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Palästina/Israel: Wohin geht
unsere Reise?
Jeff Halper
28. Mai 2011
Man stelle sich vor: 22. (oder 23. oder
24.) September, einen Tag, nachdem der UN-Sicherheitsrat Palästina
als Mitgliedsstaat innerhalb der Grenzen von 1967 anerkannt und die
Vollversammlung dieses Votum mit einer Mehrheit von 150 Staaten
ratifiziert hat:
° Die palästinensische Flagge neben
denen von 192 anderen Mitgliedsstaaten, deren territoriale Einheit
durch die Vereinten Nationen gewährleistet wird. Dies ist in der Tat
eine der fundamentalen Aufgaben der UNO.
° Das gesamte Kontrollsytem, das
Israel während der letzten 44 Jahre aufgebaut hat, bricht zusammen.
Es gibt keine A-,B- und C-Zonen mehr, keine Einreiseverbote nach
Jerusalem, da das gesamte Westjordanland, „Ost“-Jerusalem und Gaza
jetzt das souveräne Territorium des Staates Palästina bilden.
Zehntausende von Palästinensern beginnen einen Marsch durch das
ganze Land, begleitet von Tausenden ausländischer Unterstützer. Sie
passieren Kontrollpunkte (checkpoints), die allesamt
völkerrechtswidrig sind, und reißen sie nieder. Um unnötige
Konfrontationen zu vermeiden, werden die Siedlungen umgangen. Deren
israelischen Einwohnern wird von der palästinensischen Regierung ein
Bleiberecht angeboten, allerdings wird klargestellt, dass sie von
nun an unter palästinensischem Gesetz stehen und es
palästinensischen Bürgern freisteht, in die Siedlungen zu ziehen.
Jüdische Siedlungen, die auf privatem palästinensischen Grund
errichtet wurden, werden entweder aufgelöst oder mit entsprechender
Entschädigung ihrer Besitzer Flüchtlingen gegeben bzw. Familien,
deren Häuser von den israelischen Behörden zerstört wurden (etwa 25
000).
° Die unzähligen Kampagnen zur
Durchsetzung palästinensischer Rechte, einschließlich der
BDS-Kampagne, konzentrieren sich von nun an auf ein einziges, allen
gemeinsames Ziel: den Abzug Israels aus Palästina. Keine
Verhandlungen über Grenzen (außer die palästinensische Regierung
wünscht Grenzanpassungen), keine Verhandlungen über Siedlungen. Wie
zwischen Staaten üblich, werden Palästina und Israel über
Sicherheitsfragen verhandeln, allerdings unter dem Gesichtspunkt
beiderseitigen Vorteils. Es müssen keine israelischen
Sicherheitsmaßnahmen akzeptiert werden, durch die die
palästinensische Souveränität in irgendeiner Weise beeinträchtigt
würde – wie etwa eine israelische Militärpräsenz im Jordan-Tal,
Änderungen der 1967er Grenzen, die Israel die Beibehaltung seiner
großen Siedlungsblöcke erlauben, oder die israelische Kontrolle des
palästinensischen Luftraums.
° In den Hauptstädten der Welt und
bei der UNO werden die palästinensischen „Repräsentanten“ durch
Botschafter ersetzt. Die palästinensische Regierung ist jetzt in der
Lage, die internationalen Gerichtshöfe anzurufen und UN-Verfahren
einzuleiten, um Gerechtigkeit und Entschädigung für Jahrzehnte der
Besatzung zu erlangen, ohne sich der Hilfe dritter Parteien bedienen
zu müssen. All die israelischen Winkelzüge zur Umgehung des
Völkerrechts haben ausgedient. Palästina ist unzweideutig ein
besetztes Land. Keine Auseinandersetzungen mehr über die schlichte
Tatsache der Besatzung, keine Verwendung mehrdeutiger Begriffe wie
„umstrittene“ oder „verwaltete Gebiete“, die nur dem Zweck dienen,
die Tatsachen zu vernebeln. Keine „Annektierung“ von Ostjerusalem
mehr. Jetzt sind es Regierungen und die Vereinten Nationen, und
nicht mehr nur zivilgesellschaftlichen Gruppen, die zu effektiven
internationalen Sanktionen gegen Israel aufrufen, einschließlich des
Boykotts militärischer Güter. Ganz wichtig ist es, gegenüber Israel
mit Nachdruck Ansprüche rückwirkend bis 1948 geltend zu machen,
besonders vordringlich hier das Recht der palästinensischen
Flüchtlinge auf Rückkehr.
° Die Palästinensische
Autonomiebehörde, jetzt eine Übergangsregierung der nationalen
Einheit, beraumt Wahlen an, an denen teilzunehmen, alle
Palästinenser der Welt berechtigt sind. Die palästinensische
Staatsbürgerschaft steht jedem Palästinenser zu, der sie haben
möchte. Die Bewohner der ausländischen Flüchtlingslager wie auch die
Menschen in der Diaspora werden eingeladen, nach Hause
zurückzukehren.
° Schon vor dem September-Votum muss
deutlich gemacht werden, dass die palästinensische Vision nicht die
einer Zwei-Staaten-Lösung ist, sondern eher die eines
Zwei-Staaten-Zwischenschritts in einem Prozeß, der letztendlich in
einer Ein-Staat-Lösung resultieren wird – sei dieser demokratisch,
bi-national oder Teil einer regionalen Konföderation. Die Dynamik
zweier Völker, die sich in das gleiche Land friedlich und
einvernehmlich teilen, zusammen mit der Existenz einer
palästinensischen Gemeinde innerhalb Israels und dem von den
Flüchtlingen in Anspruch genommenen Recht der Rückkehr in die
Heimat, werden zu weiterer Entwicklung führen. Es mag Jahrzehnte
dauern, aber die Idee ist, dass die beiden Länder in eine stärker
inklusive Einheit im ganzen Landstrich zwischen dem Mittelmeer und
dem Jordan umgewandelt werden.
Die Palästinensische Autonomiebehörde
scheint entschlossen zu sein, im September die palästinensische
Staatlichkeit unilateral zu erreichen, obwohl sie andererseits
unbeirrt die Tür für „Verhandlungen“ offenhält. Wenn manch ein
Palästinenser Bedenken hegt hinsichtlich der Klugheit oder der
Reichweite dieses Vorstoßes – er thematisiere die Flüchtlingsfrage
nicht, so wird argumentiert, und er könne auch das Ende der
Besatzung nicht erzwingen -, so ist es reichlich spät, diese
Bedenken jetzt vorzubringen. Falls es uns nicht gelingt, alle
Hindernisse von heute bis September zu beseitigen, falls die
palästinensische Führung sich nicht mit der Zivilgesellschaft
verbindet, um die Massen der Menschen weltweit zu mobilisieren, die
die palästinensische Sache unterstützen, droht die
September-Initiative, zum bloßen Scherz zu werden, zu einem
halbherzigen Versuch, gegenüber Israel zu punkten, zu einer leeren
Geste, die zu allem Überfluss auch noch die Unfähigkeit der
palästinensischen Führung bloßstellen wird, Israel wirkungsvoll
Paroli zu bieten. Dies wäre in der Tat ein Desaster.
Wenn diese Gelegenheit im September voll
genutzt werden soll, dann muss die palästinensische
Einheitsregierung unmissverständlich und sofort ihre Absicht
erklären, im September die Unabhängigkeit und den Beitritt zur UNO
anzustreben. Dem muss ganz schnell eine effektive Mobilisierung der
Unterstützung durch die weltweite Zivilgesellschaft folgen. Mahmud
Abbas und ganz allgemein die PA sollten dies als einen integralen
Bestandteil der palästinensischen Strategie ansehen.
Die internationale Zivilgesellschaft ist
der wichtigste Verbündete der Palästinenser, aber als
Nicht-Palästinenser können wir nur in Reaktion auf einen
palästinensischen Aufruf aktiv werden. Die Mobilisierung sollte
daher mit einem Aufruf zur Unterstützung eingeleitet werden, zu dem
die gewählten Repräsentanten des palästinensischen Volkes in den
besetzten Gebieten (der nationalen Einheitsregierung) und
gleichzeitig die Palästinenser in den Flüchtlingslagern, die
Palästinenser innerhalb Israels und die in der Diaspora aufrufen.
Unmittelbar darauf könnten Friedens-Aktivisten überall auf der Welt
einen Aufruf der Zivilgesellschaft zur Unterstützung der
palästinensischen Initiative in der UNO veröffentlichen, der von
Tausenden unterzeichnet und der UNO im September überreicht würde.
Die Mobilisierung sollte ihren Höhepunkt
in einer gewaltigen „Nebenveranstaltung“ vor der UNO
erreichen, die den Antrag auf Mitgliedschaft begleitet, eine
Demonstration der Unterstützung vor dem Hauptquartier der UNO in New
York, an der Zehntausende aus aller Welt teilnehmen. Dies würde eine
Berichterstattung und eine Erwartung hervorrufen, über die sich
hinwegzusetzen den USA und Europa schwerfallen würde. Die Zeit ist
extrem knapp, aber die Infrastruktur, dies zu ermöglichen, ist
vorhanden – wenn wir uns sputen.
Und schließlich sollte die PA einen
hochrangigen Repräsentanten ernennen, der über Glaubwürdigkeit,
Organisationstalent und Artikulationsfähigkeit verfügt, um die
Kampagne zu koordinieren und die Zivilgesellschaft zu mobilisieren.
Diese Persönlichkeit sollte die Befugnis bekommen, eine Gruppe
fähiger Sprecher zusammenzustellen, die in Palästina und in
wichtigen Ländern den argumentativen Rahmen bereitstellen, der es
ermöglicht, der Kampagne entgegenzutreten, die Israel und seine
Unterstützer gegen die September-Initiative bereits gestartet haben.
Die palästinensische Öffentlichkeitsarbeit war immer schon notorisch
schlecht, und das diplomatische Korps der PA sollte mit jungen,
eloquenten, aktiven Leuten aufgefrischt werden.
Unabhängig von unserer Einschätzung der
September-Initiative – und wir müssen uns fragen, ob wir es uns
leisten können, Gelegenheiten dieser Art verstreichen zu lassen –
müssen wir, falls die PA den Beitritt zur UNO beantragt, alles
unternehmen, was wir können, um sie zum Erfolg zu führen. Und selbst
wenn sie keinen Erfolg haben sollte (wir alle wissen, dass ein
amerikanisches Veto unvermeidlich ist), wird die Initiative doch in
zweierlei Hinsicht Wirkung haben:
Zunächst einmal hat sie den fruchtlosen
„Verhandlungen“ ein Ende bereitet. Internationale Unterstützung für
September, einschließlich der durch große europäische Länder,
entsteht genau aus der Erkenntnis, dass Verhandlungen durch Israel
und seinen amerikanischen Schirmherrn unmöglich gemacht wurden. Der
Nebel hat sich verzogen. Sogenannte Verhandlungen werden keine
Fassade mehr sein für die fortgesetzte israelische Besatzung. Genau
die Positionen, die Netanyahu abgesteckt hat – die Anerkennung
Israels als „jüdischer“ Staat; Israels Einverleibung der
Siedlungsblöcke; ein „vereintes“ Jerusalem unter israelischer
Kontrolle; ein demilitarisierter palästinensischer Staat, der
Grenzen, Land, Rohstoffe oder die Bewegungsfreiheit seiner Bürger
nicht unter seiner Kontrolle hat; eine Lösung des
Flüchtlingsproblems „außerhalb Israels“ und keine Verhandlungen mit
einer Regierung, der die Hamas angehört -, genau diese Positionen
werden offensichtlich unhaltbar. (1)
Und zweitens wird die Ablehnung eines
palästinensischen Beitritts zur UNO der „Zwei-Staaten-Lösung“ ein
Ende bereiten. Solange sich die Möglichkeit zweier Staaten
aufrechterhalten ließ, konnte jede andere Option, einschließlich der
eines einzigen Staates oder einer regionalen Konföderation, effektiv
ausgeschlossen werden. Die Überwindung dieser Position wird nach
September den Weg frei machen für die einzig wirklich mögliche
Lösung: den einen Staat für alle Bewohner des Landes.
Der September scheint eine politische
Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, und die, sofern sie
ernsthaft genutzt wird, für den palästinensischen Kampf von Gewinn
sein wird, was auch immer dabei herauskommt. Entweder bringen wir
gute Argumente für die Nichtverfolgung der September-Initiative vor
und präsentieren eine wirkungsvolle Alternativstrategie, oder wir
sollten sie energisch betreiben. Dies allerdings hängt leider von
der Führung einer Palästinensischen Autonomiebehörde ab, die nie ein
gesteigertes Interesse an der Mobilisierung der Zivilgesellschaft
gezeigt hat und immer noch unschlüssig zu sein scheint. Eine Option,
die wir auf keinen Fall haben, ist, die Angelegenheit einfach
auszusitzen.
(1) Wohl kaum in den Augen der über 500
Mitglieder des amerikanischen Kongresses. Bei der Rede, die
Netanyahu am 24. 5. 2011 vor beiden Häusern hielt, feierten sie ihn
29 Mal, also etwa alle zwei Minuten, mit „standing ovations“. (Anm.
d. Übs.)
Übersetzung: Jürgen Jung/Eckhard Lenner
Jeff Halper
ist Leiter des Israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen (ICAHD).
Er ist erreichbar unter <jeff@icahd.org>
SALAM SHALOM
Arbeitskreis Palästina-Israel e. V.
www.salamshalom-ev.de salamshalom.ak@googlemail.com
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