Israel:
Trotz Rückzugsplan werden Häuser weiterhin zerstört
Israelische Truppen reißen Häuser ab, um Palästinenser aus der
Grenzgegend zu vertreiben
Tausende
von Palästinenserhäusern sind von der israelischen Armee illegal
zerstört worden, und zwar unabhängig davon, ob dies militärisch
notwendig war, erklärte Human Rights Watch in einem heute
(18.10.04) veröffentlichten Bericht. Damit soll eine
„Pufferzone“ entlang des Gasastreifens an der Grenze zu Ägypten
hergestellt werden. Um diese Zone auszuweiten, will die
israelische Regierung noch mehrere Hundert Häuser abreißen
lassen, auch wenn sie offiziell gerade dabei ist, sich aus dem
Gebiet „zurückzuziehen“.
Die
„Israel Defense Force“ (IDF), die am südlichen Ende des
Gasastreifens häufig in Feuergefechte mit bewaffneten
Palästinensern gerät, behauptet, die Zerstörung der Häuser sei
eine militärische Notwendigkeit. Human Rights Watch verfügt über
Daten, die zeigen, dass durch die Aktionen der IDF innerhalb der
letzten vier Jahren 16.000 Menschen obdachlos geworden sind –
und dass es bei den Zerstörungen keine Rolle spielte, ob die
betreffenden Häuser wirklich eine Bedrohung darstellten.
Das Völkerrecht gesteht einer Besatzungsmacht – wie sie Israel
in diesem Falle ist – die Zerstörung von Zivileigentum nur dann
zu, wenn dies für militärische Operationen unbedingt nötig ist.
Dient eine solche Zerstörung ausschließlich dem Zweck die
allgemeine Sicherheitslage der Besatzer zu festigen, oder als
reine Präventivmaßnahme gegen hypothetische Gefahren ist sie
unzulässig.
„Israel verhält sich im südlichen Gasastreifen so, als sei jeder
Palästinenser ein Selbstmordattentäter und jedes Haus ein
Hauptquartier für Bombenleger,“ kritisierte Kenneth Roth,
Direktor von Human Rights Watch. „Die systematische
Massenzerstörung von Privathäusern stellt einen schwerwiegenden
Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht dar, durch die Zivilisten
geschützt werden sollen.“
Der 135-seitige Bericht „Razing Rafah: Mass Home Demolitions in
the Gaza Strip“ konzentriert sich auf die am südlichen
Gasastreifen gelegene Stadt Rafah, in der mehr als 10% aller
Einwohner ihre Häuser verloren haben. Die im Gasastreifen, in
Israel und Ägypten durchgeführten Untersuchungen und Interviews,
zeichnen mit Hilfe von Satellitenkarten, Graphiken und
Fotographien ein genaues Bild der illegalen Zerstörung durch die
IDF. Das sich dabei abzeichnende Muster bestätigt, dass die
israelische Regierung hier ihr Ziel weiterverfolgt: Das
Grenzgebiet soll ausgedehnt werden und bevölkerungsleer sein,
damit die Kontrolle über den Gasastreifen langfristig gesichert
und erleichtert wird. Von absoluter militärischer Notwendigkeit
kann hingegen keine Rede sein.
Die IDF bringt zwei Argumente für die Ausdehnung der Pufferzone.
Erstens sollen damit Schmugglertunnel von Ägypten gesperrt
werden und zweitens die Sicherheitslage der IDF-Truppen an der
Grenze verbessert werden. Human Rights Watch zufolge, sind zwar
sowohl die Schließung der Schmugglerwege, als auch die
Sicherheitsbedenken der israelischen Soldaten legitime Bedenken,
aber die Argumente der Regierung halten einer genauen
Untersuchung nicht stand.
Niemand bestreitet, dass bewaffnete Palästinensergruppen durch
die besagten Tunnel Waffen für den Kampf gegen israelisches
Militär und israelische Zivilisten einschmuggeln. Allerdings
gibt es ganz deutliche Indizien dafür, dass die IDF die Existenz
dieser Schmuggelwege als Vorwand benutzt, Häuser zu zerstören
und die „Pufferzone“ illegal zu erweitern.
Erstens wird die Anzahl der Tunnel von vorne herein übertrieben.
Zweitens scheinen der IDF anerkannte Methoden zum Aufspüren und
Sperren solcher Tunnel – z.B. seismische Sensoren,
elektromagnetische Induktion oder Radar – unbekannt zu sein.
Würde man solche Methoden anwenden, könnte sich die IDF einen
Großteil ihrer Operationen in Rafah, bei denen Häuser zerstört
werden und manchmal Menschen umkommen, sparen. Es kommt zudem
immer wieder vor, dass die IDF ganze Häusergruppen abreißt, um
Tunnel zu „schließen“, die zuvor erwiesenermaßen schon durch die
palästinensischen Behörden versiegelt worden waren.
„Es geht dem israelischen Militär überhaupt nicht in erster
Linie darum, Tunneldurchgänge unter der von ihnen beherrschten
Grenze zu zerstören, sondern vielmehr darum, mit Gewalt immer
tiefer nach Rafah vorzudringen,“ machte Roth klar. „Dadurch
verlieren nicht nur die Palästinenser ihre Häuser, sondern auch
die Sicherheitslage für die IDF-Soldaten selbst verschlechtert
sich.“
An der Grenze bei Rafah kommt es regelmäßig zu Feuergefechten
zwischen bewaffneten Palästinensergruppen und den IDF-Truppen.
Die von der IDF angeblich zum Schutz ihrer Soldaten ergriffenen
Schritte gehen jedoch weit über die völkerrechtlich zulässigen
Maßnahmen und die tatsächlichen Sicherheitsbedürfnisse der Armee
hinaus. 2003 wurde zum Beispiel in der schon geräumten
„Pufferzone“ zum Schutz der Truppen eine acht Meter hohe Mauer
errichtet. Dieser zusätzlichen Maßnahme zum Trotz wurden in
Rafah im selben Jahr dreimal so viele Häuser zerstört wie in den
Jahren zuvor.
„Natürlich kann die IDF zur Rechtfertigung mit ausgeklügelten
Begründungen aufwarten,“ sagte Roth, „aber die Argumente halten
einer genauen Untersuchung nicht stand, sondern zeigen vielmehr
ein präzises System ungerechtfertigter Gewalt und Verwüstung.“
Mitte Mai verabschiedete die israelische Regierung ein Programm,
mit dem die „Pufferzone“ durch die Zerstörung weiterer Dutzender
oder sogar Hunderter Häuser noch stärker erweitert werden soll.
Von der IDF kam daraufhin offensichtlich die Empfehlung, alle
Häuser im Umkreis von 400 Metern zur Grenze müssten zerstört
werden. Eine derartige Verwüstung an einem der am dichtesten
besiedelten Orte der Welt würde Tausende von Palästinensern
obdachlos machen.
Der Bericht geht auch darauf ein, dass im Mai viele Häuser und
Teile der Infrastruktur in Rafah zerstört wurden – und zwar aus
Rache für den Tod von fünf IDF-Soldaten, die von militanten
Palästinensern getötet worden waren. In jenem Monat sorgten
umfangreiche IDF-Aktionen dafür, dass über 200 Häuser abgerissen
wurden, viele davon gar nicht einmal in Grenznähe, sondern in
der Stadtmitte. Panzer mit schweren Geschützen mähten wahllos
Häuser und Läden nieder, rissen Straßen auf, zerstörten Wasser-
und Abwassersysteme und verwandelten zwei große
landwirtschaftlich genutzte Äcker in Schlammfelder.
Die IDF behauptet, dass diese Aktionen militärisch notwendig
gewesen seien, weil Palästinenser ihre Truppen massiv
angegriffen hätten. Es gibt jedoch zahlreiche Indizien dafür,
dass Letztere nur leichten Widerstand leisteten und die
israelischen Truppen bei jedem Übergriff die Lage innerhalb
kurzer Zeit unter Kontrolle hatten. In manchen Fällen machte die
IDF weit von der Grenze entfernten Häusern dem Erdboden gleich –
und zwar noch nachdem sie die Gewalt über die betreffende Gegend
errungen hatte. Die Art und Weise in der dies geschah –
zeitaufwändig und umfassend – zeigt, dass die Truppen nicht „im
Eifer des Gefechts“ handelten, sondern die Gebäude ganz
systematisch abrissen.
Die US-Regierung und auch europäischen Staaten haben Israel
bisher nicht für seine Missachtung des Völkerrechts
verantwortlich gemacht. Ganz im Gegenteil – sie finanzieren
sogar noch Reparaturen und Umsiedlungsprogramme. Der Bericht
fordert die internationale Gemeinschaft dringend dazu auf, von
Israel entweder Reparationszahlungen an die Opfer zu verlangen,
oder aber auf eine Rückerstattung an die Geberländer zu
bestehen, wenn mit den Spendengeldern die Schauplätze illegaler
Häuserabrisse wieder hergestellt wurden.
Der Bericht übt auch ganz konkret Kritik an Caterpillar Inc.,
einer amerikanischen Bulldozer-Firma, die die schweren D9
Bulldozer herstellt, die zur Zerstörung palästinensischer Häuser
und Infrastruktur benutzt werden. Human Rights Watch ruft
Caterpillar dazu auf, der IDF keine Fahrzeuge und Fahrzeugteile
mehr zu verkaufen oder ihren Wartungsservice zur Verfügung zu
stellen, solange die Bulldozer zur illegalen Gebäudezerstörung
benutzt werden. Die Firma sollte sicherstellen, dass sie ihre
Waren und Dienstleistungen nicht bewusst einem Kunden anbietet,
der damit Menschenrechte verletzt.
Quelle:
Human Rights Watch (www.hrw.org)
Datum:
18.10.04 |