„ … ein Lesezeichen fürs
Gesangbuch“
Weihnachtsaktion des Bonner Friedensbündnisses
Dezember 2007 - Ulrike
Vestring
„Die Situation in Palästina ist ausweglos, was nicht
heißt, dass ich die Menschen dort vergessen hätte –
im Gegenteil. Aber ich kann nicht mehr von Hoffnung
sprechen, wenn ich selbst nicht mehr daran glauben
kann. …
Gedanken an unsere Freunde in Palästina, und
vielleicht, wenn man daran glaubt, können unsere
Gedanken und Aktionen über Meere und Grenzen hinweg
ihnen helfen durchzuhalten und nicht aufzugeben,
denn wer aufgibt, sagt auch Bert Brecht, der hat
schon verloren.“
Diese Zeilen einer Kölner
Friedensfreundin erreichten mich während der
Vorbereitungen zu unserer Weihnachtsaktion.
Vielleicht waren es ähnliche Gedanken in den Köpfen
von uns mehr und weniger frommen Bonner
Friedensfreunden, die beim letzten Treffen zu einem
schnell erreichten Konsens führten: ja, wir wollen
wie schon im vergangenen Jahr an den Türen einiger
Bonner Kirchen stehen und den Menschen, die zu den
Weihnachtsgottesdiensten kommen, etwas in die Hand
geben. Aber was? Ein Lesezeichen fürs Gesangbuch!
Später saßen wir zu dritt vor 200 farbigen
Kartonkärtchen – aus einem Din A4-Bogen waren
kostengünstig je neun Stück kopiert worden. Auf der
Vorderseite Picassos Taube und darunter „Friede auf
Erden“ mit Fragezeichen, und eine Aufzählung
gegenwärtiger Kriegsschauplätze. Auf der Rückseite
das Logo des Bonner Friedensbündnisses „Stoppt den
Krieg.“ Und schließlich: „Wir suchen Antworten“.
Blieb uns nur noch, die Kärtchen, um sie zu echten
Lesezeichen zu machen, mit ‚Bembeln’ zu bestücken.
Das ist sächsisch, wie wir von unserer Freundin
Dagmar lernten, und bedeutete, dass wir jedes
Kärtchen mit einem Loch und einem durchgezogenen
farbigen Bändchen versahen.
Und nun also Heiligabend 2006, 22:30 Uhr, Treffen
zur „Spätschicht“. Die für 18:00 Uhr geplante
Schicht war wegen Erkrankung der TeilnehmerInnen
ausgefallen. Können wir nun doppelten Einsatz
machen, drei mehr oder weniger angejahrte
Friedensweiblein?
Erst einmal stellen wir aufatmend fest: der Platz
vor dem romanischen Münster ist wieder frei vom
unsäglichen Gewusel des Weihnachtsmarktes,
Kinderkarrussell und Riesenrad sind verschwunden,
Bratfisch und Rievkooche (rheinisch für Reibekuchen)
sämtlich verschlungen, Kunst und Kitsch, unter
Weihnachtslieder-Gedudel feilgeboten, müssen nun bis
nächstes Jahr auf Käufer warten. Nur hier und da
findet die Nase auf dem Platz noch eine Spur vom
fuselig-würzigem Glühweingeruch.
Am Hauptportal des Münsters tun wir einen Blick ins
ehrwürdige Innere und sehen die dort bereits
gedrängt stehenden Menschen. Sind wir zu spät? Aber
nein, beruhigt uns der Mann an der Kirchentür. Er
gehört zur Zunft der sozusagen akkreditierten
Türhüter, die Kirchenbesuchern mit der einen Hand
den schweren Türflügel öffnen und die andere für
eine Spende offen halten. Oh nein, Bettler sind sie
nicht.
Solchen Türdienst hat heute Abend ein gerade und
aufrecht stehender Mittdreißiger, in dessen Gesicht
Obdachlosigkeit und das Bemühen, sich darüber zu
trösten, noch kaum Spuren hinterlassen haben. Er
wird uns später empört erzählen: „Da hat doch eben
einer zu mir gesagt: Hau ab, Du Penner. Die Leute
werden immer unangenehmer …“ Wir quittierens mit
zustimmendem Kopfschütteln, zwischen ihm und uns
hat sich eine stillschweigende Solidarität
entwickelt. Schließlich stehen auch wir draußen und
erleben nicht nur Freundlichkeit von den zum
Gottesdienst hastenden Menschen. Karin, die ganz
allein am Seiteneingang Position bezogen hat, macht
sich zwischendurch bei uns Luft: „Wie die drängeln,
unfassbar. Eben hat mich eine Gruppe von Frauen
richtiggehend umgerannt – ich glaub, die waren vom
Kirchenchor.“ Kann schon sein,
murmele ich lakonisch und denke daran, wie man als
chorsingende Hausfrau am Weihnachtsabend unter Druck
gerät.
Mit den Körbchen, aus denen wir jeweils ein
Lesezeichen am Bembel herausziehen, stehen Eva und
ich am Fuß der Stufen, die zum Hauptportal
hinunterführen. Dabei respektieren wir die mit dem
Türhüter getroffene Abmachung und verdecken den
Ankommenden nicht die Sicht auf seine Tür
öffnenden und Obolus heischenden Hände.
„Guten Abend. Wir sind vom Bonner Friedensbündnis
und schenken Ihnen ein Lesezeichen“, oder: „Ein
Lesezeichen vom Friedensbündnis zum Fest des
Friedens.“ Dabei unbedingt lächeln und Blickkontakt
aufnehmen. Nicht alle der Angesprochenen reagieren
abweisend und hasten vorbei. Viele nehmen das
Kärtchen mit kurzem Dank, einige wollen sich mit
einer Geldspende revanchieren. Wir weisen auf den
Mann an der Türklinke, auch die paar Münzen, die
sich zum Schluss doch in unseren Körbchen finden,
gehen an ihn. Sehe ich das richtig, dass die am
besten gekleideten Gottesdienstbesucher am wenigsten
freundlich sind? Keine Hand frei für unsere
Lesezeichen haben auch die Christmessenprofis, die
mit Klappstühlen unterm Arm ins Kircheninnere
streben. Zum Glück ist es heute Abend nicht wirklich
kalt, aber ich frage mich doch langsam, wann mir das
Lächeln auf meinem Gesicht gefrieren wird. Schlag
elf, als die große Glocke schweigt, wird die Tür von
innen geschlossen, der Türsteher nimmt seine Hand
von der Klinke, wir tauschen Weihnachtswünsche, und
er geht seiner Wege.
Unser zweiter Einsatz soll vor der evangelischen
Kreuzkirche sein. Bis dahin bleibt uns eine knappe
halbe Stunde Die Stadt scheint ausgestorben.
Aussichtslos, hier irgendwo einen Kaffee oder
heißen Tee zu bekommen. Vor der Buchhandlung an der
Ecke zwischen Universität und Kaiserplatz nehme ich
die Thermosflasche und drei Becher aus meinem
Rucksack, und auf den Eingangsstufen stehend stoßen
wir mit Glühwein auf unseren Weihnachtsabend an.
Das ist wohl ein seltsamer Anblick, diese drei alten
Schachteln Glühwein süffelnd vor der Buchhandlung,.
Mancher der Vorübergehenden dreht sich nach uns um
mit einem neugierig-mitleidigen und kopf-
schüttelnden Blick. Von zwei männlichen Begleitern
eingerahmt schreitet auch eine stadtbekannte
Künstlerin und Feministin vorbei. Sie müsste mich
kennen, aber sie sieht durch mich hindurch. Hätte
ich das an ihrer Stelle vielleicht auch getan? Na
ja.
Am unteren Ende des Kaiserplatzes verabschieden wir
uns von Karin. Sie will nach Hause, reist morgen
früh zu ihren Eltern. Eva und ich gehen zurück zur
Kreuzkirche am Rande des Hofgartens. Die Kirche ist
bereits geöffnet, wenige Menschen sitzen in dem
weiten, von Kerzen matt erhellten Säulenraum. Im
Vorraum der Küster. Er bietet uns freundlich ein
Heft mit Weihnachtsliedern an „damit Sie gleich
mitsingen können.“ Wir überreichen ihm ein
Lesezeichen und erklären, weshalb wir gekommen sind.
Ich finde es überhaupt nicht selbstverständlich,
dass er antwortet: „Aber natürlich können Sie das
machen … Bleiben Sie doch hier drinnen.“ Aber wir
stellen uns lieber vor die weit geöffnete
Kirchentür. Diesmal spüren wir nichts von dem
Gegensatz zwischen draußen und drinnen, der uns vor
dem Münster frösteln ließ. Kaum ein Kirchenbesucher,
der unser bescheidenes Geschenk nicht annimmt. „Ein
Lesezeichen vom Bonner Friedensbündnis … ein
Lesezeichen zum Fest des Friedens“ - ich gebe mir
Mühe, die Worte nicht herunterzuleiern, und fühle
mich belohnt durch ein Lächeln, ein zustimmendes
Wort. Die vier Leute, die jetzt vor uns stehen,
sagen, sie seien nur zu Besuch hier, ja, Amerikaner
seien sie, Quäker. Wir erzählen einander, wie es
war, hier bei uns und bei ihnen drüben, als wir und
so viele demonstrierten gegen den Krieg im Irak..
Hat nichts gebracht, sagen sie, also versuchen wirs
wieder, beim nächsten Krieg. Ich weise auf Eva, die
seit fünf Jahren an jedem Samstag auf dem Bonner
Münsterplatz zum Frieden mahnt.
Es schlägt Mitternacht, unsere Körbchen sind leer.
Zweihundert bebänderte Lesezeichen verteilt an
Menschen, die vielleicht merken, dass da hinter den
Worten „Friede auf Erden“ ein deutliches
Fragezeichen steht. Eva und ich sitzen nebeneinander
auf der Kirchenbank. Wir singen die lieb gewordenen
Lieder und hören die Geschichte von der Krippe in
Bethlehem. Ist das wirklich der Ort in Palästina, an
dem heute Menschen von Existenzverlust, Vertreibung,
Tod bedroht sind, einfach weil dieses Bethlehem ihre
Heimat ist?
Die Musik von der Empore, Chor, Orchester, Orgel,
diese Musik schenkt mir einen Raum, in dem meine
Gedanken zur Ruhe kommen. Vor mir auf den Bänken
haben die Menschen Lesezeichen liegen. Ich denke,
sie werden sie mitnehmen, wenn sie nach Hause gehen.
Eva und ich gehen zusammen die paar Schritte bis zur
Tiefgarage der Universität. Nein danke, sage ich,
als sie anbietet, mich nach Hause zu fahren, und wir
umarmen uns zum Abschied. Ich genieße den
nächtlichen Heimweg zu Fuß: in welcher anderen Stadt
könnte ich so unbehelligt allein durch die Nacht
gehen? Frieden, denke ich. Ein guter Abend. Aber
was, bitte, haben die Menschen an den Kriegsorten
davon, die wir auf unserem Kärtchen aufgezählt haben
– die Menschen in Irak, in Afghanistan, in Darfur,
im bitterarmen Somalia, das nun wieder, wie wir
heute hörten, im Krieg liegt mit seinem ebenso
bitterarmen Nachbarn Äthiopien? Und immer wieder
Palästina/Israel: Besatzung, Krieg und Leid seit
beinah vierzig Jahren. Was hätte ich einem dieser
Menschen heute Nacht zu sagen?
„Wer aufgibt, hat schon verloren“, schreibt die
Kölner Freundin, und in einem anderen Brief heißt
es: „ Auch wenn so vieles verloren geht. Verliert
die Hoffnung nicht...“ Auf unserem Lesezeichen
steht „Wir suchen Antworten“. Natürlich habe ich
keine gefunden, heute Abend nicht, und bisher
überhaupt nicht. Aber ich weiß, dass es sie gibt:
Antworten von Frieden gegen Krieg, von Leben gegen
Tod. Wir müssen weiter suchen.
Dezember 2007 - Ulrike
Vestring
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