Eine Besatzung die Kinder dazu bringt sich umzubringen
von Leah Tsemel
ZNet 03.12.2003
(Leah Tsemel ist eine
israelische Anwältin die in Jerusalem
arbeitet. Das ist eine Fassung ihrer Rede
über Kinder und Menschenrechte bei der
Giorgio Cini Gesellschaft in Venedig.)
Meine Eltern
verließen Europa knapp vor dem Holocaust und
sie verloren durch diesen die meisten ihrer
Familienmitglieder. Um mir ein besseres
Leben und die Sicherheit eines eigenen
Staates zu versprechen kamen sie in jenen
Teil der Welt welcher heute Israel genannt
wird, und einmal Palästina genannt worden
ist. Nach fast 60 Jahren kann ich nicht
behaupten, dass sie dies erreichten; im
Gegenteil. Es scheint, dass meine Eltern und
andere welche den israelischen Staat bauen
wollten nicht verstanden haben, dass es
unmöglich ist eine neue Zukunft auf dem
Fundament von Unterdrückung zu bauen.
Ich habe 30
Jahre lang die PalästinenserInnen in
israelischen Gerichtshöfen verteidigt und
habe es trotz meiner Anstrengungen nicht
geschafft die Richter, ob nun in
Militärtribunalen oder im Höchstgerichtshof,
dazu zu bringen diese einfache Wahrheit zu
verstehen. Sie Situation verschlechtert sich
und letztes Jahr machte ich zwei Schritte
rückwärts für jeden vorwärts, wie in den
letzten 25 Jahren.
Der bekannte
israelische Autor David Grossman hat über
die Reinwaschung der Sprache durch die
israelische Besatzung geschrieben.
„Besatzung“ wurde in Hebräisch zu
„Entlassung“ oder „Rettung“. „Kolonisation
wurde zu „friedlicher Lösung“. „Töten“ wurde
zu „anvisieren“. Die PalästinenserInnen
antworteten auf diese Euphemismen durch die
Radikalisierung ihrer Sprache. Früher kamen
meine Klienten in mein Büro in Jerusalem und
sprachen über SoldatInnen oder SiedlerInnen.
Heute sprechen sie über al-yahud – die
Juden. „Die Juden haben mir meine ID-Karte
weggenommen“, „die Juden haben mich
geschlagen“, „die Juden haben dieses oder
jenes zerstört“. Das erschreckt mich. Wenn
der israelische Staat mit allen Juden der
Welt identifiziert wird und alle Juden auf
der Welt als SoldatInnen oder SiedlerInnen
betrachtet werden, müssen wir sehr
vorsichtig sein.
Ein
palästinensisches Kind welches heute
al-yahud sagt, was „die Juden“ bedeutet, und
damit die Leute in Uniform meint, wird
fanatisch werden und einen nationalistischen
Fanatismus entwickeln, neben einem
jugendlichen religiösen Fanatismus. Aber ein
ähnliches Problem, vielleicht sogar
schlimmer, ist, dass der religiöse
Fanatismus auf der jüdischen Seite zu
wachsen beginnt. Die jüngere Generation der
israelischen Juden und Jüdinnen wollen die
AraberInnen verbannen. An den Mauern in
israelischen Städten sehen wir hebräische
Slogans wie „Araber aus dem Land“ oder „Tod
den Arabern“. Wir erreichen einen Zustand,
in welchem die israelische Regierung offen
darüber debattiert, was sie mit Yasser
Arafat machen wird, dem gewählten
Präsidenten der PalästinenserInnen: soll man
ihn töten? Ihn abschieben? Die Wahl eines
anderen, entgegenkommenderen Präsidenten für
die PalästinenserInnen arrangieren, der
schwach genug ist um uns alles zu geben was
wir wollen?
Die
hauptsächlichen Opfer der Besatzung und der
Unterdrückung sind Inder. In Israel sind die
alten Gesetze Aus der Zeit des britischen
Mandats vor der Unabhängigkeit noch immer in
Kraft, welche es der Besatzungsmacht
erlauben kollektive Strafen durchzuführen.
Kürzlich verlor ich einen Fall. Ich hatte
versucht die Zerstörung des Hauses eines
jungen Mannes zu verhindern, eines
palästinensischen Selbstmordattentäters der
sich selbst und acht andere in der Nähe
eines militärischen Camps außerhalb Tel
Avivs umgebracht hatte. Gemäß dem Gesetz aus
der britischen Mandatszeit soll das Haus von
jemandem der einen terroristischen Angriff
durchführt zerstört werden. Als ich die
Familie anrief um ihnen zu sagen, dass ich
verloren habe, sagte die Mutter des
Selbstmordattentäters „Ich wußte, daß wir
keine Hoffnung haben. Wir haben das Haus
bereits evakuiert.“
Nur selten haben
wir in solchen Fällen die Zeit vor Gericht
zu gehen. [Haus-]Zerstörungen bestrafen
normalerweise nicht die Verbrecher sondern
ihre Familien. Sehr oft werden sie ohne
Vorwarnung durchgeführt. „Sie haben fünf
Minuten um das Haus zu verlassen!“ ist die
ganze Zeit die man [ihnen] gibt. Die
Zerstörer zertrümmern alles – die
Einrichtung und das Gewand. Ich frage die
Familien oft was sie in diesen fünf Minuten
schnell mitnehmen und sie sagen „die
Zeugnisse der Kinder“. Ihr Optimismus ist
wunderbar.
Die Kinder von
KämpferInnen, also von „palästinensischen
TerroristInnen“, werden für immer
gebrandmarkt sein. Unter der militärischen
Besatzung wird ihnen nicht gestattet das
Land zu verlassen, die Stadt zu wechseln
oder woanders zu studieren. Sie können ihre
Eltern nicht im Gefängnis besuchen.
Die letzte
Bestrafung für „terroristische“ Familien ist
es sie zu zwingen umzuziehen. Seit dem
Beginn der letzten Intifada gab es in jeder
palästinensischen Stadt in den besetzten
Gebieten eine totale Ausgangssperre, während
israelische Panzer hinein und hinausfahren
wie es ihnen passt. Es ist ein Hobby
palästinensischer Kinder auf Hügel, Berge
und die Zäune und Hindernisse zu klettern,
die Israel aufbaut um die Bewegung zwischen
den Dörfern und Städten zu verhindern.
Jetzt baut
Sharon einen Zaun – oder nein, eine Mauer –
zwischen Israel und Palästina. Dieser Zaun
ist keine Grenze; er verläuft nicht entlang
der Grenzen von 1967. Das ist eine Mauer die
eine Apartheid zwischen der jüdischen und
der palästinensischen Bevölkerung schaffen
soll, und welche die PalästinenserInnen von
den kleinen Stücken bebaubaren Landes in den
besetzten Gebieten trennen soll welche noch
nicht von den jüdischen SiedlerInnen
genommen worden sind, und um dieses Land in
den israelischen Staat zu integrieren.
Manchmal sieht
man lustige oder berührende Szenen. Mütter
die auf Betonmauern oder Zäune klettern.
Öfter hört man traurige Geschichten, wie
jene über die jungen israelischen Soldaten
welche eine palästinensische Frau welche im
Begriff war zu gebären nicht durchließen.
Das Kind starb.
Die
Unterdrückung und die Erniedrigung sind
schwere Bürden. Um zu einem Doktor in einem
Krankenhaus zu kommen muss ein Kind aus der
Nähe von Ramallah stundenlang mit seinem
Vater gehen, nur um auf eine Straßenblockade
zu stoßen. Die Kultur des Vaters hat ihm
gelehrt, dass er ein Patriarch sein sollte,
und es kränkt ihn tief vor den Augen seines
Sohnes die SoldatInnen anbetteln und
anflehen zu müssen, sie durchzulassen. Was
für ein Bild bekommen diese Kinder von ihren
Ältern?
Dann gibt es die
Ermordungen von Kindern. Kürzlich warf ein
zehnjähriges Kind einen Stein auf einen
Soldaten in der Nähe einer Straßenblockade
außerhalb Jerusalems und wurde erschossen.
Ein Ein-Tonnen Bombe die von einem
israelischen Flugzeug auf Gaza abgeworfen
worden ist, die dichtest besiedelste Stadt
in der Welt, tötete 16 Kinder. Mohammed
Dura, das Kind welches zu Beginn der
Intifada vor drei Jahren in den Armen seines
Vaters gestorben ist, ist mehr als ein
Symbol: er ist eine alltägliche Realität.
Ein Teil dieser
großen Tragödie stammt von der Ähnlichkeit
zwischen den PalästinenserInnen und den
Israelis. Ein europäischer Freund sagte mir
vor kurzem: „Ich verstehe das nicht; alle
sind sich so ähnlich. Wie erkennen die
SoldatInnen wer arabisch und wer jüdisch
ist?“ und ich sagte ihm was ich gehört habe:
„Die SoldatInnen starren in die Augen einer
Person, und wenn sie jüdische Augen hat,
sind sie sicher arabisch.“
An einem anderen
Tag sah ich an der Grenze zwischen Ost- und
Westjerusalem 150 ältere palästinensische
Männer in einem Park. Sie waren alle aus dem
Westjordanland und die Polizei ließ sie
nicht in die Stadt hinein – entweder hatten
sie keine Passierscheine oder die Polizei
weigerte sich die Scheine anzuerkennen die
sie hatten. Ich ging dort mit meinem
üblichen Optimismus hin, und dachte, dass
ich eine Frau bin, weiß bin, jüdisch bin,
eine Anwältin bin, ich alle Probleme lösen
kann, und ich versuchte mit den SoldatInnen
und mit der Polizei zu reden. Die Männer
standen einfach stumm da. Ihnen war befohlen
worden die Akkus aus ihren Mobiltelephonen
zu nehmen und nicht zu sprechen. Ich fühlte
mich dumm. Sie hatten ihre Situation viel
besser verstanden als ich. Sie wußten, dass
sie einen hohen Preis zahlen würden, wenn
sie mir antworten würden; sie wußten
bereits, dass mein Einschreiten sinnlos war.
Die willkürlichen Befugnisse der SoldatInnen
und der Polizei sind viel größer als jedes
legale System das ich repräsentiere. Ich
dachte: was hätte Primo Levi empfunden wenn
er diesen Moment gesehen hätte, in dem
andere Menschen von JüdInnen unterdrückt
werden?
Die frühere
israelische Premierministern Golda Meir
sagte, dass sie Albträume hatte, weil die
PalästinenserInnen sich so schnell
vermehren: vor 20 Jahren verursachte diese
Bemerkung einen Skandal. Aber am 29. August
2003 beschloss die israelische Knesset
folgendes Gesetz: „Wenn es zu einer Heirat
zwischen einer israelischen und einer
palästinensischen Person aus den besetzten
Gebieten kommt, wird die [palästinensische]
Person nicht nach Israel kommen dürfen, und
jedes Kind einer solchen Ehe wird nicht im
israelischen Geburtenregister verzeichnet
werden, wenn es nicht innerhalb eines Jahres
nach seiner Geburt registriert wird.“ Wir
versuchen angestrengt diese Politik zu
bekämpfen, welche ich nur rassistisch nennen
kann.
Die
palästinensischen Kinder, bilden als
Ergebnis dieses Krieges ein Potential an
Selbstmordattentätern. Ich vertrete jene
welche nicht sterben konnten und ich weiß
von jenen die starben, also spreche ich aus
Erfahrung. Sie sterben nicht für die 70
Jungfrauen die ihnen versprochen werden wenn
sie Shahids (Märtyrer) werden und sie werden
nicht gezwungen oder einer Gehirnwäsche
unterzogen. Diese Jungen Menschen kommen von
allen teilen der Bevölkerung, und sterben
aus Verzweiflung freiwillig. Sie fühlen,
dass sie wenig zu verlieren und nur Ruhm zu
gewinnen haben. Es ist furchtbar, wenn eine
Gesellschaft Kinder dazu bringt sich
umzubringen; es ist furchtbar, wenn unsere
jüdische israelische Gesellschaft Siedler
produziert die ein Auto vollgepackt mit
starken Sprengstoffen vor einer
palästinensischen Mädchenschule in Jerusalem
stehen lassen, wie jetzt enthüllt worden
ist. Die Polizei fand es nur zufällig. Die
Ermordung von Kindern ist zu einer
Besessenheit geworden. Seit der letzten
Intifada bis heute sind 700 palästinensische
und 100 jüdische Kinder unter 16 Jahren
gestorben. In den letzten drei Jahren sind
382 palästinensische Kinder von der Armee
oder von SiederInnen umgebracht worden, und
auch 79 israelische Kinder starben. Es ist
ein Albtraum ein israelisches Kind zu sein –
sich davor zu fürchten zum Bus zu gehen, zum
Markt, in das Geschäft. An jedem Tor stehen
Wachen die deine Taschen öffnen und dich
durchsuchen.
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