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ICAHD’S zukünftige Aufgaben: Widerstand,
Verteidigung, strategische Planung
Jeff Halper, 23.
Januar 2013
www.icahd.org/news
ICAHD war und ist
eine politische Organisation mit dem Ziel, den
Israelisch-Palästinensischen Konflikt nicht nur zu
managen, sondern ihn zu lösen. Wir verstehen uns als
politischen Akteur, nicht bloß als Protestgruppe.
Das verlangt außer Protestaktionen eine Vision. Aus
ihr ergibt sich ein Endziel –gerechter Friede - und
eine Strategie zu seiner Erreichung.
Es gibt drei
Realitäten, die unsere Arbeit im wesentlichen
bestimmen. Erstens sind wir eine
Graswurzel-Organisation. Als Organisation der
Zivilgesellschaft musste ICAHD Zugang gewinnen zu
den Entscheidungsebenen von Regierungen und
internationalen Körperschaften. Sie sehen in uns
keine legitimen Partner, da wir nicht demokratisch
gewählt sind, kaum politische Macht haben und keine
anerkannte politische Organisation vertreten. Wir
haben diesen Zugang bis zu einem gewissen Grade
erreicht, aber täuschen wir uns nicht: Regierungen
sind nicht unsere Freunde, sie stehen nicht auf
unserer Seite, und sie werden gewiss keine wirksamen
Schritte unternehmen, um die Besatzung zu beenden.
Wir, die Zivilgesellschaft, sind auf uns selbst
angewiesen - jedenfalls bis wir so viel
Unterstützung mobilisieren können, dass sie uns zur
Kenntnis nehmen müssen.
Zweitens ist ICAHD nicht in der
Lage unabhängig zu handeln. Wir haben uns noch nie
für eine bestimmte Lösung des
israelisch-palästinensischen Konflikts eingesetzt,
weil wir das für das Vorrecht der Palästinenser
halten. Wir können ihnen keine Lösung diktieren, als
Israelis schon gar nicht. Da sich indessen jede
vorgeschlagene Lösung auch auf uns (als Israelis)
auswirkt, sehen wir uns in der Verantwortung, die
Vor- und Nachteile der verschiedenen
Lösungsvorschläge zu analysieren und eigene
Vorstellungen einzubringen. Bei all dem sind wir
stets bemüht, unsere Aktivitäten und Kampagnen mit
unseren palästinensischen Partnern abzustimmen
und mit ihnen
gemeinsam strategisches brainstorming zu betreiben.
Also brauchen wir
palästinensische Partner, aber das ist heutzutage
nicht mehr einfach. Die Palästinenser, mit denen wir
normalerweise zusammenarbeiten, gehören im
allgemeinen dem PNGO an, dem Netzwerk
palästinensischer Nichtregierungsorganisationen.
Aber eben diese Palästinenser glauben nicht länger
an eine Zweistaaten-Lösung, ohne dass sie bislang
einer wie auch immer gearteten Einstaat-Lösung
zuneigen. Als Teil einer nationalen
Befreiungsbewegung sträuben sie sich verständlicher
Weise, eine Lösung aufzugeben, die ihnen
Selbstbestimmung garantieren würde, und sei es nur
in einem winzigen Staat.
Und ebenso zögern
sie, diesen Unabhängigkeitskampf zu beenden
zugunsten eines Kampfes für Bürgerrechte in einem
gemeinsamen Staat mit israelischen Juden - eine
Perspektive, die in ihren Augen nicht bloß
problematisch, sondern wenn überhaupt nur nach
jahrelangen weiteren Demütigungen und Leiden
erreichbar wäre. Kurz gesagt, befinden wir uns
zwischen verschiedenen Lösungen, ohne ein klares
Ziel, für welche wir uns einsetzen sollen.
Etwas kommt
erschwerend hinzu: der Widerstand gegen eine
sogenannte Normalisierung macht gemeinsames Handeln
und strategische Planung mit unseren
palästinensischen Partnern zunehmend schwierig, wenn
nicht gar unmöglich. Zwar fällt die Zusammenarbeit
mit ICAHD nicht unter den Negativbegriff der
„Normalisierung“, wie sie 2000 von der PNGO, dem
Netzwerk palästinensischer
Nichtregierungsorganisationen, definiert wurde.
Israelische Gruppen, die die drei wesentlichen
Elemente des palästinensischen Kampfes akzeptieren
–Ende der Besatzung, Rückkehrrecht und gleiche
Rechte für die palästinensischen Staatsbürger
Israels – werden als Partner anerkannt.
Die zu Recht
abgelehnte „Normalisierung“ betrifft die
Zusammenarbeit mit israelischen Organisationen, die
diese drei Elemente nicht akzeptieren. ICAHD hat sie
akzeptiert, und doch erleben wir, wie auch andere
nicht- oder antizionistische Gruppen, ein Abrücken
von Seiten unserer palästinensischen Partner. Und
was unter dem Blickwinkel des gemeinsamen Kampfes
und der Vision eines zukünftigen Miteinanders noch
schwerer wiegt: die palästinensische Linke
befürwortet neuerdings einen Diskurs im Sinne von
„Zionismus ist Kolonialismus“. Egal, ob diese
Sichtweise berechtigt ist, hat sie ein
grundsätzliches Abrücken vom Modell Südafrika zur
Folge, das letztlich auf Integration abzielt. Man
bewegt sich mehr in Richtung auf ein algerisches
Modell, bei dem, wenn das kolonisierte Heimatland
(Algerien bzw. Palästina) befreit ist, die
Kolonisatoren (die französischen „Pieds noirs“ bzw.
die israelischen Juden) hinausgeworfen werden. Zwar
wird diese grundsätzliche Kursänderung noch nicht
klar ausgesprochen, aber sie wirkt sich allmählich
hindernd auf die Zusammenarbeit der Palästinenser
sogar mit Gruppen wie ICAHD aus.
Der dritte Punkt:
obwohl die palästinensischen
Graswurzelorganisationen und die kritische
israelische Linke eine Art internationale Bewegung
zur Lösung des Konflikts geschaffen haben, haben wir
es nicht vermocht, dieser Bewegung eine Richtung zu
geben und eine echte politische Alternative
anzubieten. Gewiss erweist sich der praktische
Aktivismus als tapfer, kreativ und ausdauernd – das
gilt für Bil’in, Ni’ilin und Budrus über die
Protestaktionen in Sheikh Jarrah und in den Hügeln
südlich von Hebron bis zur Olivenernte und zum
Wiederaufbau palästinensischer Häuser. Zwar halten
alle diese Aktivitäten das Palästina-Problem im
politischen Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, aber
es fehlt dabei an einem Programm und einer
Strategie. Das Gleiche gilt für BDS (Boykott,
Investitionsrücknahme und Sanktionen): so wichtig es
ist, um den Konflikt im Zentrum öffentlichen
Interesses zu halten, ist es doch nur ein Werkzeug,
also ein Mittel, keine Strategie zur Beendigung der
Besatzung.
Was uns fehlt, ist
also sowohl eine Lösung, für die wir uns einsetzen,
als auch eine Strategie, um sie zu erreichen. Hinzu
kommt eine merkwürdige Entwicklung bei der jüngeren
Aktivistengeneration, Palästinensern wie Israelis
gleichermaßen: sie lehnen politische Arbeit
innerhalb einer Organisation oder Bewegung ab. Was
sich durchsetzt ist eine Normalisierung
(Verallgemeinerung?) des Widerstandes: die jüngeren
Aktivisten, da sie den Konflikt nicht mehr für
lösbar halten, begnügen sich mit örtlich begrenzten
verschiedenartigen Widerstandsaktionen.
Das kann durch
„Volkswiderstand“ geschehen, wie in den
entsprechenden Komitees, die sich in Beit Ummar, im
Lager Bab esh-Shams, bei den Anarchisten gegen die
Mauer und in der Sheikh Jarrah-Solidarität bilden.
Oder durch die Arbeit an praktischen Projekten, die
von internationalen Spendern ermutigt und finanziert
und von Nichtregierungsorganisationen verwaltet
werden. In gewisser Weise kann man beide Formen als
Abschied von der Politik zur Beendigung der
Besatzung und zur Schaffung einer gerechten Zukunft
ansehen. Natürlich befassen sich auch die jungen
Leute mit Politik und Widerstand gegen den status
quo, aber sie zeigen dabei kaum Visionen, Analyse,
Strategie oder ein Programm, und nicht einmal
gegenseitige Solidarität. In den noch bestehenden
politischen Organisationen sind hauptsächlich die
Alten oder Älteren präsent, unter ihnen viele
Aktivisten aus den sechziger Jahren.
Und wie geht es nun
mit ICAHD weiter? Wir haben momentan keine Lösung,
für die wir uns einsetzen, keine wirkliche
politische Partnerschaft mit den Palästinensern,
keine gemeinsame Sprache mit jüngeren Aktivisten.
Also sieht es so aus, dass ein grundsätzliches
Überdenken unserer Strategie angesagt ist. Hinzu
kommt, dass der finanzielle Engpass auf Grund
unserer Abhängigkeit von einigen wenigen großen
Spendern uns, wie Ihr alle wisst, ebenfalls Sorgen
macht.
Mit drei Beiträgen
zum gemeinsamen Kampf hat sich ICAHD in all den
Jahren hervorgetan: Widerstand, Verteidigung und
strategische Planung. Sie alle behalten ihre
herausragende Wichtigkeit. Widerstand heißt in
unserem Fall, die Zerstörung palästinensischer
Häuser zu verhindern, zerstörte Häuser wieder
aufzubauen und die Zerstörungen von Seiten Israels
zu dokumentieren. Verteidigung bedeutet, dass wir
unsere kritische Analyse des Konflikts in der
Öffentlichkeit und bei den Entscheidungsträgern zu
Gehör bringen. Und strategische Planung schließlich
heißt, dass wir versuchen, aus den Trümmern
erstarrter Lösungen funktionierende und gerechte
Lösungsvorschläge zu konzipieren und wirksame
Strategien für ihre Umsetzung zu entwickeln.
Der Schwebezustand
„zwischen Lösungen“, in dem wir uns gegenwärtig
befinden, bietet eine Gelegenheit, unsere
politischen Lösungsvorschläge, unsere Strategien und
unsere Organisationsstruktur zu überdenken. Das
sollten wir als Bewegung insgesamt eigentlich
gemeinsam tun – aber wir tun es nicht. Solange es
eine solche Gemeinsamkeit nicht gibt, beschränken
wir von ICAHD uns darauf, für unsere Organisation
ein Konzept für eine Art Thinktank für Analyse und
strategisches Handeln zu entwerfen. Bisher waren wir
eine zentralisierte Organisation mit internationalen
Unterstützergruppen. Allmählich verstehen wir uns
als globales Netzwerk von Schwesterorganisationen
mit gemeinsamer Analyse und Fürsprache-Initiativen.
ICAHD ist auf engste
verbunden mit dem Tagesgeschehen in Israel und in
den besetzten Gebieten. Wir können Ereignisse und
Entwicklungen einordnen in die fortlaufende
Evaluierung eines Gesamtkonzeptes zur Erreichung
eines gerechten Friedens. Außerdem sind wir erfahren
in zivilgesellschaftlicher Diplomatie. Das befähigt
ICAHD, einen einzigartigen politischen Spielraum zu
schaffen; wir können Geschehnisse interpretieren und
bei Bedarf eine scharfsinnige Analyse beisteuern.
Bei all dem wären wir für unsere Partner ein
Katalysator für die Konzeption eigener
Handlungsinitiativen.
Möglicherweise hat
die Finanznot, deretwegen wir unser Büro aufgeben
mussten, ihr Gutes: in diesem Schwebezustand
zwischen verschiedenen Lösungen bringt sie uns dazu,
unsere Arbeit und unsere Organisation zu überdenken.
Wir haben weiterhin unsere Basis in Beit
Arabiya (s.u.), wir veranstalten kritische
Rundreisen, Wiederaufbau-Camps und sonstige
Programme. Ansonsten arbeiten wir von zu Hause aus:
wir schreiben Analysen und stellen
Informationsmaterialien her. Sie werden von
ICAHD-Gruppen und Partnerorganisationen im Ausland
oder auf unseren zahlreichen
Unterstützungsmissionen in aller Welt verteilt. (Zum
Beispiel schreibe ich dies in Oslo, wo Silje Ryvold
von der norwegischen ICAHD-Gruppe mir eine
zehntägige Vortragsreise quer durch das Land
organisiert hat.)
Wir werden weiter
finanzielle Unterstützung brauchen – vor allem für
den Wiederaufbau von Häusern, für die
Veröffentlichung unserer Materialien und die Pflege
unserer Website. Aber laufende Ausgaben haben wir
nur noch für ein paar Gehälter und minimale
Bürokosten.
Also können wir
unsere Kräfte darauf konzentrieren, einen wirklichen
Friedensprozess voran zu bringen, anstatt dauernd
hinter Spenden herzujagen. In der Tat: eine
Fundraising-Strategie zu entwickeln, die auf
Graswurzel-Unterstützung für genau definierte
Aktivitäten abzielt, anstatt zu versuchen, Sponsoren
nach ihren eigenen Vorstellungen zu bedienen – das
wird eine richtige Befreiung sein!
So stehen wir also
zum Jahresbeginn am Anfang eines neuen Einsatzes für
Israel/Palästina und für das, was ich „das globale
Palästina“ nenne (mehr davon in unseren nächsten
Newsletters). Wir verpflichten uns auch heute zum
Einsatz für einen gerechten Frieden – mit neuen
Ideen, neuen Organisationsformen und neuen Lösungen.
ICAHD wird sich immer wieder neu erfinden, auf
Wegen, wie sie die politischen Realitäten jeweils
fordern, - solange bis wir unsere Ziele erreichen.
Unser Dank gilt allen, die zu uns halten, während
wir voran gehen.
Aus dem
Englischen übertragen von Ulrike Vestring, ulrike@vestring.net
Nachtrag: Das
Haus Arabiya im Dorf Anata nordöstlich von Jerusalem
ist ein lebendiges Symbol des Widerstandes gegen die
Besatzung und des Wunsches nach Gerechtigkeit und
Frieden. Das Haus gehört Salim und Arabiya Shawamreh
und ihren sieben Kindern. Die israelischen Behörden
haben das Haus sechsmal zerstört, ICAHD hat es jedes
Mal wieder aufgebaut.
Salim und Arabiya
haben ihr Haus dem Gedenken an zwei
Friedensaktivistinnen gewidmet, die beim friedlichen
Widerstand gegen Hauszerstörungen in Gaza getötet
wurden. Neben der bekannten jungen Amerikanerin
Rachel Corrie gilt dieses Gedenken der
Palästinenserin Nuha Sweidan, die bei der Zerstörung
ihres Nachbarhauses unter Trümmern verschüttet
wurde, als sie ihr anderthalbjähriges Baby schützen
wollte. Auch ihr ungeborenes Kind starb dabei.
ICAHD nutzt Beit
Arabiya als Basis im Westjordanland; auch für das
diesjährige Wiederaufbau-Camp werden auf dem
Grundstück Zelte errichtet, und Arabiya Shawamreh
kocht für die jungen Aktivisten aus aller Welt.
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