, wenn nicht Teile Südafrikas, die von der
weißen Regierung abgetrennt wurden? Daß der Zionismus
außerdem jetzt nicht mehr von palästinensischer Arbeit
abhängig ist, kann nicht die Tatsache verbergen, daß er
zu einer bestimmten Zeit von dieser Arbeit abhängig war.
Avnery pickt sich bei seiner Argumentation die Rosinen
heraus. Den Palästinensern das Recht auf Arbeit im
historischen Palästina zu verweigern, ist eine Taktik,
die aus dem Zionismus hervorging.
Wie kann Avnery also gegen
einen internationalen Boykott Israels argumentieren,
wenn Israel ein vernichtendes illegales Embargo gegen
die Palästinenser – ein Kriegsverbrechen –
aufrechterhält? Solange Israel eine derartige Taktik
benutzt, solange ist Widerstand durch Boykott ganz
gewiss legitim.
Avnery sagt, israelische
Juden und palästinensische Araber haben nichts
gemeinsam. Derselbe Mangel an Gemeinsamkeit galt jedoch
auch für die weißen und schwarzen Südafrikaner. Ich
nehme jedoch Anstoß an dem Tenor einer derartigen
Argumentation. Sie bereitet den Boden für Rassismus.
Israelische Juden, Palästinenser, schwarze und weiße
Südafrikaner sind alle Menschen. Sie alle essen,
arbeiten, schlafen, haben Träume, haben Familien. Das
sollte Grund genug sein, miteinander menschlich
umzugehen: Liebe zur Menschheit. Es ist durchaus
möglich, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu umfassen
und die Vielfalt zu respektieren.
Avnery sagt abschließend:
”Kurz und gut: die beiden Konflikte sind grundlegend
anders. Daher müssen auch die Methoden des Kampfes
notwendigerweise anders sein.”
Das ist logisch eine
brüchige Beweisführung, ähnlich der logischen und
moralischen Brüchigkeit, daß Opfer eines Genozids zu
sein die eigene Schuldhaftigkeit in einem folgenden
Genozid mindere. Man hat den Verdacht, das Avnery sehr
wohl das Opfer eines geplagten Gewissens und kognitiver
Dissonanz sein kann. Ich schlage vor, daß die beiden
”Konflikte”
8
grundlegend ähnlich sind. Grundsätzlich haben das
koloniale Israel und das koloniale Südafrika diese
Kennzeichen: eine rassisch, kulturell, geistig,
sprachlich andere Gruppe von Außenstehenden beraubt
überwiegend durch Gewalt einheimische Völker ihrer
Heimat und errichtet ein Apartheid-System, das die
einheimischen Völker erniedrigt und die Besatzer
privilegiert.
Avnery konzentriert sich
auf gewisse ”Wesentlichkeiten” - von denen ich meine,
sie seien keine Wesentlichkeiten sondern Nuancen – die
er als anders betrachtet.
Avnerys Lösung liegt in
einem ”umfassenden und detaillierten Friedensplan” von
US-Präsident Barack Obama und ”der vollen
Überzeugungskraft der Vereinigten Staaten”, die zu
”einem Weg des Friedens mit Palästina” führen werden.
Avnery erinnert sich wohl
der früheren von den USA unterstützten Friedenspläne wie
Oslo oder des Fahrplanes [Roadmap]. Weshalb also setzt
er seine waghalsige Hoffnung auf den AIPAC-Besänftiger
Obama? Hofft Avnery, daß die israelischen Juden
begreifen werden, daß Frieden mit den Palästinensern der
Weg ist? Der Friedensaktivist wirbt für eine Lösung, die
viele Male versagt hat und zurückgewiesen wurde. Er
weist eine Lösung zurück, die in Südafrika funktioniert
hat, wegen der Empfindlichkeiten der Unterdrücker.
Aber untersuchen wir
Avnerys Logik, daß grundlegend verschiedene ”Konflikte”
verschiedenartige Kämpfe erfordern.
Unterdrückung wird durch
Kampf überwunden. Grundlegend verschiedene ”Konflikte”
können durch ähnliche Kämpfe erfolgreich sein. Nur ein
Beispiel: Revolutionäre stürzten die US-unterstützte
Diktatur in Kuba durch bewaffneten Kampf und kubanische
Revolutionäre besiegten südafrikanische Truppen in
Angola durch bewaffneten Kampf.9
Im Schlussatz seines
Artikels, offenbar überzeugt von seiner eigenen
Argumentation gegenüber der Person, die er als
geeignetste Autorität in Bezug auf Boykotts als Mittel,
die Apartheid zu stürzen, betrachtet, verweist Avnery
auf ein Gebet Tutus – ein Gebet, das uns allen gut
dienen kan:
”Lieber Gott, wenn ich
Unrecht habe, mach mich bitte willens, meinen Fehler
einzusehen. Und wenn ich Recht habe, mach, dass es
erträglich ist, mit mir zu leben.”
Hoffentlich hält sich
Avnery auch dann an diese Bescheidenheit, wenn er den
Irrtum seiner Wege einsieht.
Übersetzt von Einar Schlereth
1
Siehe Dinah Spritzer “Last
chance for Holocaust restitution?”
JTA, 30 June 2009. (Letzte Chance für eine Holocaust
Entschädigung?”).
2
Uri Avnery “Tutu’s
Prayer,” Gush
Shalom, 29 August 2009 und auf Deustch auf
Tlaxcala
(Tutus Gebet),
3
Desmond Tutu, “Israel:
Time to Divest,” (Zeit,
Investitionen abzuziehen), New Internationalist
Magazine, Jan/Februar 2003. Erhältlich online bei Third
World Traveller.
4
Neve Gordon:
Boycott Israel - The Los Angeles Times, Aug. 20, 2009 und
auf Deustch auf
Tlaxcala.
5
Gary Zatzman, “The
Notion of the ‘Jewish State’ as an ‘Apartheid Regime’ is
a Liberal-Zionist One”
(Die Vorstellung vom 'Jüdischen Staat' als einem
'Apartheid Regime' ist eine liberal-zionistische),
Dissident Voice am 21. November 2005.
6
Siehe Bill Keller ”Tree Shaker: The Story of Nelson
Mandela” (Der Baumschüttler: Die Geschichte Nelson
Mandelas), Boston, Kingfisher, 2008. Mandela wollte eine
friedliche, gewaltfreie Beilegung, aber angesichts der
Gewalt der Staatsmacht, fühlte er sich gezwungen, Gewalt
als eine Methode des Kampfes zu benutzen. Mandela
betonte, daß diese Gewalt nicht Terrorismus war: S. 98
7
””Aim
of the boycott campaign,”
Boycott Israel Now (Das Ziel der Boykott Kampagne)
8
Das Wort ”Konflikt” verniedlicht die an Palästinensern
und Südafrikanern von ihren Unterdrückern begangenen
Greueltaten.
9
Isaac Saney behauptet, dass die Schlacht bei Cuito
Cuanavale der ”Wendepunkt im Kamf gegen die Apartheid”
war. Isaac Saney “The
Story of How Cuba Helped to Free Africa”
(Die Geschichte, wie Kuba half, Afrika zu befreien),
Morning Star v. 4. November 2005. Erhältlich bei der
kubanischen Botschaft in Ägypten.
Quelle:
Boycotts as a
Legitimate Means of Resistance
Originalartikel veröffentlicht am 29.8.2009
Über den
Autor
Einar Schlereth ist ein Mitglied von
Tlaxcala,
dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese
Übersetzung kann frei verwendet werden unter der
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