Israel, eine Ethnokratie? Eine
Herrenvolk-Demokratie?
Roane
Carey, 28. Juli 2009,
www.imenc.org/article/61219
Preußen am Mittelmeer?
Unter
der liberalen amerikanischen Intelligenzija herrscht die fast weltweite
Vermutung vor, dass die israelische Besatzung zwar unterdrückerisch und
abscheulich ist, Israel selbst sei aber ein offener, ganz und gar
demokratischer Staat mit einer lebendigen, argumentativen und sehr
freien Presse.
Gott
bewahre! Nachdem ich drei Monate mit einem Forschungsstipendium in
Israel war, kann ich sagen, dass fast jeder aus der liberalen
israelischen Intelligenz , mit dem ich ins Gespräch kam, etwas ganz
anderes sagte: dass die Medien des Landes schwer angeschlagen sind und
versäumen, auf unterstem Niveau fair zu berichten und ernsthafte
kritische Erkundigungen einzuziehen, die wichtige Pfeiler einer offenen
Gesellschaft seien.
Amerikaner, die nicht Hebräisch lesen oder Nachrichten im israelischen
Fernsehen sehen, mögen eine verzerrte Sicht der Situation bekommen. Sie
vermuten auch, dass die Tageszeitung Haaretz – mit geringerer Auflage
als die anderen und vor allem von den Intellektuellen und der
politischen Klasse gelesen, und die von Ausländern verschlungene
Englisch Online -Ausgabe , repräsentativ sei. Und sie vermuten, dass
kritische Kolumnisten wie Gideon Levy, Akiva Eldar und Amira Hass in
allen anderen Medien auch vorkommen. Das ist aber nicht so. Die größeren
Tageszeitungen wie Yediot, und Maariv als auch die Jerusalem Post und
die TV-Nachrichten neigen viel mehr zur Rechten – genau wie die
US-Medien, die Israel in dieser Hinsicht sicher nichts beibringen
können.
Und
was den offenen, so sehr demokratischen Staat betrifft, so reden die
Leute, mit denen ich gesprochen habe, von einem beunruhigenden Dissens
der letzten Jahre, der parallel mit den Wahlen zunehmend in rechte
Regierungen läuft. Der Tiefpunkt kam während des Gaza“krieges“ im Januar
2009. Ich habe dies selbst im Mikrokosmos hier in Beer Sheva an der
Ben-Gurion-Universität (BGU) erlebt.
Vor
ein paar Tagen wurde Noah Slor, die im Programm für Jungakademiker der
BGU-Abteilung für Nahoststudien ist, auf Order der
Campussicherheitsleuten von der Polizei verhaftet und mehrere Stunden
festgehalten, weil sie ganz still Flugblätter verteilt hatte. Es ging um
die Ablehnung einer der Knesset vorliegenden Gesetzesvorlage, in der das
Gedenken an die Nakba zu einem kriminellen Akt erklärt wird. Sie stand
an einer Stelle außerhalb des Haupteinganges zum Campus, wo Studenten
aus Tradition alles verteilen, von einer Party-Einladung bis zur
Information über politische Demonstrationen, wobei sie nie von
Sicherheitskräften belästigt werden.
Aktivisten, Studenten wie Professoren, bestätigen ein Muster von
politisch motivierten Schikanen durch Campus-Sicherheitsleute. Slor,
eine Aktivistin der Gruppe “Der Süden für Frieden“, die sich erst
vor kurzem aus Arabern und Israeli im Raum Beer Sheva gebildet hat,
kämpft gegen Rassismus und für Gleichheit und Koexistenz von Arabern und
Juden. Sie erzählte mir, dass zu dem Zeitpunkt ihrer Verhaftung einer
der Sicherheitsleute ihr sagten: „Hör zu, gibt nicht vor, du seiest so
naiv, Ich habe dich in der Vergangenheit bei Demos gesehen. Alles wird
berichtet und notiert und alles wird dokumentiert“ sie kann es nicht
beweisen, aber sie ist davon überzeugt, dass die Sicherheit hinter ihr
her ist, weil sie gegen das Nakba-Gesetz ist; das war eigentlich
gemeint,“ sagte sie mir.
Die
Studenten nahmen das nicht einfach hin. Am selben Abend hielten sie eine
Demo und protestierten gegen die Verhaftung, in dem sie sich bei einer
Universitätsfeier versammelten, zu der eine Reihe Persönlichkeiten aus
der Regierung und andere Würdenträger erwartet wurden. Sie hatten sich
Krepppapier über ihren Mund geklebt und hielten Poster, auf denen zu
lesen stand: „Die Sicherheitsabteilung leitet die Universität“ und
„Sicherheitsabteilung = Geheimpolizei“. (In einer Antwort auf Fragen
über den Vorfall sagte der Uni-Sprecher Amir Rosenblit, dass es
Studenten nicht erlaubt sei, auf dem Campus Flugblätter zu verteilen –
warum denn nicht?) und dass Noah sie in einem Bereich verteilt habe, der
noch zum Campus gehört – auch wenn es außerhalb des Tores war)
Der
Dissenz war während der Gaza-Kampagne überzeugend. Niza Berkowitch, eine
Soziologin sagte: „Ich denke, die Medien wurden vollkommen mobilisiert.
Die Unterstützung des Krieges war vollkommen.“ Ein paar Tage nach Beginn
des Krieges Ende Dezember hielt eine Gruppe arabischer und jüdischer
Studenten eine friedliche Demo gegen den Krieg ab. Bald kam die Polizei
und forderte, dass die Demo aufgelöst werde. Sie waren damit
einverstanden; aber während sie ihre Poster zusammenfalteten, wurden
mehrere mit Handschellen gefesselt und stundenlang festgehalten und
wegen „Aufruhr“ angeklagt. Mitte Januar gab es eine zweite Demo, noch
moderater; die Leute hielten Poster, auf denen zum Frieden aufgerufen
wurde und zur Beendigung der Gewalt auf beiden Seiten. Es geschah wieder
dasselbe: Dutzende von Polizisten kamen, schlugen die Menge zusammen
und verhafteten einige. Einer der Studenten, Ran Tzoref, bekam einen
Monat Hausarrest.
Harte
Unterdrückung der palästinensischen Bürger ist in Israel seit langem
Praxis. Jüngste Vorfälle aber machen deutlich, dass es möglicherweise
eine Lockerung in der Zurückhaltung (in Bezug auf Bestrafung) der
aufrührerischen jüdischen Dissidenten gibt.
Hunderte von Israelis wurden verhaftet, als sie gegen die
Gazakampagne protestierten, wahrscheinlich waren die meisten
Palästinenser, aber auch viele Juden. Tzoref erzählte mir: „ Ich war bei
Protestveranstaltungen in den besetzten Gebieten und sie handelten hier
in der selben Weise. Für mich war es schockierend, dass diese
Einsatzpolizei nun auch auf das Universitätsgelände kommt und uns
angreift. Dies war vorher nie geschehen, nicht in diesem Ausmaß.“
Berkowitch sagte: „Es war wie in einer südamerikanischen Diktatur. Es
war, als ob landesweit eine willkürliche Order gegeben worden war, dass
eine bestimmte Anzahl von Leuten verhaftet werden müsse – es war reine
Einschüchterung.
Die
Gazakampagne brachte sicher den schlimmsten Unterdrückungsapparat mit
sich, der von der öffentlichen Stimmung von Rache und Hass gegen die
Palästinenser aufgeheizt wurde, der selbst durch den Hamas
Raketenbeschuss verstärkt wurde. (Berkowitch sagte mir, dass viele, die
an der Januar-Demo vorbei gingen, Schimpfworte gegen die Demonstranten
schrieen und sie Verräter nannten und auch folgendes sagten “Juden
sollten noch mehr Araber töten“. „So viel Hass bin ich in meinem ganzen
Leben nicht begegnet“, sagte sie. Der Trend ist beängstigend, aber es
sollte betont werden, dass im allgemeinen die israelischen Juden sich
noch eines bemerkenswerten Grades von Freiheit erfreuen und fast über
jedes Problem reden können – nicht so die Palästinenser.
Eine
extrem rechte Regierung, die nicht nur entschieden hat, ernsthafte
Verhandlungen mit den Palästinensern zu vermeiden , sondern aktiv den
Siedlungsbau vorantreibt; eine Regierung, die allen Anzeichen nach,
einen Krieg gegen den Iran vorbereitet und an dieser Front hier aktiv
den öffentlichen Verfolgungswahn schürt; die zunehmend die
palästinensischen Bürger als Bedrohung und als Feind im Inneren ansieht.
Solch eine Regierung flößt mit all diesen Widersprüchen einer Nation,
die behauptet, jüdisch und demokratisch zu sein, Angst ein. Wie kann ein
Staat, der 4 Millionen Palästinenser hinter Ghettomauern,
Umgehungsstraßen und einer Blockade gefangen hält, und weitere 1,5
Millionen als Zweite-Klasse-Bürger behandelt, demokratisch sein? Der
Geographieprofessor der BGU Oren Yiftachel nennt Israel eine Ethnokratie
(der Titel seines letzten Buches) ;der verstorbene Soziologe der
Hebräischen Universität Baruch Kimmerling nannte es eine „Herrenvolk-Demokratie“
( übrigens Benvenisti auch -ER).
Egal
wie man es nennt: wenn Israel weiter seinen augenblicklichen Weg geht,
wird die Unterdrückung stärker und die Alleen für Redefreiheit werden
noch enger. Der alte Scherz über Preußen war, dass es eine Armee in der
Gestalt eines Staates war. Ist Israels Bestimmung, ein Preußen am
Mittelmeer zu sein?
(dt.
Ellen Rohlfs)
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